Offener Wahlausgang in Ägypten
Doch wer auch immer neuer Präsident wird – noch haben die Generale bei allem das letzte Wort
Von Juliane Schumacher *
In Ägypten beginnt heute die Wahl
eines neuen Präsidenten. Die Wahlkommission
hat dafür 13 Kandidaten
zugelassen.
Die Schule fällt aus, kündigte das
Bildungsministerium an. Am heutigen
Mittwoch und am Donnerstag,
wenn in Ägypten die ersten
Präsidentschaftswahlen seit dem
Sturz Hosni Mubaraks im Februar
2011 stattfinden, sollen die Ägypter
nur eines tun: wählen gehen.
Am Dienstagmorgen stehen
Panzerfahrzeuge auf dem Tahrir-
Platz, über Lautsprecher rufen
Soldaten die Passanten auf, zur
Wahl zu gehen. Im Internet meldet
sich der Oberste Militärrat, der seit
dem Sturz des letzten Präsidenten
über das Land herrscht, zu Wort.
»Wir Ägypter müssen das Ergebnis
der Wahl akzeptieren«, heißt
es dort, »denn diese Wahlen spiegeln
die Wahl des freien ägyptischen
Volkes, das seinen eigenen
Präsidenten wählt«.
An Öffentlichkeit mangelt es
den Wahlen keineswegs: Seit Wochen
dominiert die Frage, wer
neuer Präsident wird, die Medien.
Zu schreiben gab es genug. Die
Vorbereitung der »ersten demokratischen
Präsidentschaftswahl«,
wie sie das herrschende Militär
und auch das Ausland gern nennen,
lief alles andere als glatt. Im
März 2011, kurz nach Mubaraks
Rücktritt, ließ das Militär über einen
»Fahrplan zur Demokratie«
abstimmen: Das Militär übernimmt
kommissarisch die Macht,
Parlamentswahlen im September,
Präsidentschaftswahlen bis Ende
2011, dann Übergabe der Macht
an eine neue zivile Regierung.
Daraus ist nichts geworden: Bis
Ende November nach zahlreichen
Verschiebungen die Parlamentswahlen
begannen, hatte sich das
Militär, das seit über 50 Jahren im
Hintergrund die ägyptische Politik
bestimmt, fest als neues Machtzentrum
installiert – und versucht
weiterhin, die durch die Revolution
hochpolitisierte Jugend mit
Ausnahmegesetzgebung, Zensur,
Folter und massenweisen Verurteilungen
vor Militärtribunalen
unter Kontrolle zu bekommen. Die
Parlamentswahlen von November
bis Januar waren begleitet von
heftigen Protesten gegen den Militärrat,
weit über 100 Menschen
starben. Der Rat selbst kündigte
an, die Präsidentschaftswahlen,
die inzwischen auf 2013 verschoben
waren, vorzuziehen: Am 23.
und 24. Mai wird gewählt, am 16.
und 17. Juni findet die eventuelle
Stichwahl zwischen den beiden
Bestplatzierten statt.
Das Parlament dominieren
heute die islamisch ausgerichteten
Parteien, die nach der Revolution
zu Verbündeten des Militärs wurden,
allen voran die Muslimbrüder
und die radikal-islamische »Partei
des Lichts«. Doch das Bündnis
bröckelt: Die islamischen Parteien
mussten nach der Wahl feststellen,
dass der Militärrat, der ihnen
durch eine passende Zeitplanung
und Wahlgesetzänderungen zur
Mehrheit im Parlament verholfen
hat, keineswegs bereit ist, die
Macht abzugeben. Bis heute hat
das Parlament keinerlei Befugnisse:
Es kann ohne Zustimmung des
Militärrates kein Gesetz beschließen,
den Haushalt nicht einsehen,
die Regierung ist nach wie vor vom
Militärrat eingesetzt und von dessen
Befehlen abhängig. Stattdessen
hat das Militär begonnen, vor
einem »islamistischen Putsch« zu
warnen – durch die Presse geistern
Warnungen, die »Islamisten«,
die jetzt schon das Parlament dominieren
würden, wollten Ägypten
in eine islamistische Diktatur verwandeln
und die Armee benutzen,
um »religiöse Kriege« zu führen.
Im April disqualifizierte der
Oberste Wahlrat zehn Präsidentschaftskandidaten,
darunter die
drei aussichtsreichsten. Dazu gehörte
neben dem Kandidaten der
Muslimbrüder, die vorsichtshalber
noch einen zweiten aufgestellt
hatten, der Kandidat der Salafiten,
Hazem Salah Abu Ismail. Dieser
wurde ausgeschlossen, weil seine
verstorbene Mutter auch die USStaatsbürgerschaft
besessen hatte
– ein Präsident müsse jedoch »reinen
ägyptischen Blutes sein«.
