Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Offener Wahlausgang in Ägypten

Doch wer auch immer neuer Präsident wird – noch haben die Generale bei allem das letzte Wort

Von Juliane Schumacher *

In Ägypten beginnt heute die Wahl eines neuen Präsidenten. Die Wahlkommission hat dafür 13 Kandidaten zugelassen.

Die Schule fällt aus, kündigte das Bildungsministerium an. Am heutigen Mittwoch und am Donnerstag, wenn in Ägypten die ersten Präsidentschaftswahlen seit dem Sturz Hosni Mubaraks im Februar 2011 stattfinden, sollen die Ägypter nur eines tun: wählen gehen.

Am Dienstagmorgen stehen Panzerfahrzeuge auf dem Tahrir- Platz, über Lautsprecher rufen Soldaten die Passanten auf, zur Wahl zu gehen. Im Internet meldet sich der Oberste Militärrat, der seit dem Sturz des letzten Präsidenten über das Land herrscht, zu Wort. »Wir Ägypter müssen das Ergebnis der Wahl akzeptieren«, heißt es dort, »denn diese Wahlen spiegeln die Wahl des freien ägyptischen Volkes, das seinen eigenen Präsidenten wählt«.

An Öffentlichkeit mangelt es den Wahlen keineswegs: Seit Wochen dominiert die Frage, wer neuer Präsident wird, die Medien. Zu schreiben gab es genug. Die Vorbereitung der »ersten demokratischen Präsidentschaftswahl«, wie sie das herrschende Militär und auch das Ausland gern nennen, lief alles andere als glatt. Im März 2011, kurz nach Mubaraks Rücktritt, ließ das Militär über einen »Fahrplan zur Demokratie« abstimmen: Das Militär übernimmt kommissarisch die Macht, Parlamentswahlen im September, Präsidentschaftswahlen bis Ende 2011, dann Übergabe der Macht an eine neue zivile Regierung.

Daraus ist nichts geworden: Bis Ende November nach zahlreichen Verschiebungen die Parlamentswahlen begannen, hatte sich das Militär, das seit über 50 Jahren im Hintergrund die ägyptische Politik bestimmt, fest als neues Machtzentrum installiert – und versucht weiterhin, die durch die Revolution hochpolitisierte Jugend mit Ausnahmegesetzgebung, Zensur, Folter und massenweisen Verurteilungen vor Militärtribunalen unter Kontrolle zu bekommen. Die Parlamentswahlen von November bis Januar waren begleitet von heftigen Protesten gegen den Militärrat, weit über 100 Menschen starben. Der Rat selbst kündigte an, die Präsidentschaftswahlen, die inzwischen auf 2013 verschoben waren, vorzuziehen: Am 23. und 24. Mai wird gewählt, am 16. und 17. Juni findet die eventuelle Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten statt.

Das Parlament dominieren heute die islamisch ausgerichteten Parteien, die nach der Revolution zu Verbündeten des Militärs wurden, allen voran die Muslimbrüder und die radikal-islamische »Partei des Lichts«. Doch das Bündnis bröckelt: Die islamischen Parteien mussten nach der Wahl feststellen, dass der Militärrat, der ihnen durch eine passende Zeitplanung und Wahlgesetzänderungen zur Mehrheit im Parlament verholfen hat, keineswegs bereit ist, die Macht abzugeben. Bis heute hat das Parlament keinerlei Befugnisse: Es kann ohne Zustimmung des Militärrates kein Gesetz beschließen, den Haushalt nicht einsehen, die Regierung ist nach wie vor vom Militärrat eingesetzt und von dessen Befehlen abhängig. Stattdessen hat das Militär begonnen, vor einem »islamistischen Putsch« zu warnen – durch die Presse geistern Warnungen, die »Islamisten«, die jetzt schon das Parlament dominieren würden, wollten Ägypten in eine islamistische Diktatur verwandeln und die Armee benutzen, um »religiöse Kriege« zu führen.

Im April disqualifizierte der Oberste Wahlrat zehn Präsidentschaftskandidaten, darunter die drei aussichtsreichsten. Dazu gehörte neben dem Kandidaten der Muslimbrüder, die vorsichtshalber noch einen zweiten aufgestellt hatten, der Kandidat der Salafiten, Hazem Salah Abu Ismail. Dieser wurde ausgeschlossen, weil seine verstorbene Mutter auch die USStaatsbürgerschaft besessen hatte – ein Präsident müsse jedoch »reinen ägyptischen Blutes sein«.

Wütende Anhänger Ismails begannen daraufhin, zunächst auf dem Tahrir-Platz, dann vor dem Verteidigungsministerium im Kairoer Stadtteil Abbasiyya zu protestieren, der auch Sitz des Militärrates ist. Ihnen schlossen sich Jugendbewegungen an, die fürchten, der Militärrat werde auch nach den Wahlen die Macht nicht abgeben.

