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Äthiopien – Diaspora am Horn von Afrika?

Von Patrick Desplat

Äthiopien als christliches Eiland inmitten eines Meers des Unglaubens? Mitnichten! Äthiopien wird im afrikanischen Kontext seit jeher ein besonderer Status eingeräumt, der im historischen Erbe und der damit verknüpften Wahrnehmung „Abessiniens“ begründet liegt. Abessinien, so die gebräuchliche Bezeichnung für Äthiopien bis in die 1930iger Jahre, steht für den Hort einer jahrhundertealten, orthodox-christlichen Tradition und für ein im Hochgebirge des nordöstlichen Afrikas isoliert und zurückgezogenes ebenso altes kaiserliches Reich. Mit dem Sieg über die Italiener 1896 in Adwa konnte sich das Reich zudem den europäischen Kolonialbestrebungen entziehen und blieb bis auf eine kurze italienische Besatzungszeit (1936-1941) unabhängig.

In Anlehnung an die Metapher des „christlichen Eilands“ wird der Islam in Äthiopien als etwas Nichtäthiopisches, Fremdes oder gar Bedrohliches empfunden. Diese Assoziationen widersprechen der Tatsache, daß Muslime gegenwärtig ca. 45 % der äthiopischen Bevölkerung stellen und entsprechend von erheblicher Relevanz für die gesellschaftliche Entwicklung sind. Das Christentum und der Islam Äthiopiens können und sollen dementsprechend nicht als voneinander isolierte Phänomene betrachtet werden. Wie im folgenden noch zu sehen sein wird, sind die christlich-muslimischen Beziehungen weniger geprägt durch religiöse Spannungen als vielmehr durch politische Probleme und Interessen, in denen Religion auch instrumentalisiert wird. Die nähere Betrachtung des historischen Ursprungs des Mythos „christliches Eiland“, der auf einen Brief des äthiopischen Kaisers Menelik II an die europäischen Mächte im April 1891 zurückgeht, verdeutlicht das. Es zeigen sich darin die politischen Motive hinsichtlich Hilfe und Unterstützung auf der Basis einer gemeinsamen christlichen Religion. Darüber hinaus verdeutlicht der Historiker Rubenson [1], daß viele Briefe desselben Tenors schlichtweg eine Erfindung von in Äthiopien ansässigen Europäern waren, die ihrerseits ähnliche Interessen verfolgten. Diese Briefe spiegelten keinen allgemeinen Konsens der äthiopischen Regierung wider, wie er an anderer Stelle ausarbeitet, sondern sie produzierten mit dem „christlichen Eiland“ eine für den europäischen Markt entworfene Tradition. Diese Schöpfung beeinflußte maßgeblich die Wahrnehmung Äthiopiens als isoliert, umringt und bedroht durch Kräfte, die antagonistisch zur christlichen Tradition stehen. Sie führte darüber hinaus zu der weitverbreiteten Annahme, der Islam und das Christentum befänden sich in einem immerwährenden Konflikt.

Äthiopien zur Zeit des Propheten

Das zentrale historische Ereignis der interreligiösen Beziehung ist die erste hijra im Jahr 615, d.h. die Entsendung einer kleinen Gruppe von Muslimen sechs Jahre vor dem eigentlichen Beginn der islamischen Zeitrechnung. Demnach schickte der Prophet einige Muslime an den äthiopischen Hof von Axum des damaligen Herrschers Ashama, um sie vor den Übergriffen der ungläubigen Quraisch aus Mekka zu schützen. Ein zweite Gruppe, darunter auch der spätere Kalif Uthman bin Affan, erreichte ein Jahr später ebenfalls Axum. Nach der sicheren Rückkehr der Flüchtlinge nach bis zu 15 Jahren Exil erhielt der äthiopische Herrscher nach Auffassung islamischer Historiker im Jahr 627/628 einen Brief des Propheten, durch den er Ashama für den Islam interessieren wollte. Ob der christliche Herrscher tatsächlich zum Islam konvertierte, wird kontrovers diskutiert. Tatsache ist allein, daß der Islam in Äthiopien bis zur Etablierung des Sultanats von Shäwa 896/897 kaum Spuren hinterlassen hat. Ursache dafür mag sein, daß Mohammed angeordnet haben soll: „Laßt die Abessinier in Ruhe, so lange sie uns in Ruhe lassen, d.h. Äthiopien wurde als neutrales Gebiet kategorisiert, das von muslimischen Eroberungszügen auszunehmen sei. Nach Ansicht des Historikers Haggai Erlich [2] ist dieser Status der Grund für die eher zaghaften Islamisierungsprozesse Äthiopiens, die wie in den meisten Regionen Afrikas durch Handel erfolgten.