Wütende Anhänger Ismails begannen
daraufhin, zunächst auf
dem Tahrir-Platz, dann vor dem
Verteidigungsministerium im Kairoer
Stadtteil Abbasiyya zu protestieren,
der auch Sitz des Militärrates
ist. Ihnen schlossen sich
Jugendbewegungen an, die fürchten,
der Militärrat werde auch
nach den Wahlen die Macht nicht
abgeben.
Am 4. Mai stürmte das Militär
das Protestcamp, das dort entstanden
war, und nahm Hunderte
Protestierende fest, darunter bekannte
Menschenrechtsaktivisten.
Einzelne Freigelassene berichten
von brutaler Folter. Weite Teile der
Jugendbewegungen ebenso wie
Teile der Salafiten rufen seither
zum Boykott der Präsidentschaftswahlen
auf – und fürchten
eine Manipulation der Wahl.
Die Umfragen sind unzuverlässig
und gehen weit auseinander,
ein Großteil der Wähler war
bis zuletzt noch unentschieden –
über den Ausgang der Wahl wagen
selbst Experten keinerlei
Prognose. Seit Wochen haben zwei
gemäßigte Kandidaten die Liste
der Favoriten angeführt: Außenpolitiker
Amr Moussa, Ex-Chef der
Arabischen Liga, und der Ex-Muslimbruder
Abdel Moneim Abul-
Fotouh. Eine Woche vor der Wahl
lag auf einmal Ahmed Shafiq in
mehreren Umfragen vorn – den
Luftwaffen-Marschall Shafiq hatte
Mubarak noch während der Revolution
zu seinem Premier gemacht,
er musste kurz nach Mubarak
aufgrund heftiger Proteste
gehen. Er ist ein Mann des Militärs,
nicht der Revolution. Wenn
Shafiq gewinnt, sagt ein junger
Protestierender, dann sind die
Wahlen gefälscht. Doch wer immer
Präsident werde sollte – es
bleibt fraglich, wieviel Macht er
tatsächlich haben wird – und ob
nicht weiterhin das Militär regiert.
Die verfassungsgebende Versammlung,
die noch vor der Wahl
eine neue Verfassung ausarbeiten
sollte, wurde im April von einem
Gericht aufgelöst. Einen neuen
Zeitplan gibt es noch nicht. Der
Militärrat hat vor wenigen Tagen
angekündigt, noch vor dem Ende
der Wahl nun eine eigene Verfassung
zu verkünden, die übergangsweise
gelten soll. In liberalen
Zeitungen kursieren erste Informationen:
Wenn sie stimmen, wird
der Militärrat dauerhaft die »vierte
Macht« im Staat. Der Militär-
Etat und sämtliche das Militär betreffenden
Entscheidungen bleiben
geheim, der Militärrat entscheidet
über den Kriegsfall, die
Befugnisse der Parlaments bleiben
minimal. Die Ernennung des neuen
Präsidenten wird die angespannte
Lage in Ägypten kaum beruhigen
– Ägypten stehen wohl
noch viele Proteste bevor.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Mai 2012
Ägypten hat die Wahl
50 Millionen Menschen bestimmen einen neuen Präsidenten
Von Karin Leukefeld **
Die Ägypter sind bei der heute beginnenden, zweitägigen Wahl aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Erstmals seit dem erzwungenen Abgang des langjährigen Staatschefs Hosni Mubarak im Februar 2011 konkurrieren mehrere Kandidaten um das höchste Amt. Vermutlich wird keiner auf Anhieb die absolute Mehrheit der 50 Millionen Wahlberechtigten erlangen, eine Stichwahl ist für den 16./17. Juni vorgesehen.
Neu an dem Mitte 2011 erlassenen Wahlgesetz sind erleichterte Zugangsbedingungen, die unter Mubarak weitgehend auf diesen und seine Familie zugeschnitten waren. Die Amtszeit eines Präsidenten wurde auf vier Jahre begrenzt, er kann einmal wiedergewählt werden. Kandidaten müssen 30000 Unterschriften aus mindestens 15 Provinzen des Landes vorlegen, außerdem brauchen sie die Unterstützung von 30 Parlamentsabgeordneten oder, alternativ, die Nominierung einer Partei, die mit mindestens einem Abgeordneten im Parlament vertreten ist.
Ursprünglich hatten sich 23 Kandidaten zu den Wahlen angemeldet. Zehn von ihnen wurden von der obersten Präsidentschaftswahlkommission zurückgewiesen. Auch die einzige weibliche Kandidatin, Bouthaina Kamel, konnte die Zugangskriterien nicht erfüllen. Omar Sulaiman, der frühere Geheimdienstchef Mubaraks, wurde wegen zu großer Nähe zum alten Präsidenten zurückgewiesen. Auch eine ausländische Staatsangehörigkeit oder die von Angehörigen führte zur Abweisung eines Kandidaten. Betroffen waren der ursprüngliche Kandidat der Muslimbruderschaft, Khairat Al-Shater und der salafistische Prediger Hazem Abu Ismail.
