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Nicht enden wollender Zorn

Muslimbruderschaft will Verfassungsreferendum in Ägypten blockieren

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Keine zwei Wochen vor dem geplanten Verfassungsreferendum am 14. und 15. Januar versinkt Ägypten erneut in Gewalt. Am Freitag starben landesweit bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern der Muslimbruderschaft nach offiziellen Angaben 18 Menschen, rund 260 Demonstranten wurden verhaftet. Die verbotene und im Dezember von der Regierung als Terrororganisation eingestufte Bruderschaft hatte erneut zu einer »Woche des Zorns« aufgerufen und damit ihrem Boykott des Verfassungsreferendums Nachdruck verliehen. Ägyptens Armee hatte daraufhin ihre Präsenz auf den Straßen erhöht. Besonders verschärft wurden die Sicherheitsvorkehrungen rund um die Universität von Kairo, am Tahrir-Platz im Zentrum der Hauptstadt und an der Moschee Rabaa Al-Adawija im östlichen Stadtteil Nasr City, wo die Muslimbrüder im Juli wochenlang gegen die Entmachtung des islamistischen Expräsidenten Mohammed Mursi protestiert hatten.

In Nasr City gingen Sicherheitskräfte rasch gegen Demonstrationen vor und zerstreuten die Proteste, die sich in anderen Vierteln im Großraum Kairo bis in die Abendstunden fortsetzten. Bei den schwersten Zusammenstößen am Nil seit rund zwei Monaten wurden allein in Kairo und Giseh fünf Menschen getötet. Auch bei den teils heftigen Ausschreitungen in der Hafenstadt Alexandria, in Minja, Ismailia und in Fajum, einer Hochburg der Bruderschaft südlich von Kairo, starben Demonstranten. Im Gegensatz zu den regelmäßigen Protesten der Mursi-Anhänger in den vergangenen Monaten führten diese diesmal deutlich sichtbar Waffen mit. In Port Said wurden nach amtlichen Angaben elf Demonstranten verhaftet und vor Militärgerichte gestellt. Am Samstag flammten rund um den Campus der Al-Azhar-Universität in Nasr City erneut Unruhen auf. Die Hochschule ist bereits seit Wochen Schauplatz von Protesten der Islamisten, die sich auch am Wochenende Straßenschlachten mit Sicherheitskräften lieferten. Letztere gingen mit Tränengas und Schlagstöcken auch auf dem Campus gegen Demonstranten vor.

Die Serie von Bombenanschlägen wurde derweil fortgesetzt. Am Freitag detonierte nahe der Stadt Al-Arisch im Nordsinai ein Sprengsatz, tötete einen Soldaten und verletzte vier. Insbesondere die Sinaihalbinsel ist seit Monaten Schauplatz von anhaltenden Spannungen und Gewalt. Ägyptens Armee hatte erst im Sommer ihre Offensive gegen dort operierende militante Islamisten intensiviert. Seither häufen sich Anschläge auf Sicherheitskräfte im Norden der an der Grenze zu Israel liegenden Provinz. Die bewaffnete Islamistengruppe Ansar Beit Al-Makdis hatte erst vor wenigen Tagen die Verantwortung für den blutigen Autobombenanschlag in Mansura vom 24. Dezember übernommen. Die Regierung sagt der Organisation enge Verbindungen zur Muslimbruderschaft nach, hat dafür bisher allerdings keinerlei schlüssige Beweise vorgelegt.

Unterdessen steht das Verfassungsreferendum vor der Tür. Angesichts der Boykottaufrufe der Muslimbrüder und der jüngsten Gewaltwelle rechnen Beobachter mit unruhigen Tagen vor und nach der Abstimmung. Erst im Dezember 2012 hatten die damals noch regierenden Muslimbrüder unter Präsident Mursi eine neue Verfassung durch die Institutionen gepeitscht. Im Zuge seiner Absetzung im Juli wurde das umstrittene islamistisch gefärbte Dokument außer Kraft gesetzt. Eine neue verfassunggebende Versammlung hat es im Herbst komplett überarbeitet. Der nun zur Abstimmung vorliegende Entwurf wird von den meisten politischen Kräften im Land unterstützt, auch wenn er Militärtribunale für Zivilisten erlaubt, die Koalitionsfreiheit einschränkt und die politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Streitkräfte unangetastet läßt. Außer den Muslimbrüdern stellen sich lediglich linke, liberale und gewerkschaftsnahe Kreise gegen den Entwurf, der ihrer Auffassung nach die wichtigsten Forderungen der Revolution von 2011 – »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit« – nicht berücksichtigt.

* Aus: junge Welt, Montag, 6. Januar 2014


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