Die Entwicklung im allgemeinen und die regionalen Besonderheiten

Das Ereignis der ersten hijra beflügelte die Meinung, Äthiopien sei ein Land religiöser Rechtschaffenheit, in der Beziehungen zwischen Christen und Muslimen vorbildlich gepflegt würden. Diese Perspektive der religiösen Koexistenz wird auch in einer Reihe ethnologischer Studien angedeutet. Demnach besteht auf „Graswurzelebene“ in vielen Regionen eine enge Verbindung zwischen den beiden Religionsgemeinschaften, die zu Formen interreligiöser Partizipation und religiöser Mobilität führen kann. So beschreibt der Anthropologe Jon Abbink [3] seine Beobachtungen zur Religiosität im nördlichen Teil Äthiopiens als Prozeß der Oszillation, in der Individuen mehrmals im Leben von ihrer Religion qua Geburt zum Christentum bzw. Islam konvertieren können. Dabei spielen auch soziale Faktoren wie Heirat, Handelsbeziehungen, Migration oder ethnische bzw. politische Zugehörigkeit eine wichtige Rolle. Diese Aussagen können allerdings nicht für Gesamtäthiopien verallgemeinert werden, sondern sie sind als regionale Besonderheiten zu verstehen und müssen unter einem historischen Blickwinkel betrachtet werden. Im mehrheitlich muslimischen Harar z.B. ist festzustellen, daß zwar viele Christen zur Fürbitte zu den islamischen Schreinen der lokalen Heiligen pilgern, im Umkehrschluß allerdings kein Harariner Muslim jemals eine christliche Heiligenstätte besuchen würde.

Eine andere Perspektive skizziert dagegen ein konfliktreicheres Bild von Äthiopien, das durchaus im Zusammenhang mit der bereits angesprochenen Metapher des „christlichen Eilands“ steht. In den von Christen dominierten Hochlandregionen konnten sich bereits im 9.Jhd. kleinere muslimische Händlerenklaven etablieren, da die christliche, in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung den Berufsstand des Händlers gering schätzten. Das amharische Wort für Händler, nəggade, wurde z.B. als Schimpfwort und Synonym für Muslime benutzt. In den östlichen, nicht-christlichen Regionen bewirkten Händler die Islamisierung eines Großteils der Bevölkerung. So entstanden zwischen dem 10.-15.Jhd. verschiedene islamische Herrschaftsgebiete (z.B. Yifat, Adal, Hadiyya, Bale), die untereinander und mit dem christlichen Reich im Wettstreit um den Zugang zu den lukrativen Handelsrouten zum Roten Meer standen. Erst im 16.Jhd. konnte ein junger Gelehrter namens Imam Ahmed al-Ghazi aus Harar die islamischen Herrschaftsgebiete vereinen, um schließlich den Jihad gegen das christliche Reich auszurufen. In den folgenden, 14 Jahre andauernden Kämpfen wurde die Hochlandregion von den Muslimen fast komplett erobert. Während die Muslime durch das Osmanische Reich mit Waffen ausgestattet wurden, standen den Christen portugiesische Truppen bei, die auch die entscheidende Wende einleiteten. Die gegenseitige Schwächung der beiden Parteien wurde Ende des 16.Jhd. von den südlichen Oromo genutzt, die in die fruchtbaren Gebiete des Nordens eindringen konnten und einen Keil zwischen Christen und Muslime trieben.