Der frühere Außenminister unter Mubarak und langjährige Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, kann allerdings trotz früherer Mubarak-Nähe ebenso kandidieren, wie der letzte Ministerpräsident unter Mubarak und Exluftwaffengeneral, Ahmed Schafik. Beide gehören zu den 13 zugelassenen ausschließlich männlichen Kandidaten. Mervat Al-Talawi, Vorsitzende des Nationalen Frauenrats (NCW), sagte der Tageszeitung Al-Ahram, ihre Organisation werde den Wahlsieger auffordern, eine Frau zur Vizepräsidentin zu machen.
Verschiedenen Umfragen zufolge soll es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amr Mussa und dem ehemaligen Muslimbruder Abdul Moneim Abul Fotouh geben, der als »liberaler Islamist« gilt und sowohl von den Salafisten als auch von Teilen der Protestbewegung unterstützt wird. An dritter Stelle liegt demnach der offizielle Kandidat der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi. Weitere Kandidaten sind der islamische Philosoph Muhammad Al-Awwa, der Richter Hisham Al-Bastawisi, der sozialistische Abgeordnete Abu Al-Izz Al-Hariri und der Mitbegründer der Karama-Partei (Nasseristen), Hamdin Sabbahi.
Wer immer der neue Präsident Ägyptens wird, er wird mit vielen Problemen zu kämpfen haben: Außenpolitisch sind es die Neubestimmung der Beziehungen zu Israel und der Streit mit den südlichen Nachbarstaaten um die Verteilung des Nil-Wassers. Innenpolitisch sind neue Wirtschaftskonzepte gefragt. Laut UN leben 40 Prozent derÄgypter unter der Armutsgrenze von 1,50 US-Dollar pro Tag. Vor allem die hohe Arbeitslosigkeit bei jungen Leuten ist eine große Herausforderung. Viele Ägypter werden zudem die Wiederherstellung von »Sicherheit und Ordnung« erwarten, wie sie es unter Mubarak gewohnt waren. Der Militärrat, der nach dessen Abgang die Macht übernommen hatte, hat angekündigt, diese Ende Juni an den neuen Präsidenten abzugeben.
** Aus: junge Welt, Mittwoch, 23. Mai 2012
Schlangen vor den Wahllokalen
In Ägypten hat die Abstimmung über den neuen Präsidenten begonnen ***
Fast anderthalb Jahre nach dem Sturz des langjährigen Staatschefs Hosni Mubarak hat am Mittwoch in Ägypten die erste freie Präsidentenwahl begonnen. 50 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, einen von 13 Kandidaten in das höchste Amt zu wählen. Als Favoriten galten zwei Kandidaten mit Verbindungen zum Mubarak-Regime und zwei Vertreter muslimischer Parteien. Da vermutlich kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der Stimmen erringen kann, wird mit einer Stichwahl am 16. und 17. Juni gerechnet.
Die größte religiöse Partei, die Muslimbruderschaft, hat angekündigt, im Falle eines Sieges eine moderate Version des islamischen Rechts einführen zu wollen. Ihr Kandidat ist Mohammed Morsi. Der zweite religiös orientierte Favorit ist Moneim Abolfotoh, dessen Programm auch von liberalen, linken und christlichen Bürgern unterstützt wird. Ihnen gegenüber stehen zwei alte Bekannte aus dem früheren Establishment: Ahmed Schafik, der unter Mubarak Ministerpräsident war, und der frühere Außenminister Amr Mussa.
Keine Chance, in die Stichwahl zu kommen, hat nach Einschätzung von Beobachtern der Kandidat, der den Kräften vom Tahrir-Platz am nächsten kommt, der Menschenrechtsanwalt Chaled Ali. »Wir werden einen gewählten Präsidenten haben, aber es gibt weiter die Streitkräfte, und das alte Regime ist nicht abgeschafft«, sagte einer der Führer der Protestbewegung gegen Mubarak, Ahmed Maher. »Aber der Druck wird weiter anhalten. Das Volk ist endlich aufgewacht. Wer immer der nächste Präsident sein wird, wir werden ihn nicht in Ruhe lassen.«
Vor den Wahllokalen bildeten sich am Mittwoch lange Schlangen. Viele Wartende sagten, sie hofften auf eine bessere Zukunft. »Ich kann innerhalb weniger Monate sterben, ich bin für meine Kinder gekommen, damit sie leben können«, sagte der krebskranke Medhat Ibrahim. »Wir wollen besser leben, wie Menschen.« Der 58jährige wartete in einem Armenviertel Kairos darauf, seine Stimme abgeben zu können.
Die Militärführung, die nach dem Sturz Mubaraks offiziell die Macht übernommen hat, will diese am 1. Juli an den neugewählten Staatschef übergeben. Er wird der fünfte Präsident seit dem Sturz der Monarchie vor 60 Jahren sein. Alle seit 1952 regierenden Präsidenten waren aus dem Militär hervorgegangen: Mohammed Nagib, Gamal Abdel Nasser, Anwar Sadat und – 29 Jahre lang – Mubarak.
*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Mai 2012
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