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Staatsterror in Ägypten

Viele Tote bei Räumung von Kairoer Protestcamps durch das Militär *

Nach blutigen Zusammenstößen zwischen den ägyptischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi ist ein einmonatiger Ausnahmezustand über das Land am Nil verhängt worden. Das teilte das Präsidialamt in Kairo am Mittwoch mit. Aus Protest gegen die Gewalt hat Vizepräsident Mohammed al-Baradei seinen Rücktritt eingereicht. Er teilte Übergangspräsident Adli Mansur mit, er könne nicht länger »Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, mit denen ich nicht einverstanden bin«.

Die Präsidentschaft begründete die Maßnahmen mit der »Gefahr für Sicherheit und Ordnung« durch »gezielte Sabotage und Angriffe auf private und öffentliche Gebäude und den Verlust an Leben durch extremistische Gruppen«. Übergangspräsident Adli Mansur habe die »Streitkräfte in Kooperation mit der Polizei beauftragt, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Sicherheit und Ordnung zu wahren und öffentliches und privates Eigentum sowie das Leben der Bürger zu schützen«, hieß es weiter.

Bei der gewaltsamen Räumung zweier Protestlager der Anhänger Mursis in Kairo waren Dutzende Menschen getötet worden. Auch ein Kameramann des britischen Senders Sky News wurde erschossen. Während AFP von mindestens 124 Toten schrieb, war bei den Demonstranten die Rede von insgesamt mehr als 2200 Toten und 10 000 Verletzten. Die Sicherheitskräfte hatten am Morgen unter dem Einsatz von Bulldozern und Tränengas mit der Räumung der Protestlager auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz und dem Al-Nahda-Platz begonnen.

In Berlin verlangten am gleichen Tag Dutzende Demonstranten vor dem Auswärtigen Amt ein Ende der Gewalt in Ägypten. Sie forderten die Bundesregierung auf, das Verhalten des Militärs in Ägypten zu verurteilen. Außenminister Guido Westerwelle hatte zuvor bereits an die Übergangsregierung in Kairo appelliert, für eine Beruhigung der Lage zu sorgen. Der gewaltsame Einsatz der Sicherheitskräfte rief international scharfe Kritik hervor.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. August 2013


Wut und Wahn – die Dämme brechen

Die brutale Räumung der Islamisten-Camps in Kairo zieht das ganze Land in den Strudel der Gewalt

Von Oliver Eberhardt, Kairo **


In Kairo hat das Militär am Mittwoch die Protestlager der Muslimbruderschaft geräumt; zahlreiche Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Die Lage ist nun unübersichtlich und explosiv. In vielen Städten Ägyptens kam es zu Straßenschlachten. In der Übergangsregierung gibt es Streit.

Immer wieder zeigt Ägyptens Staatsfernsehen Bilder und Berichte, die die »Verbrechen« der Muslimbruderschaft und des Ex-Präsidenten Mohammed Mursi belegen sollen. Auf den Straßen und Plätzen in der Innenstadt von Kairo herrscht derweil gespenstische Ruhe. Viele Geschäfte haben geschlossen. Wer kann, bleibt zu Hause. Die Lage ist unübersichtlich, angespannt. Niemand weiß, was als Nächstes passieren wird.

In diesen Stunden hängt alles davon ab, ob die Muslimbruderschaft ihre Anhänger unter Kontrolle hat, ob sich vor allem die jungen Leute an die Aufrufe zur Gewaltfreiheit halten werden, die bislang die Proteste für die Wiedereinsetzung von Mursi bestimmte. Die Anzeichen, dass das nicht der Fall ist, mehren sich.

In den frühen Morgenstunden hatten Polizei und Militär begonnen, die Protestlager in Kairo zu räumen, in denen bereits seit Wochen Tausende ausharrten. Und wie bei früheren Einsätzen gingen die Sicherheitskräfte mit extremer Härte vor: Die Demonstranten wurden eingekesselt, aus der Luft mit Tränengas beschossen. Außerdem wurde scharfe Munition eingesetzt. Innenminister Mohammed Ibrahim hatte noch am Morgen behauptet, jeder, der gehen wolle, könne auch gehen, es sei denn, er stehe auf der Fahndungsliste. Einer Liste, die von der erst vor zwei Wochen wiederbelebten Sicherheitspolizei und dem Militär erstellt wurde. Im Juli erst war dem Militär von Übergangspräsident Adli Mansur die Befugnis gegeben worden, Festnahmen ohne Haftbefehl durchzuführen.

Bei dem Einsatz starben mehrere Dutzend Menschen, Hunderte wurden verletzt. Eine genaue Zahl ist nicht zu benennen. Bei den Einsätzen in Kairo selbst war die Gegenwehr der Demonstranten gering. Es gab Steinwürfe auf Soldaten; vereinzelt wurden auch Brandsätze geworfen.

Die geballte Wut begann sich erst Stunden später anderswo im Land zu entladen. In Alexandria, in Port Said, in Suez lieferten sich vor allem Jugendliche Straßenschlachten mit Polizei und Militär; keine der Seiten hielt sich dabei zurück. Demonstranten griffen auch christliche Geschäfte und Kirchen an. Vertreter der Muslimbruderschaft verurteilten dies in scharfen Worten; es entspreche nicht den Werten der Brüder, andere Religionen anzugreifen. Doch man gesteht auch ein, dass man, je mehr die Führungsebene durch Festnahmen geschwächt wird, die Möglichkeit verliert, die Gewaltbereiten in Schach zu halten. Ägyptens Regierung gab bis zum Nachmittag keine offizielle Stellungnahme ab. Quellen aus dem Umfeld von Übergangspräsident Mansur berichteten allerdings, es gebe heftigen Streit über das Vorgehen. Vor allem Vizepräsident Mohammed al-Baradei hatte in den vergangenen Wochen immer wieder zum Kompromiss gemahnt und sich gegen einen Militäreinsatz im Fall der Protestlager gestellt. Dafür war ihm von staatlichen Medien vorgeworfen worden, eine »Gefahr für Volk und Staat« darzustellen.