Marginalisierung der Muslime

Dieser Jihad führte auf christlicher Seite zu einer unterschwelligen Furcht bzw. Ablehnung des Islams, der von da an als etwas Fremdländisches etikettiert wurde, da zum ersten Mal nicht nur das Osmanische Reich direkt in die Konflikte eingriff, sondern auch zahlreiche Religionsgelehrte insbesondere aus den heutigen Gebieten des Jemens die Kämpfe aktiv unterstützten.[4] Der Jihad wurde nunmehr zu einem Symbol, und der resultierende Argwohn, der zuvor in geringerem Maß vorhanden war, führte zu einer zunehmenden Marginalisierung von Muslimen. Insbesondere mit der erneuten Konsolidierung des christlichen Reiches unter Tewodros Mitte des 19.Jhd. wurde das orthodoxe Christentum zum Ausdruck der nationalen Existenz Äthiopiens, gefestigt durch den legendäre Nationalepos Kebre Negas, eine Erzählung, die den Ursprung des äthiopischen Volkes auf die Verbindung zwischen König Salomon und der Königin von Saba zurückführt. Militärische Eroberungen führten zu einer Eingliederung von weiten Gebieten im Süden und im Osten, und 1887 fiel auch die Stadt Harar, das letzte Symbol muslimischer Unabhängigkeit. Die Politik der Marginalisierung zeigte sich fortan in Zwangskonversionen oder der rhetorischen Ausgrenzung von Muslimen, die von staatlicher Seite als „Muslime wohnhaft in Äthiopien“, statt „äthiopische Muslime“ bezeichnet wurden – diese Terminologie wurde erst in den 1970iger Jahren unter dem sozialistischen Regime aufgehoben. Verschiedene Restriktionen wie der Ausschluß von Muslimen aus wichtigen Positionen in Politik und Militär konnten durchgesetzt werden. Weiterhin erfaßte insbesondere in den 1940iger Jahren eine Amharisierungskampagne das Bildungssystem. Diese Maßnahme propagierte das Verbot lokaler Sprachen wie auch des Arabischen unter dem Deckmantel der moralischen Erziehung zu orthodox-christlichen Werte.

Staat und Religion unter dem Militärregime

Eine halbherzige Neuorientierung erfolgte mit dem Machtwechsel vom Kaiserreich zu einem sozialistischen Militärregime (1974-1991). Drei islamische Feiertage wurden fortan zu nationalen Feiertagen erklärt, und es gab zumindest während der Anfangszeit Versuche zur Schaffung von Gleichberechtigung für Muslime. Nach politischen Kämpfen und der Etablierung des Dergue-Komitees intervenierte der Staat verstärkt in religiöse Angelegenheiten. So büßte die orthodoxe Kirche ihre Stellung als Staatsreligion ein. Ebenso wie die islamischen frommen Stiftungen verlor auch die Kirche Land- und Grundbesitz mit dem Inkrafttreten einer sozialistischen Landreform. Darüber hinaus wurden Einschränkungen bei Auslandsreisen oder der Pilgerfahrt nach Mekka erzwungen und gleichzeitig die Einreise von Ausländern, darunter auch Religionsgelehrte, erschwert. Während der Herrschaft des Militärregimes stellte sich die Säkularisierung breiter Schichten ein, denn insbesondere die jüngere Generation beschäftigte sich mit sozialistischen Ideen und wurde politisch aktiv, sei es in der Einheitspartei der Regierung oder in der späteren Opposition, deren anschließender Bürgerkrieg in den „weißen“ bzw. „roten Terror“ mündete. Dieser Wandel zeigt sich heute z.B. in Harar durch eine Generationslücke im religiösen Gelehrtentum, denn im Alter zwischen 30 und 50 finden sich nur wenige, die aufgrund einer fundierten religiösen Ausbildung ausgewiese Respektspersonen sind.

