Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nach dem Krieg: Das Elend der Vertriebenen

Äthiopier zwischen Massenausweisung und "Repatriierung"

Äthiopien und Eritrea sind nach der Beendigung der Kampfhandlungen und nach dem Waffenstillstand vom 18. Juni 2000 wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Der Krieg, einer der schwersten Kriege der letzten Jahre, hat aber tiefe Spuren hinterlassen und neue Wunden aufgerissen, die in dieser armen Region lange nicht verheilen werden. Verschlimmert hat sich vor allem die Situation für die Äthipier, die (noch) in Eritrea leben und die in den letzten Wochen nach Äthiopien abgeschoben wurden. Der nachfolgende Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung beschreibt das Schicksal der betroffenen Menschen und die fehlenden Perspektiven für die Region.

Das Machtpoker um die Repatriierung von Äthiopiern

Die äthiopisch-eritreischen Kampfhandlungen im Mai und Juni haben starke Fluchtbewegungen im Innern Eritreas ausgelöst. Eritrea kann aus eigenen Kräften mit dem Vertriebenenproblem nicht fertig werden; es braucht ausländische Hilfe. In Eritrea lebende Äthiopier sind massenweise abgeschoben worden.

Sraj Suleman Srajs Laden ist der beste weit und breit. Während andere nur Zelte haben oder ihre Waren gar im Freien anbieten müssen, verkauft Sraj aus einer festgefügten, stabilen Holzhütte heraus. Die Regale an den Wänden sind vollgestopft mit Haushaltwaren aller Art, mit Töpfen, Pfannen, Eimern. Sraj hat in sein kleines Reich der Alltäglichkeiten eine perfekte Ordnung gebracht, und sogar eine Sitzgelegenheit steht den Kunden zur Verfügung. Der Händler hatte Glück im Unglück: Nachdem er von Tsorona an der Grenze zu Äthiopien Hals über Kopf hatte fliehen müssen, sind seine Brüder in Asmara eingesprungen und haben ihm geholfen, im Vertriebenenlager einen Laden einzurichten. Viel Kundschaft hat Sraj hier zwar nicht, aber die Einnahmen reichen aus, um all das zu beschaffen, was der Staat oder die Hilfsorganisationen nicht zur Verfügung stellen können, Tee zum Beispiel oder Kaffee.

Ein ganzer Bezirk auf den Beinen

Sraj Suleman Srajs Laden steht in Alba, einem der zahlreichen Vertriebenenlager in Debub, der Bergregion südlich von Asmara. Auf einer Grundfläche von vielleicht sechs oder sieben Quadratkilometern reiht sich Zelt an Zelt. Alba beherbergt die Vertriebenen aus dem Bezirk Tsorona, über 28 000 Personen, wenn man die Leute dazuzählt, die in der näheren Umgebung, etwas ausserhalb der Zeltstadt, notdürftig Unterschlupf gefunden haben. Kaum einer konnte seine Habe hieher retten; mit wenig mehr als den Kleidern auf dem Leib hatten die meisten Tsorona fluchtartig verlassen müssen, als die Äthiopier im Mai ihren Vorstoss lancierten. Viele Bewohner der Zeltstadt waren zuvor schon vertrieben worden; für sie ist Alba bereits der zweite Zufluchtsort. Die Flucht aus den besetzten Gebieten im Süden dauere an, führt Gebrekidan Debas aus, der frühere Verantwortliche für Entwicklungsprojekte im Bezirk Tsorona und jetzige Koordinator der Hilfsanstrengungen im Lager Alba. Aber es seien nur etwa 300 Eritreer zurückgeblieben. Ihnen machten die Äthiopier das Leben schwer. Vieh und Haushaltgegenstände seien gestohlen worden, und jetzt rissen die Äthiopier sogar das Wellblech von den Hausdächern in Tsorona.