Für Baradei, der international bislang großen Respekt genoss und der so dazu beitrug, der neuen Regierung Legitimität zu verleihen, steht nun dieser Ruf auf dem Spiel.

Vor allem in der muslimischen Welt ist die Kritik massiv: Auch Länder, deren Regierungen sich noch vor Kurzem auf die Seite der Übergangsregierung gestellt und Finanzhilfen versprochen hatten, kritisierten das Vorgehen der Einsatzkräfte mit deutlichen Worten. So nannte die saudi-arabische Regierung den Einsatz »inakzeptabel«, und auch in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten mahnte man zur Zurückhaltung. Denn die dortigen Öffentlichkeiten hatten immer schon eher auf Seiten der Muslimbrüder gestanden; nach den Ereignissen vom Mittwoch befürchten viele arabische Regierungen, dass es auch in ihren Ländern zu Auseinandersetzungen kommt. Iran verurteilte das »Blutbad« in Ägypten und warnte vor einem Bürgerkrieg. Das Außenministerium in Teheran rief die ägyptischen Sicherheitskräfte zu Mäßigung auf.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. August 2013


Notstand in Ägypten

Militär räumt Protestcamps der Muslimbrüder. Hunderte Tote befürchtet. Kairo abgeriegelt. Zusammenstöße auch in anderen Städten

Von Sofian Philip Naceur, Kairo ***


In Ägypten hat Übergangspräsident Adli Mansur am Mittwoch nach schweren Unruhen für einen Monat den Notstand ausgerufen. Zuvor hatten die Sicherheitskräfte mit der Räumung der Protestcamps der Muslimbrüder in der Hauptstadt Kairo begonnen. Mit äußerster Härte waren sie gegen die seit Wochen stattfindenden Demonstrationen an der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City im Osten Kairos und am Nahda-Platz in Giza vorgegangen. Die Zeltlager wurden von Armee und Polizei umzingelt, besetzt und mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Armee und Polizei setzten Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP sollen allein an der Rabaa Al-Adawija mindestens 124 Menschen getötet worden sein.

Fernsehbilder zeigen, wie vermummte Scharfschützen von Dächern nahegelegener Häuser auf die Menge schossen. Die Anhänger der Muslimbrüder warfen Steine und Feuerwerkskörper auf anrückende Polizeieinheiten. Militärhelikopter kreisten über der Stadt. Kairo wurde komplett abgeriegelt, um den Zustrom von Anhängern der Muslimbrüder in die Stadt zu unterbinden. Die Züge im Land wurden angehalten. Der Verkehr in der Hauptstadt brach zusammen, da Sicherheitskräfte in der gesamten Stadt Straßen und Brücken über den Nil sperrten.

Die Bruderschaft rief dazu auf, gegen die Brutalität der Sicherheitskräfte zu demonstrieren und Regierung und Armee aufzufordern »das Massaker zu stoppen«. Ihre Appelle, Widerstand gegen die Intervention der Sicherheitskräfte zu leisten und notfalls den Märtyrertod zu sterben, heizten die Gewalt weiter an. In mehreren Stadtvierteln Kairos formierten sich Protestzüge. Auch in Suez, Port Said, Alexandria und anderen Städten kam es zu Ausschreitungen zwischen Anhängern der Bruderschaft und der Polizei.

Die Regierung lobte die »Zurückhaltung« der Sicherheitskräfte bei der Räumungsaktion und machte die Protestierenden für die Eskalation der Gewalt verantwortlich. Die Muslimbrüder widersprachen. »Das ist kein Versuch, die Proteste zu räumen, sondern der blutige Versuch, alle oppositionellen Stimmen gegen den Militärputsch zu zermalmen«, sagte ihr Sprecher Gehad El-Haddad.

In Fayoum südlich von Kairo, einer Hochburg der Bruderschaft, wurden mindestens neun Menschen getötet. Im Süden des Landes sollen mindestens sieben Kirchen in Flammen aufgegangen sein. Die christliche Minderheit beschuldigt die Muslimbrüder, für die Übergriffe verantwortlich zu sein. Zudem häufen sich Angriffe auf christliche Geschäfte, allen voran denen des Mobilfunkunternehmens Mobinil, das dem christlichen Milliardär Naguib Sawiris gehört. Dieser soll im Frühjahr die Unterschriftenkampagne für die Absetzung von Mohammed Mursi als Präsident mitfinanziert haben.

Nach dem Scheitern internationaler Vermittlungsbemühungen vor gut einer Woche hatte die Bruderschaft erst am Montag Gesprächsbereitschaft signalisiert. Dennoch haben sich die Falken im Armee- und Regierungsapparat durchgesetzt und eine »weiche« Auflösung der Protestcamps verworfen. Die Armee hat seit der Absetzung Mursis alles daran gesetzt, die Muslimbrüder zu dämonisieren, sie pauschal als »Terroristen« bezeichnet und ihnen die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt auf dem Sinai in die Schuhe geschoben. Das Militär setzt nun offen auf Konfrontation und stachelt die Bruderschaft erfolgreich zu Gegengewalt an.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. August 2013


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