Der „wahre“ christliche und der „wahre“ muslimische Glauben

Mit dem Zusammenbruch des Regimes 1991 übernahm die Ethiopian Peoples Revolutionary Democratic Front (EPRDF) die Regierung und setzte demokratische Strukturen ein, die zu einer Verbreiterung der politischen Landschaft partizipierender Parteien und zu einer allgemeinen Liberalisierung führten. Auch religionspolitisch kam es zu einer Zäsur, da religiöse Freiheit konstitutionell verankert und ehemalige Restriktionen wie Reisebeschränkung sowie Zensur und Bann religiöser Literatur aufgehoben wurden. Gleichzeitig ließ die neugewonnene Pressefreiheit zahlreiche Magazine und Zeitungen mit islamischem Inhalt entstehen. Darüber hinaus führte die Fragmentierung der politischen Arenen auch zu einer Fragmentierung der religiösen Sphäre, d.h. ehemals verfolgte oder staatlich verdrängte Strömungen wie islamische Erneuerungsbewegungen oder pfingstkirchliche Gruppen gewannen in Äthiopien regen Zulauf. Damit etablierte sich ein neuer Schauplatz für religiöse Auseinandersetzungen um den „wahren“ Glauben. Die Akteure setzen sich überwiegend aus jungen Personen zusammen, die über Stipendien oder auch Eigenkapital an ausländischen islamischen Bildungseinrichtungen studierten und in ihre Heimat zurückkehrten. Der dann propagierte „wahre“ Islam ist dabei nur eine mögliche Form der Deutung und damit ähnlich wie der Terminus Orthodoxie ein Begriff, der zur Delegitimierung von unerwünschten Praktiken benutzt wird. Es bleibt anzumerken, daß gerade im islamischen Kontext Auseinandersetzungen um die korrekte Glaubensvorstellung oder Praxis wenn nicht alltäglich, so doch unumgänglich sind, was im Anspruch einer möglichst originalgetreuen Vermittlung des religiösen Dogmas bei gleichzeitigem sozialen Wandel begründet liegt. So sind z.B. an der kenianischen Swahili-Küste historische Erneuerungsstömungen deckungsgleich mit historischen Migrationswellen aus dem jemenitischen Hadramaut. Diese Wellen der Reform lassen sich dagegen für Äthiopien bis heute nicht in dieser Deutlichkeit belegen. Vielmehr zeigen jene Reformer erst ab 1991 eine verstärkte Präsenz, wenngleich sie gerade im Vergleich mit den unmittelbaren Nachbarn Sudan, Eritrea und auch Somalia zunächst in einer formativen Phase stecken und sich nur bedingt lokal durchsetzen können. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und lassen sich nicht nur auf die bereits angeführten wie staatliche Unterdrückung bzw. Wahrnehmung als „christliches Eiland“ oder Gebiet der Neutralität zurückführen.

