Vom Krieg zum Frieden? Interimsverwaltung für Afghanistan
Was das Afghanistan-Abkommen vorsieht - Dokumentation
Im Folgenden dokumentieren wir wesentliche Auszüge aus dem Afghanistan-Abkommen, das am 5. Dezember 2001 von den Delegierten der Konferenz auf dem Petersberg unterzeichnet wurde. Der Text folgt einer inoffiziellen Übersetzung der Nachrichtenagentur AP und wurde von der Frankfurter Rundschau am 6. Dezember 2001 dokumentiert.
Vereinbarung über provisorische Vorkehrungen in Afghanistan bis zur
Wiedererrichtung dauerhafter Regierungsinstitutionen -
In Anwesenheit des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für Afghanistan,
entschlossen, den tragischen Konflikt in Afghanistan zu beenden und nationale
Versöhnung, dauerhaften Frieden, Stabilität und die Einhaltung der
Menschenrechte im Land zu fördern,
- in Bekräftigung der Unabhängigkeit, der nationalen Souveränität und der
territorialen Unversehrtheit Afghanistans,
- in Anerkennung des Rechts des afghanischen Volkes, seine eigene politische
Zukunft in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Islams, der Demokratie, des
Pluralismus und der sozialen Gerechtigkeit frei zu bestimmen,
- in Wertschätzung der afghanischen Mudschaheddin, die über die Jahre hinweg
die Unabhängigkeit, territoriale Unversehrtheit und nationale Einheit des Landes
verteidigt haben und eine bedeutende Rolle im Kampf gegen Terrorismus und
Unterdrückung gespielt haben, und deren Opfer sie nun sowohl zu Helden des
Heiligen Krieges als auch zu Meistern des Friedens, der Stabilität und des
Wiederaufbaus unseres geliebten Heimatlands Afghanistan gemacht hat,
- im Bewusstsein, dass die instabile Lage in Afghanistan die Umsetzung von
dringenden Übergangsvorkehrungen erfordert, und in tiefer Wertschätzung
gegenüber seiner Exzellenz Professor Burhanuddin Rabbani für seine Bereitschaft,
die Macht an eine Interimsverwaltung zu übertragen, die entsprechend dieser
Vereinbarung errichtet werden soll,
- in Anerkennung der Notwendigkeit, für alle Gliederungen der afghanischen
Bevölkerung eine breite Vertretung in diesen Übergangsvorkehrungen
sicherzustellen - dazu gehören auch Gruppen, die bei den UN-Gesprächen über
Afghanistan nicht angemessen vertreten waren -, mit dem Hinweis, dass diese
Übergangsvorkehrungen als ein erster Schritt zur Errichtung einer breiten, auf
Gleichberechtigung der Geschlechter bedachten, multi-ethnischen und vollständig
repräsentativen Regierung gedacht sind und nicht über den festgelegten Zeitraum
hinaus bestehen bleiben sollen,
- in Anerkennung der Tatsache, dass einige Zeit erforderlich ist, bis neue
afghanische Sicherheitskräfte in vollem Umfang eingerichtet und einsatzbereit sind
und dass deswegen andere Sicherheitsvorkehrungen in der Zwischenzeit
umgesetzt werden müssen, wie sie in Anhang I dieser Vereinbarung ausgeführt
werden, angesichts der Tatsache, dass die Vereinten Nationen als die international
anerkannte unparteiische Institution im Zeitraum vor der Einrichtung dauerhafter
Institutionen in Afghanistan eine besonders wichtige Rolle zu spielen haben, wie
sie in Anhang II dieser Vereinbarung ausgeführt wird,
haben die Teilnehmer der UN-Gespräche über Afghanistan Folgendes beschlossen:
I. Allgemeine Bestimmungen
1) Mit der offiziellen Übertragung der Macht am 22. Dezember soll eine
Interimsverwaltung eingerichtet werden.