Am 4. Mai stürmte das Militär das Protestcamp, das dort entstanden war, und nahm Hunderte Protestierende fest, darunter bekannte Menschenrechtsaktivisten. Einzelne Freigelassene berichten von brutaler Folter. Weite Teile der Jugendbewegungen ebenso wie Teile der Salafiten rufen seither zum Boykott der Präsidentschaftswahlen auf – und fürchten eine Manipulation der Wahl.

Die Umfragen sind unzuverlässig und gehen weit auseinander, ein Großteil der Wähler war bis zuletzt noch unentschieden – über den Ausgang der Wahl wagen selbst Experten keinerlei Prognose. Seit Wochen haben zwei gemäßigte Kandidaten die Liste der Favoriten angeführt: Außenpolitiker Amr Moussa, Ex-Chef der Arabischen Liga, und der Ex-Muslimbruder Abdel Moneim Abul- Fotouh. Eine Woche vor der Wahl lag auf einmal Ahmed Shafiq in mehreren Umfragen vorn – den Luftwaffen-Marschall Shafiq hatte Mubarak noch während der Revolution zu seinem Premier gemacht, er musste kurz nach Mubarak aufgrund heftiger Proteste gehen. Er ist ein Mann des Militärs, nicht der Revolution. Wenn Shafiq gewinnt, sagt ein junger Protestierender, dann sind die Wahlen gefälscht. Doch wer immer Präsident werde sollte – es bleibt fraglich, wieviel Macht er tatsächlich haben wird – und ob nicht weiterhin das Militär regiert.

Die verfassungsgebende Versammlung, die noch vor der Wahl eine neue Verfassung ausarbeiten sollte, wurde im April von einem Gericht aufgelöst. Einen neuen Zeitplan gibt es noch nicht. Der Militärrat hat vor wenigen Tagen angekündigt, noch vor dem Ende der Wahl nun eine eigene Verfassung zu verkünden, die übergangsweise gelten soll. In liberalen Zeitungen kursieren erste Informationen: Wenn sie stimmen, wird der Militärrat dauerhaft die »vierte Macht« im Staat. Der Militär- Etat und sämtliche das Militär betreffenden Entscheidungen bleiben geheim, der Militärrat entscheidet über den Kriegsfall, die Befugnisse der Parlaments bleiben minimal. Die Ernennung des neuen Präsidenten wird die angespannte Lage in Ägypten kaum beruhigen – Ägypten stehen wohl noch viele Proteste bevor.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Mai 2012


Ägypten hat die Wahl

50 Millionen Menschen bestimmen einen neuen Präsidenten

Von Karin Leukefeld **


Die Ägypter sind bei der heute beginnenden, zweitägigen Wahl aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Erstmals seit dem erzwungenen Abgang des langjährigen Staatschefs Hosni Mubarak im Februar 2011 konkurrieren mehrere Kandidaten um das höchste Amt. Vermutlich wird keiner auf Anhieb die absolute Mehrheit der 50 Millionen Wahlberechtigten erlangen, eine Stichwahl ist für den 16./17. Juni vorgesehen.

Neu an dem Mitte 2011 erlassenen Wahlgesetz sind erleichterte Zugangsbedingungen, die unter Mubarak weitgehend auf diesen und seine Familie zugeschnitten waren. Die Amtszeit eines Präsidenten wurde auf vier Jahre begrenzt, er kann einmal wiedergewählt werden. Kandidaten müssen 30000 Unterschriften aus mindestens 15 Provinzen des Landes vorlegen, außerdem brauchen sie die Unterstützung von 30 Parlamentsabgeordneten oder, alternativ, die Nominierung einer Partei, die mit mindestens einem Abgeordneten im Parlament vertreten ist.

Ursprünglich hatten sich 23 Kandidaten zu den Wahlen angemeldet. Zehn von ihnen wurden von der obersten Präsidentschaftswahlkommission zurückgewiesen. Auch die einzige weibliche Kandidatin, Bouthaina Kamel, konnte die Zugangskriterien nicht erfüllen. Omar Sulaiman, der frühere Geheimdienstchef Mubaraks, wurde wegen zu großer Nähe zum alten Präsidenten zurückgewiesen. Auch eine ausländische Staatsangehörigkeit oder die von Angehörigen führte zur Abweisung eines Kandidaten. Betroffen waren der ursprüngliche Kandidat der Muslimbruderschaft, Khairat Al-Shater und der salafistische Prediger Hazem Abu Ismail.