Staatliche Rhetorik und Intervention gegen islamische Fundamentalisten

Parallel zu der Entfaltung neuer religiöser Gruppen in Äthiopien stand insbesondere seit Mitte der 1990iger Jahre plötzlich der „islamische Fundamentalismus“ im Fokus staatlicher Interessen. Eine schwarzmalerische Betrachtung, die im weiteren Geschichtsverlauf das gesamte Horn von Afrika, hier insbesondere Somalia, mit einschloß. Der äthiopische Premierminister Meles Zenawi kommentierte Anfang der 1990iger Jahre, daß die signifikanteste Langzeitbedrohung für die äthiopische Sicherheit vom islamischen Fundamentalismus ausgehe [5]. Damit spielte er insbesondere auf die beiden islamischen Regime des Sudans und Somalias an. Der Höhepunkt staatlicher Rhetorik und Intervention gegen islamistische Fundamentalisten wurde Mitte der 1990iger Jahre erreicht: Bei seinem Besuch in Addis Abeba wurde auf den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak im Sommer 1995 ein Attentat verübt, dem er unverletzt entkommen konnte. Dieser Anschlag wurde der al-Jamiya al-Islamiyya zugeschrieben, einer militanten Gruppe, die in den 1970igern in Ägypten gegründet wurde. Darüber hinaus wurde auch die sudanesische Regierung beschuldigt, da sich angeblich einige der flüchtigen Attentäter in den Sudan retten konnten. Ungefähr zeitgleich wurden in den Städten Harar und Dire Dawa ägyptische Religionslehrer aus dem Land ausgewiesen, nachdem sich diese als der Muslim-Bruderschaft (al-Ikhwan al-Muslimun) zugehörig bezeichnet hatten, einer Gruppe, die ebenfalls unter den Verdacht aufrührerischer Tendenzen fiel.

Unter besonderer Beobachtung stand in dieser Zeit auch die somalische Gruppe al-Iittihad al-Islamiyya, die sich seit dem Fall Said Barrés 1991 in verschiedenen Regionen des zerfallenden, staatenlosen Somalia etablieren konnte. Diese Gruppe bekannte sich zwischen 1993 und insbesondere 1996 zu verschiedenen Bombenattacken auf öffentliche Einrichtungen und Angriffe auf die südöstlich gelegene äthiopisch-somalische Grenzstadt Dolo. 1997 kam es wiederum zu Granatenangriffen, zu denen sich allerdings kein Urheber bekannte. Der Ethnologe Thomas Zitelmann [6] zeigt auf, wie auch hier zunächst die Organisation al-Iittihad al-Islamiyya von staatlicher Seite als verantwortlich ausgemacht wurde, schließlich aber auch zwei andere Gruppen, darunter auch die Oromo Liberation Front (OLF), eine Unabhängigkeitsbewegung, die1993 im politischen Streit aus der Regierung und dem Parlamentarischem Rat austrat. Damit, so Zitelmann, konnte die Regierung einerseits gleichzeitig in verschiedenen Oppositionslager zuschlagen und andererseits mit dem Argument, die islamischen „Fundamentalisten“ zu bekämpfen, um die Gunst von Geberländern buhlen. Es ist zu bemerken, daß bereits zu diesem Zeitpunkt die Zusammenarbeit mit „arabischen Extremisten“ und ihre Partizipation bei den gewalttätigen Aktionen hervorgehoben wurde und aus der Perspektive der USA Äthiopien als „christliches Eiland“ eine bedeutende strategische Position am Horn von Afrika einnahm.

11.9. – 9/11

In der Folge des 11.September änderte sich die Politik des äthiopischen Staates gegenüber den „Fundamentalisten“ nur geringfügig, dennoch rückte Äthiopien stärker in das allgemeine Interesse der Weltöffentlichkeit, besonders nachdem vermutet wurde, daß das Horn von Afrika ein mögliches Rückzugsgebiet für al-Qaida-Zellen und andere Terroristen sein könnte. So wurde z.B. unmittelbar nach den Anschlägen eine direkte Verbindung zwischen der somalischen Gruppe al-Ittihad und al-Qaida in verschiedenen Berichterstattungen „aufgedeckt“, darunter auch dem Ethiopian Herald und al-Hayat. Diese Argumentation diente auch als Begründung für mehrere Einsätze der äthiopischen Armee gegen die „multinationale, fundamentalistische“ Gruppe al-Ittihad und deren Ausbildungslager. Diese wurden allerdings laut anderen Quellen bereits Mitte der 1990iger aufgerieben, denn al-Ittihad, so die einvernehmliche Meinung, hat seine militärischen Aktionen seit 1998 weitgehend eingestellt.