2) Die Interimsverwaltung soll bestehen aus einer Interimsregierung unter dem
Vorsitz eines Vorsitzenden, einer Unabhängigen Sonderkommission für die
Zusammenkunft der Sonder-Loya-Jirga und einem Obersten Gericht Afghanistans
sowie anderen Gerichten, wie sie von der Interimsverwaltung eingerichtet werden
können. (. . .)
3) Mit der offiziellen Übertragung der Macht soll die Interimsverwaltung mit
sofortiger Wirkung die Trägerin der afghanischen Souveränität sein. Als solche soll
sie während des Interimszeitraums Afghanistan in seinen äußeren Beziehungen
vertreten und den Sitz Afghanistans bei den Vereinten Nationen einnehmen. (. . .)
4) Eine Sonder-Loya-Jirga soll innerhalb von sechs Monaten nach der Errichtung
der Interimsverwaltung einberufen werden. Die Sonder-Loya-Jirga wird eröffnet von
Seiner Majestät Mohammed Sahir, dem früheren König von Afghanistan. Die
Sonder-Loya-Jirga soll über eine Übergangsverwaltung entscheiden, einschließlich
einer breiten Übergangsregierung, damit diese Afghanistan so lange führt, wie eine
vollständige repräsentative Regierung in freien und fairen Wahlen gewählt werden
kann, die spätestens zwei Jahre nach dem Datum der Zusammenkunft der
Sonder-Loya-Jirga stattfinden müssen.
5) Die Interimsverwaltung soll zu bestehen aufhören, sobald die
Übergangsverwaltung von der Sonder-Loya-Jirga errichtet worden ist.
6) Eine Verfassungs-Loya-Jirga soll innerhalb von 18 Monaten nach der Errichtung
der Übergangsverwaltung einberufen werden, um eine neue Verfassung für
Afghanistan anzunehmen. Zur Unterstützung der Verfassungs-Loya-Jirga bei der
Vorbereitung der vorgeschlagenen Verfassung soll die Übergangsregierung
innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Einsetzung und mit Unterstützung der
Vereinten Nationen eine Verfassungskommission einrichten.
II. Rechtlicher Rahmen und Justizwesen
1) Bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung soll der folgende rechtliche
Rahmen auf einer Übergangsbasis gelten:
die Verfassung von 1964
a) soweit ihre Bestimmungen nicht denen in dieser Vereinbarung widersprechen
und
b) mit Ausnahme der Bestimmungen zur Monarchie und zu den von der Verfassung
vorgesehenen exekutiven und legislativen Körperschaften sowie bestehende
Gesetze und Regelungen, soweit sie nicht dieser Vereinbarung widersprechen. (. .
.)
2) Die rechtliche Gewalt Afghanistans soll unabhängig sein und von einem
Obersten Gericht Afghanistans sowie anderen Gerichten verkörpert sein, wie sie
von der Interimsregierung eingerichtet werden können. Die Interimsregierung soll
mit Unterstützung der Vereinten Nationen eine Rechtskommission einrichten, um
das innere Rechtswesen in Übereinstimmung mit islamischen Grundsätzen,
internationalen Standards, der Herrschaft des Rechts und den afghanischen
Rechtstraditionen wieder aufzubauen.
III. Interimsregierung
A) Zusammensetzung
1) Es soll eine Interimsregierung geben, die sich aus einem Vorsitzenden, fünf
stellvertretenden Vorsitzenden und 23 weiteren Mitgliedern zusammensetzt. (. . .)
B) Verfahren
(. . .)
2) Die Interimsregierung soll danach streben, ihre Entscheidungen einvernehmlich
zu treffen.
Wenn eine Abstimmung notwendig wird, sollen Entscheidungen von einer Mehrheit
der anwesenden und an der Abstimmung teilnehmenden Mitglieder getroffen
werden. (. . .), unter der Voraussetzung, dass mindestens 21 Mitglieder anwesend
sind.
Bei Stimmengleichheit soll der Vorsitzende die entscheidende Stimme abgeben.