Am meisten Sorgen bereiten Gebrekidan und den Lagerinsassen Transportprobleme. Alba liegt am Ende einer bei Mai Seraw von der geteerten Hauptstrasse abzweigenden, mehr als zehn Kilometer langen, an steilen Berghängen entlang sich windenden Schotterpiste, die nur geländegängige Fahrzeuge sicher zu meistern vermögen. Hilfe, sagt Gebrekidan, komme oft nicht zur rechten Zeit. Im Augenblick fehle es an Zelten, und deshalb müssten so viele aus dem Bezirk Tsorona Vertriebene ausserhalb der Zeltstadt eine Unterkunft suchen. Die Eritrean Relief and Refugee Commission (Errec), die staatliche Hilfsorganisation, stellt jedem Vertriebenen fünfzehn Kilo Weizenmehl pro Monat zur Verfügung, und ganz am Anfang, als das Lager auf die Beine gestellt wurde, gab's auch ein wenig Zucker. Aber für zusätzliche Lebensmittel wie für Tee und Kaffee fehlen die Mittel; das müssen sich die Vertriebenen selber beschaffen. Einige sind, wie Sraj Suleman Sraj, im Handel beschäftigt, andere helfen den Bauern der Umgebung. Aber die Beschäftigungslage ist prekär. Die Vertriebenen leiden, wie Gebrekidan ausführt, darunter, dass sie nicht arbeiten können. Geplant sei der Bau von Terrassenfeldern in der Umgebung des Zeltlagers, aber die dazu notwendigen finanziellen Mittel seien noch nicht bewilligt. Kaum weniger Sorgen bereitet dem Koordinator der Hilfsanstrengungen die schulische Situation der Kinder. Zusammen mit den Eltern und den Kindern sind zwar auch die Lehrer geflohen, aber es fehlt in Alba an Räumlichkeiten für den Unterricht. Ähnlich prekär ist die Gesundheitsversorgung. Es gibt keinen einzigen Arzt im Lager, nur einen Krankenpfleger, und Notfallpatienten können nicht ins Spital eingewiesen werden, weil Transportmittel fehlen.

Über die eigenen Kräfte hinaus

Zurzeit leben in 22 eritreischen Lagern insgesamt 210 000 Personen. Das ist nur ein Teil aller intern Vertriebenen; viele haben bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf gefunden. Andere wiederum sind in die inzwischen von den Äthiopiern geräumten Dörfer, vor allem in der Region Gash-Barka, zurückkehrt, aber sie bleiben auf Hilfeleistungen der Errec angewiesen. Ato Mehretab, der für Rehabilitation zuständige Direktor der Errec, gibt die Gesamtzahl der intern Verriebenen mit 1,1 Millionen an - fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Das Ausmass der Kalamität übersteigt bei weitem die Kräfte Eritreas. Die Regierung sieht sich dazu gezwungen, ihre einst ganz auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ausgerichtete Entwicklungsdoktrin zu revidieren und Hilfe aus der ganzen Welt anzunehmen. In Asmaras Hotels geben sich zurzeit Entwicklungsexperten und Vertreter von Hilfsorganisationen die Klinke in die Hand; über dreissig Hilfswerke sind in Eritrea aktiv.

Der ungünstige Verlauf der kriegerischen Konfrontation mit Äthiopien und die Aussicht auf vermehrte internationale Unterstützung haben Asmara Ende Juli auch dazu bewogen, die vier Genfer Konventionen von 1949 zu unterzeichnen. Dies wiederum erlaubte es der schnell wachsenden Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Asmara, ihr Mandat wahrzunehmen und Besuche von Personen, die den Schutz der Genfer Konventionen geniessen, aufzunehmen. Unter anderem besuchten Delegierte zwei eritreische Lager, in denen äthiopische Zivilisten interniert sind.