Fallbeispiel Harar

Wie komplex das Feld der verschiedenen Revitalisierungsbewegungen in Äthiopien ist und wie verschlungen die Pfade zwischen Lokalität und Globalität, Aneignung und Ablehnung, Nachricht und Gerücht sind, soll am Fallbeispiel der Stadt Harar gezeigt werden. Harar wurde wohl im 13.Jhd. gegründet und beherbergt heute fast 100.000 Einwohner der verschiedensten Ethnien: neben den Gründern der Stadt, den Hararis, siedelten im Zuge zunehmender Urbanisierung auch Oromo, Amhara, Somalis oder Gurage an. Die Stadt gilt als einflußreichstes Zentrum des Islams am Horn von Afrika. Davon zeugen auch lokale Bezeichnungen wie Madinat al-awliya, die Stadt der Heiligen, oder das Etikett der viertwichtigsten Stadt des Islams. Während letzteres eher eine Wiederholung einer dürftigen lokalen Tradition durch den äthiopischen Tourismussektor ist, hat die Auszeichnung Madinat al-awliya durchaus seine Berechtigung, finden sich doch innerhalb der alten Stadtmauern Hunderte heiliger Stätten. Diese Orte, teils Schreine lokaler Heiliger, und die mit ihnen verbundenen religiösen Praktiken stehen im Zentrum gegenwärtiger Debatten zwischen den verschiedenen Anhängern islamischer Gruppen: die einen bezeichnen diese Praktiken als unislamische Neuerungen, während andere das Gegenteil behaupten. Dieser Konflikt und die allgegenwärtige Frage, was gegenwärtig unter dem Begriff „islamisch“ zu verstehen sei, läßt sich im Kontext von Harar auf die Auseinandersetzung zweier Religionsgelehrter zurückführen, die wohl auch die Bezeichnung transnationale Akteure verdienen. Beide sind auf ihre eigene Art Reformer: Hajj Yusuf Abdulrahman vertritt eher die wahhabitische Ideologie Saudi-Arabiens, während Sheikh Abdallah al-Harari einer von ihm initiierter Gegenbewegung namens Habashiyya angehört. Die ersten religiösen Spannungen kamen Ende der 1930iger Jahren auf. Hajj Yusuf, der zwischen 1928 und 1938 in Mekka und Medina ausgebildet worden war, traf dort mit einer Gruppe Hararis zusammen, die von den Italienern unterstützt die Pilgerreise nach Mekka antraten. Im Zusammentreffen mit Hajj Yusuf wurde die Gruppe durch die wahhabitische Ideologie beeinflußt, und gemeinsam reisten sie zurück nach Harar, wo sie sich 1941 in einer lokalen Bildungseinrichtung engagierten. Sie wurden angefeindet von Sheikh Abdallah, der sie als „Wahhabis“ denunzierte. Mit Hilfe der äthiopischen Regierung vermochte sich Sheikh Abdallah durchzusetzen, d.h. die Schule wurde geschlossen und einige Mitglieder der Gruppe inhaftiert. Zwischen 1946-1948 kam es zu einer erneuten Konfrontation. Als abermalig die Regierung intervenierte, wurde Sheikh Abdallah des Landes verwiesen. Er und seine Anhänger beschuldigten derweil Hajj Yusuf der Kollaboration mit dem Staat, der nun seinerseits eine enge Verbindung zur Führung pflegte und auch auf deren Anordnung die erste offizielle Übersetzung des Korans in amharischer Sprache überwachte. Mit der sozialistischen Machtübernahme 1974 floh Hajj Yusuf nach Medina und übt seit dem aus Saudi-Arabien einen steten Einfluß auf Harar aus, der sich insbesondere auf politischer Ebene zeigt. Von Hararis wird er unter vorgehaltener Hand auch Mr. X oder das unsichtbare Kontrollzentrum genannt.

