"Geopolitische Zeitbombe"
Ägyptens Präsident Al-Sisi geht zunehmend repressiv gegen die Mulimbruderschaft vor. Islamisten reagieren mit Anschlägen
Von Sofian Philip Naceur, Kairo *
Die Sicherheitslage in Ägypten bleibt nach einer Reihe von Anschlägen im Norden der Sinai-Halbinsel angespannt. Mindestens zwölf Menschen wurden am vergangenen Wochenende bei drei Anschlägen auf Einrichtungen von Polizei und Armee getötet und Dutzende verletzt.
Am Sonntag steuerte ein Selbstmordattentäter seinen Wagen auf eine Polizeistation in Al-Arisch zu, bis die Beamten das Feuer eröffneten und das mit Sprengstoff beladene Fahrzeug zur Explosion brachten. Mindestens fünf Polizisten und ein Zivilist wurden bei der Detonation getötet, teilte das Gesundheitsministerium in Kairo mit.
Kurz darauf beschossen Unbekannte einen Armeecheckpoint in Rafah, der Stadt an der Grenze zum palästinensischen Gaza-Streifen. Sie verletzten mehrere Soldaten. Bei einem dritten Anschlag auf einen Checkpoint nahe der Stadt Sheikh Zuweid starben mindestens sechs Soldaten, bestätigte Ägyptens Verteidigungsministerium am Sonntag.
Die seit Jahren im Nordsinai operierende islamistische Gruppierung Ansar Beit Al-Maqdis, die sich im Herbst 2014 in »Staat des Sinai« umbenannte und sich offiziell dem »Islamischen Staat« (IS) in Syrien und im Irak anschloss, bekannte sich zu zwei der drei Attacken. Außerdem kündigten die Dschihadisten weitere Anschläge an. Erst am Freitag hatte die Gruppe ein Video im Internet veröffentlicht, das die Exekution eines 20jährigen Soldaten zeigt, den die Miliz am 3. April beim Angriff auf einen Armeecheckpoint entführt hatte.
Trotz der im Sommer 2013 lancierten ausgedehnten Militäroffensive gegen die Dschihadistengruppe in der Region Al-Arisch gelang es Kairo bisher nicht, den Sinai zu befrieden. Ägyptens Staatspräsident Abdel Fattah Al-Sisi präsentiert sich zwar weiterhin als Bollwerk gegen islamistischen Terror und als scharfer Widersacher der im Juli 2013 entmachteten Muslimbruderschaft. Doch ist die Sicherheitslage auf der Halbinsel und im Rest des Landes erst unter seiner Führung derart fragil geworden.
Seit der Entmachtung der Muslimbrüder und dem Sturz von Ägyptens Expräsident Mohammed Mursi haben gewaltbereite islamistische Gruppen ihre Aktivitäten im Land verstärkt. Bombenanschläge in Kairo und im Nildelta sind seitdem Normalität. Die staatlich geführte Verfolgungswelle gegen die Führungsriege der Bruderschaft hat die einflussreiche und zahlenmäßig größte Oppositionsgruppe gespalten und radikalen Kräften innerhalb der Organisation Auftrieb gegeben.
Die Nachwuchsgeneration ist seither führungslos. Viele junge Anhänger der Bruderschaft haben sich auch aufgrund des brutalen Vorgehens des alten Regimes gegen die islamistische Opposition im Land radikalisiert. Der pragmatische, machtpolitisch orientierte und durchaus kompromissbereite Flügel der heute hinter Gittern sitzenden Führungsriege der Muslimbrüder ist marginalisiert, eine Annäherung zwischen Bruderschaft und dem Regime dadurch in weite Ferne gerückt.
Während Al-Sisi, einer der Strippenzieher hinter der Absetzung Mursis, 2013 von weiten Teilen der Bevölkerung für die Entmachtung der Muslimbrüder gefeiert und von der US-amerikanischen Zeitung Wall Street Journal gar als »Geschenk des Himmels« bezeichnet wurde, hat er die Situation mit seinem repressiven Vorgehen gegen die gemäßigten Islamisten zunehmend verschärft. Die US-Tageszeitung Washington Post bezeichnete Al-Sisi Anfang April nicht zu Unrecht als »geopolitische Zeitbombe«.
Derweil setzt auch Ägyptens Justiz ihren Feldzug gegen die Muslimbrüder fort. Der Strafgerichtshof in Gizeh bestätigte am Samstag die Todesstrafen gegen den Chef der Organisation, Mohammed Badie, und 13 andere Angeklagte. Außerdem verurteilten die Richter 37 Menschen zu lebenslanger Haft. Ihnen wird vorgeworfen, für die Organisation der zwei Protestcamps, die im August 2014 von Polizei und Armee gewaltsam aufgelöst wurden, verantwortlich gewesen zu sein. Bei der Stürmung der Lager durch die Einsatzkräfte waren damals rund 1.000 Menschen getötet worden.
* Aus: junge Welt, Dienstag, 14. April 2015
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