C) Aufgaben
(. . .)
4) Mit der offiziellen Übertragung der Macht soll die Interimsregierung die volle
Zuständigkeit für den Druck und die Ausgabe der nationalen Währung und für
Sonderziehungsrechte von internationalen Finanzinstitutionen haben.
Die Interimsregierung soll mit Unterstützung der Vereinten Nationen eine
Zentralbank von Afghanistan einrichten, die die Geldversorgung des Landes mit
transparenten und nachvollziehbaren Verfahren regelt. (. . .)
6) Die Interimsregierung soll mit Unterstützung der Vereinten Nationen eine
unabhängige Menschenrechtskommission einrichten, deren Verantwortung die
Beobachtung der Menschenrechtslage, die Untersuchung von
Menschenrechtsverletzungen und die Entwicklung von inneren
Menschenrechtsinstitutionen einschließt.
7) Die Mitglieder der Interimsregierung sollen an einen Verhaltenskodex gebunden
sein, der gemäß internationalen Standards erarbeitet wird.
8) Verstößt ein Mitglied der Interimsregierung gegen Bestimmungen des
Verhaltenskodexes, soll dies zur Aussetzung der Mitgliedschaft in dieser
Körperschaft führen.
Die Entscheidung, die Mitgliedschaft auszusetzen, soll auf Vorschlag des
Vorsitzenden oder eines der stellvertretenden Vorsitzenden von einer
Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Interimsregierung getroffen werden. (. . .)
IV. Die Unabhängige Sonderkommission für die Einberufung der
Sonder-Loya-Jirga
1) Eine Unabhängige Sonderkommission für die Einberufung der Sonder-Loya-Jirga
soll innerhalb eines Monats nach Errichtung der Interimsverwaltung eingesetzt
werden. Die Unabhängige Sonderkommission wird aus 21 Mitgliedern bestehen.
Eine Anzahl von diesen sollte Erfahrungen in Verfassungs- oder Gewohnheitsrecht
haben. (. . .)
5) Die Sonder-Loya-Jirga wird ein Staatsoberhaupt für die Übergangsverwaltung
wählen und wird Vorschläge für die Struktur und die wichtigsten Personen der
Übergangsregierung billigen.
V. Schlussbestimmungen
1) Mit der offiziellen Übertragung der Macht sollen alle Mudschaheddin,
afghanischen Streitkräfte und bewaffneten Gruppen im Land unter das Kommando
und die Kontrolle der Interimsregierung fallen und entsprechend den Erfordernissen
der neuen afghanischen Sicherheits- und Streitkräfte neu organisiert werden.
2) Die Interimsverwaltung und die Sonder-Loya-Jirga sollen in Übereinstimmung mit
Grundprinzipien und Bestimmungen handeln, wie sie in internationalen
Abmachungen über Menschenrechte und internationale humanitäre Rechte
enthalten sind. (. . .)
3) Die Interimsverwaltung soll mit der internationalen Gemeinschaft im Kampf
gegen Terrorismus, Drogen und organisiertes Verbrechen zusammenarbeiten. Sie
soll sich verpflichten, das Völkerrecht zu respektieren, sowie friedliche und
freundschaftliche Beziehungen zu Nachbarstaaten und der übrigen internationalen
Gemeinschaft unterhalten.
4) Die Interimsverwaltung und die Unabhängige Sonderkommission für die
Einberufung der Sonder-Loya-Jirga wird sowohl die Beteiligung von Frauen
sicherstellen als auch die gleichmäßige Vertretung aller ethnischen und religiösen
Gemeinschaften in der Interimsregierung und der Sonder-Loya-Jirga.
5) Die Interimsverwaltung soll Personen keine Amnestie gewähren, die ernste
Verletzungen des internationalen humanitären Rechts oder Verbrechen gegen die
Menschlichkeit begangen haben. (. . .)
Dokumentiert nach: Frankfurter Rundschau, 6. Dezember 2001
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