Sheikh Abdallah und die Habashiyya

Sheikh Abdallah dagegen ging nach seiner Ausweisung zur religiösen Fortbildung via Somalia nach Jerusalem, Saudi-Arabien, Syrien und siedelte schließlich 1950 in den Libanon über. Zur öffentlichen Figur wurde der Gelehrte allerdings erst 1983, als er die Führung der Organisation Association of Islamic Charitable Projects (AICP) übernahm. Diese Organisation, die sich auch in Anlehnung an ihren Führer al-Habash oder Habashiyya („Äthiopier“) nannte, entwickelte sich zur zweitstärksten sunnitischen islamischen Gruppierung Libanons und konnte 1989 sogar einen Sitz im libanesischen Parlament erobern. Sie publiziert ihr eigenes Magazin, sendet auf ihrem eigenen Internet-Radio und ist auch sonst im virtuellen Raum sehr aktiv wie zahlreiche Webseiten dokumentieren [7]. Sheikh Abdallah konnte eine große Anhängerschaft außerhalb des Libanons insbesondere bei Libanesen oder Hararis in der Diaspora (USA, Kanada, Australien, Deutschland) gewinnen. In ihrer Glaubensvorstellung ist die Habashiyya streng anti-wahhabitisch ausgerichtet und orientiert sich an mystischen Ideen des Islams.

Religiöse Konflikte und soziale Ursachen

Es sei daran erinnert, daß Mitte der 1990iger Jahre der Höhepunkt reformistischer Aktivitäten in Äthiopien erreicht wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren es in Harar insbesondere Angehörige der ethnischen Gruppe der Oromo, die diese Strömungen für sich vereinnahmten. Sie propagierten, daß die in Harar praktizierte Heiligenverehrung unislamisch sei und verknüpften die Debatte mit politischen und ökonomischen Faktoren. Dabei argumentierten sie, daß die kritisierten Praktiken kulturelle Innovationen der Hararis seien, d.h. Praktiken, die von den Oromo fälschlicherweise angenommen würden, da sie in einem asymmetrischen Machtverhältnis zu den Hararis stünden: Dominiert wurden sie politisch von den Amhara, religiös und ökonomisch allerdings von den Hararis. Es ist offensichtlich, daß diese religiösen Auseinandersetzung eine Anzahl von Konflikten verdeckte, die insbesondere auf Landrechte und das Monopol auf Positionen in religiösen Institutionen ausgerichtet waren. Die breite Masse der Hararis konnte sich nicht für die reformistischen Ideen erwärmen, und nur wenige Individuen sympathisieren mit diesen, die wiederum immer mit Hajj Yusuf in Zusammenhang gebracht wurden. Statt dessen beschuldigen die meisten Hararis die Reformer, daß sie nur einer Art Mode folgten bzw. lediglich finanzielle Interessen verträten, die durch Ressourcen aus Saudi-Arabien gespeist seien. Dementsprechend werden sie als khriri baiash („Gute-Taten-Maulhelden“) verspottet. Gegenseitig bezeichnen sich beide Gruppen als kafirun, als Ungläubige.

„Fundamentalismus“, „christliches Eiland“ und „Wahhabi-Sein“

1996 und 2003 reiste Sheikh Abdallah nach einer Abwesenheit von fast 40 Jahren wieder nach Harar um die Bevölkerung die „wahre“ Religion zu lehren. Auch er predigte gegen die Wahhabiten in Harar und denunzierte öffentlich Personen in verschiedenen Vorträgen. Seine Predigten wurden Bestandteil der alltäglichen Nachmittagsdiskussionen, in denen einzelne Personen ihrerseits andere als Wahhabiten ausmachten und diskreditierten, öffentlich Witze über deren Begründer Mohammed Abdalwahhab machten und Bekannte und Freunde dazu anhielten, sich nicht mit den „demaskierten“ Wahhabiten einzulassen. Diese Welle der Stigmatisierung der Reformer hatte zu diesem Zeitpunkt großen gesellschaftlichen Einfluß, denn jeder einzelne hatte die Sorge, das Ziel von Gerüchten zu werden [8].