Beteuerungen und Propaganda

Die eritreische Regierung beansprucht in ihren propagandistischen Verlautbarungen für sich, sie habe die in Eritrea lebenden Äthiopier human behandelt - humaner, als der Kriegsgegner mit den auf seinem Staatsgebiet lebenden Eritreern umgesprungen sei. Eritrea, heisst es in einem Schreiben des Aussenministeriums vom August, habe sich die gefährliche und üble Politik der ethnischen Säuberung (gemeint ist die massenhafte Ausweisung von Bürgern des Nachbarstaats) nicht zu eigen gemacht. Im Juni 1998 hatte die eritreische Nationalversammlung in einer Resolution ausdrücklich festgehalten, das Recht der in Eritrea wohnenden Äthiopier, hier zu leben und zu arbeiten, werde garantiert. Die eritreische Politik (des schonenden Umgangs mit den in Eritrea wohnhaften Äthiopiern) sei auf eine Zukunft jenseits des Konflikts ausgerichtet und werde sich nicht ändern, selbst wenn sich die Krise verschärfe. Als ob es seine eigenen Beteuerungen als propagandistische Hohlheit entlarven wollte, hat Asmara nach der verlorenen jüngsten Kriegsrunde doch mit Massenausweisungen von Äthiopiern begonnen. Einmal traut es den in Eritrea lebenden Äthiopiern - vor Beginn der Ausweisungen waren es rund 100 000 - nicht mehr über den Weg; sie gelten als Sicherheitsrisiko. Zum andern ist es nach dem tiefen Vorstoss der äthiopischen Armee vom Mai zu Ausschreitungen gegen die in Eritrea lebenden Äthiopier gekommen. Deren Sicherheit kann von der Regierung anscheinend nicht mehr gewährleistet werden. Natürlich spricht in Eritrea niemand von Massenausweisungen; stattdessen ist von freiwilligen Repatriierungen die Rede. Unter den Heimkehrern befinde sich, heisst es, auch eine «kleine Zahl» von Personen ohne gültige Niederlassungs- und Arbeitsbewilligungen.

Mit der Freiwilligkeit der Äthiopier, nach Hause zurückzukehren, ist es freilich nicht weit her. Da sie ihres Lebens in Eritrea nicht mehr sicher sein können, erscheint ihnen die Heimkehr als die sicherere Option. Zum andern dürften die meisten in Eritrea wohnenden Äthiopier keine gültige Arbeits- und Niederlassungsbewilligung haben. Derartige Papiere waren bis zum Ausbruch des Krieges gar nicht nötig; auf Grund von Abmachungen zwischen Asmara und Addis Abeba war es den Bürgern freigestellt, sich im jeweils andern Land niederzulassen und dort zu arbeiten. Eine Niederlassungs- oder Arbeitsbewilligung war dazu gar nicht notwendig.

Unter menschenunwürdigen Bedingungen

Die eritreische Propagandamaschinerie beteuert, die Repatriierung von Äthiopiern werde in Zusammenarbeit mit dem IKRK durchgeführt. Aber bei der Hälfte der bisher erfolgten 20 000 Ausweisungen war dies nicht der Fall; die Repatriierung erfolgte zum Teil unter haarsträubenden Bedingungen, wie der stellvertretende Leiter der IKRK-Delegation in Addis Abeba gegenüber der BBC ausgeführt hat. Die Ausgewiesenen, unter ihnen ältere Leute, Kinder, Schwangere und Kranke, seien gezwungen worden, bis zu achtzehn Stunden zu marschieren, nachdem sie in der Nähe der Grenze abgesetzt worden seien. Ganz unschuldig an dieser fatalen Entwicklung ist allerdings die Gegenseite nicht. Nachdem Addis Abeba anfänglich die Repatriierung von Adi- Quala aus südwärts zum äthiopischen Dorf Rama akzeptiert hatte, lehnte es diese Route später mit dem Argument ab, sie sei zu unsicher. In Tat und Wahrheit überforderten die plötzliche Rückkehr von Tausenden von Äthiopiern aus Eritrea und deren Integration die äthiopischen Behörden - ganz abgesehen davon, dass die ganze Heimkehrer-Last nicht so recht zur These passt, man habe einen glänzenden Sieg über den eritreischen Feind errungen. So benützte Addis Abeba einen Streit um die richtige und sichere Route als Vorwand, um die Zusammenarbeit mit der Gegenseite bei der Heimführung von Äthiopiern aus Eritrea einzustellen. Dies aber hielt die Eritreer keineswegs davon ab, Äthiopier weiterhin über die Grenze zu schicken, zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne Begleitschutz des IKRK. Addis Abeba drohte daraufhin indirekt mit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen. Eritrea scheint den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden zu haben: Seit einigen Wochen sind keine Zwangsrepatriierungen mehr gemeldet worden.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 19.09.2000

Zurück zur Äthiopien-Eritrea-Seite

Zurück zur Seite "Regionen"

Zurück zur Homepage