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Neues Blut auf dem Tahrir

Revolutionäre Jugendgruppen protestieren in Ägypten gegen Übergangsregierung. Bei Gedenken für Massaker-Opfer sterben in Kairo zwei Demonstranten

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Erstmals seit der Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi durch die Armee im Juli versammelten sich am Montag und Dienstag wieder revolutionäre Jugendgruppen auf dem Tahrir-Platz. Im Stadtzentrum der Hauptstadt Kairo gedachten sie der Opfer des Massakers in der Mohammed-Mahmoud-Straße im November 2011 und protestierten gegen die Übergangsregierung, die Armee und die Muslimbruderschaft. Seit dem Sturz des Islamisten Mursi hat sich das Land am Nil zunehmend polarisiert. Proteste säkularer anti-militaristischer Gruppen gegen die Herrschaft des Militärs wurden marginalisiert, Demonstranten als »verräterisch« denunziert oder schlicht mit den Muslimbrüdern gleichgesetzt. Das Land sah zuletzt fast ausschließlich Kundgebungen der Muslimbrüder oder der Anhänger des neuen starken Mannes am Nil, Armeechef und Verteidigungsminister General Abdel Fattah Al-Sisi. Das Militär schwimmt derzeit auf einer Welle der Popularität und gebärdet sich als Verteidiger der ägyptischen Revolution und Bollwerk gegen den Islamismus.

Das Mohammed-Mahmoud-Massaker war die Reaktion der Machthaber auf die Proteste gegen die Herrschaft des Obersten Militärrates (SCAF) unter Feldmarschall Hussein Tantawi, der das Land vom Sturz Hosni Mubaraks im Februar 2011 bis zum Amtsantritt Mursis im Juni 2012 autoritär regierte. Am 19. November 2011 versuchten Einheiten von Polizei und Armee, ein Sit-in auf dem Tahrir gewaltsam zu zerstreuen. Die Attacke der Sicherheitskräfte auf die unbewaffneten Demonstranten mündete in einer fast einwöchigen Straßenschlacht, bei der mindestens 47 Menschen getötet und Tausende verletzt wurden. Mit brachialer Härte setzten die Sicherheitskräfte Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Das Massaker wurde schnell zum Symbol der Proteste gegen den SCAF und die Brutalität des Sicherheitsapparats. Auch die Mahnwache zum Gedenken an die Opfer am ersten Jahrestag im November 2012 endete in einer tagelangen Straßenschlacht zwischen Demonstranten und der Polizei.

Die trotzkistischen Revolutionären Sozialisten (RS), die liberale Bewegung des 6. April, Gewerkschaften und andere Gruppierungen versammelten sich bereits am Montag abend am Abdeen Palast, einer präsidialen Residenz in der Kairoer Innenstadt. So wollten sie Zusammenstöße mit rivalisierenden politischen Demonstrationen am Dienstag, dem zweiten Jahrestag des Mohammed-Mahmoud-Massakers, vermeiden. Auch die islamistische Muslimbruderschaft und Unterstützer von Armeechef Al-Sisi hatten angekündigt zum Tahrir zu ziehen. Vom Abdeen zogen am frühen Montag abend rund 2000 Menschen zum Tahrir-Platz, der noch bis zum Nachmittag von der Armee hermetisch abgeriegelt war. Sie demontierten ein erst am Vormittag von Premierminister Hasem Al-Beblawi eingeweihtes Denkmal zu Ehren der während der Revolution getöteten Märtyrer. Der Bau des Denkmals, von der Interimsregierung in Auftrag gegeben, wurde von Vielen mit Kopfschütteln und teils harscher Kritik goutiert. Schließlich werden Polizei und Armee für die Toten von 2011 und 2012 in der Mohammed-Mahmoud-Straße verantwortlich gemacht. »Wir werden nicht zulassen, daß sie einen Eigentumsanspruch an der Revolution anmelden«, heißt es in einer Stellungnahme der Front des revolutionären Weges, einer Koalition linker und liberaler Gruppen und Parteien, mit Blick auf den Sicherheitsapparat und die Muslimbrüder.

Die Armee zog sich schließlich am Montag vom Tahrir zurück und ermöglichte damit erstmals wieder Proteste der antimilitaristischen Opposition auf dem symbolträchtigen Platz. Am Dienstag kam es bereits mittags zu Zusammenstößen zwischen Anhängern von Militär und Übergangsregierung auf der einen sowie ihren Gegnern auf der anderen Seite. Die Demonstration am Abend mit rund 5000 Teilnehmern verlief zunächst friedlich, bis es in der Nacht doch noch zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam. Nach offiziellen Angaben wurden zwei Demonstranten getötet und rund 50 weitere verletzt.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 21. November 2013


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