Die sich anschließende Frage lautet, wer und was nun ein Wahhabit ist. Es sollte hier keine dezidiert theologische Definitionsarbeit geleistet werden, sondern vielmehr darauf hingewiesen werden, daß Begriffe wie „Wahhabit“ oder „Fundamentalist“ aus den verschiedensten Perspektiven mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt und jeweils auf verschiedenen Ebenen instrumentalisiert werden, um bestimmte Interessen zu vertreten und oppositionelle Meinungen zu delegitimieren. Sei es der Diskurs um ein „christliches Eiland“, das Schreckgespenst des „Fundamentalismus“ oder die innerislamische Auseinandersetzung um das „Wahhabi-Sein“: allen drei Ebenen ist gemein, daß zunächst das Andere identifiziert und schließlich mit Kategorien der Fremdheit, Bedrohung und Aggressivität aufgeladen wird. Das Fremde verkommt zum Stigma und die Zusammenführung unterschiedlicher Phänomene leitet über zu einer selektiven Wahrnehmung, die im schlimmsten Fall den „Fundamentalismus“ zum Islam macht und den Gläubigen zum „Fundamentalisten“.

Fußnoten
  1. Im Rahmen einer Tagung zur religiösen Koexistenz in Äthiopien (”Cross and Crescent”, Addis Ababa, 23.-26.09.2002) hielt Samuel Rubenson einen Vortrag zum Thema „A Christian Island? The Impact of Colonialism on the Perceptions of Islam and Christianity in Nineteenth Century Ethiopia”.
  2. Haggai Erlich (1994) Ethiopia and the Middle East, London, Lynne Rienner.
  3. Jon Abbink (1998) A historical-anthropological approach to Islam in Ethiopia. Issues of identity and politics. In: Journal of African Cultural Studies 11, 2, S. 109-124.
  4. Die Wahrnehmung der äthiopischen Christen deckt sich mit der etwas veralteten Diskussion, daß einem afrikanischen Islam ein andersgearteter Islam aus den arabischen Kernländern gegenübersteht, d.h. ein Islam, der ausgestattet mit ausreichenden finanziellen Ressourcen in Afrika Einzug hält und die dortigen Muslime „stört“. Dieser Diskurs wird gegenwärtig mit der bekannten „Fundamentalismus“-Debatte fortgesetzt.
  5. David M. Shinn (2002) Ethiopia: Coping with Islamic Fundamentalism before and after September 11. In: Africa Notes 7, S. 1-17.
  6. Thomas Zitelmann (1998) Bomben in Addis Abeba. Nachricht, Gerücht, Selbstinformation. In: Köhler, Jan; Heyer, Sonja (Hrsg.) Anthropologie der Gewalt. Chancen und Grenzen der sozialwissenschaftlichen Forschung, Berlin: VWF, S. 205-216.
  7. Im Internat kann man sich unter www.aicp.org über die Organisation und ihre religiösen Glaubensvorstellungen in Form von Streitschriften informieren. Die Webseite www.antihabashis, deren Name Programm ist, repräsentiert die Gegenposition, auch hier mit zahlreichen Schriften zum Herunterladen.
  8. Die Macht der Gerüchte konnte ich zwischenzeitlich am eigenen Leib spüren, als ich von verschiedenen Seiten als „jüdischer Spion“ in deutschen Diensten denunziert und damit meine Forschungsarbeit für einige Wochen stark behindert wurde.
Patrick Desplat ist Ethnologe und arbeitet an der Uni Mainz in einem Projekt über die Rolle der islamischen Heiligenverehrung im modernen Kontext der beiden Länder Ägypten und Äthiopien.



* Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 41, Jahrg. 11, Frühjahr 2005

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