Der frühere Außenminister unter Mubarak und langjährige Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, kann allerdings trotz früherer Mubarak-Nähe ebenso kandidieren, wie der letzte Ministerpräsident unter Mubarak und Exluftwaffengeneral, Ahmed Schafik. Beide gehören zu den 13 zugelassenen ausschließlich männlichen Kandidaten. Mervat Al-Talawi, Vorsitzende des Nationalen Frauenrats (NCW), sagte der Tageszeitung Al-Ahram, ihre Organisation werde den Wahlsieger auffordern, eine Frau zur Vizepräsidentin zu machen.

Verschiedenen Umfragen zufolge soll es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amr Mussa und dem ehemaligen Muslimbruder Abdul Moneim Abul Fotouh geben, der als »liberaler Islamist« gilt und sowohl von den Salafisten als auch von Teilen der Protestbewegung unterstützt wird. An dritter Stelle liegt demnach der offizielle Kandidat der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi. Weitere Kandidaten sind der islamische Philosoph Muhammad Al-Awwa, der Richter Hisham Al-Bastawisi, der sozialistische Abgeordnete Abu Al-Izz Al-Hariri und der Mitbegründer der Karama-Partei (Nasseristen), Hamdin Sabbahi.

Wer immer der neue Präsident Ägyptens wird, er wird mit vielen Problemen zu kämpfen haben: Außenpolitisch sind es die Neubestimmung der Beziehungen zu Israel und der Streit mit den südlichen Nachbarstaaten um die Verteilung des Nil-Wassers. Innenpolitisch sind neue Wirtschaftskonzepte gefragt. Laut UN leben 40 Prozent derÄgypter unter der Armutsgrenze von 1,50 US-Dollar pro Tag. Vor allem die hohe Arbeitslosigkeit bei jungen Leuten ist eine große Herausforderung. Viele Ägypter werden zudem die Wiederherstellung von »Sicherheit und Ordnung« erwarten, wie sie es unter Mubarak gewohnt waren. Der Militärrat, der nach dessen Abgang die Macht übernommen hatte, hat angekündigt, diese Ende Juni an den neuen Präsidenten abzugeben.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 23. Mai 2012

Schlangen vor den Wahllokalen

In Ägypten hat die Abstimmung über den neuen Präsidenten begonnen ***

Fast anderthalb Jahre nach dem Sturz des langjährigen Staatschefs Hosni Mubarak hat am Mittwoch in Ägypten die erste freie Präsidentenwahl begonnen. 50 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, einen von 13 Kandidaten in das höchste Amt zu wählen. Als Favoriten galten zwei Kandidaten mit Verbindungen zum Mubarak-Regime und zwei Vertreter muslimischer Parteien. Da vermutlich kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der Stimmen erringen kann, wird mit einer Stichwahl am 16. und 17. Juni gerechnet.

Die größte religiöse Partei, die Muslimbruderschaft, hat angekündigt, im Falle eines Sieges eine moderate Version des islamischen Rechts einführen zu wollen. Ihr Kandidat ist Mohammed Morsi. Der zweite religiös orientierte Favorit ist Moneim Abolfotoh, dessen Programm auch von liberalen, linken und christlichen Bürgern unterstützt wird. Ihnen gegenüber stehen zwei alte Bekannte aus dem früheren Establishment: Ahmed Schafik, der unter Mubarak Ministerpräsident war, und der frühere Außenminister Amr Mussa.

Keine Chance, in die Stichwahl zu kommen, hat nach Einschätzung von Beobachtern der Kandidat, der den Kräften vom Tahrir-Platz am nächsten kommt, der Menschenrechtsanwalt Chaled Ali. »Wir werden einen gewählten Präsidenten haben, aber es gibt weiter die Streitkräfte, und das alte Regime ist nicht abgeschafft«, sagte einer der Führer der Protestbewegung gegen Mubarak, Ahmed Maher. »Aber der Druck wird weiter anhalten. Das Volk ist endlich aufgewacht. Wer immer der nächste Präsident sein wird, wir werden ihn nicht in Ruhe lassen.«

Vor den Wahllokalen bildeten sich am Mittwoch lange Schlangen. Viele Wartende sagten, sie hofften auf eine bessere Zukunft. »Ich kann innerhalb weniger Monate sterben, ich bin für meine Kinder gekommen, damit sie leben können«, sagte der krebskranke Medhat Ibrahim. »Wir wollen besser leben, wie Menschen.« Der 58jährige wartete in einem Armenviertel Kairos darauf, seine Stimme abgeben zu können.

Die Militärführung, die nach dem Sturz Mubaraks offiziell die Macht übernommen hat, will diese am 1. Juli an den neugewählten Staatschef übergeben. Er wird der fünfte Präsident seit dem Sturz der Monarchie vor 60 Jahren sein. Alle seit 1952 regierenden Präsidenten waren aus dem Militär hervorgegangen: Mohammed Nagib, Gamal Abdel Nasser, Anwar Sadat und – 29 Jahre lang – Mubarak.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Mai 2012




Zurück zur Ägypten-Seite

Zurück zur Homepage