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Streikwelle am Nil

Nach dem Motto »Knüppel statt Karotte« versucht Ägyptens regierende Moslembruderschaft, die junge, renitente Arbeiterbewegung zu brechen. Bislang ohne Erfolg

Von Raoul Rigault *

Zwanzig Monate sind seit dem erfolgreichen Volksaufstand gegen das Mubarak-Regime in Ägypten vergangen. Ein Vierteljahr ist es her, daß mit Mohammed Mursi der erste frei gewählte Präsident am Nil gewählt wurde. Doch noch immer beherrschen Proteste die Szenerie. Während die parlamentarische Demokratie, wenn auch unter erheblichen Geburtswehen, Gestalt annimmt, gehen immer mehr Menschen für spürbare Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Straße.

Jüngster Höhepunkt waren Mitte Oktober zwei Großdemonstrationen binnen acht Tagen. Gewalttätige Anhänger der Moslembruderschaft hatten am 12.Oktober Teile des Kairoer Tahrir-Platzes gestürmt und eine der Rednertribünen niedergebrannt. Ein Bündnis aus 29 linken und linksliberalen Parteien, Bewegungen und Gewerkschaften organisierte daraufhin am 19. einen erneuten Sternmarsch zum Ort der Revolution vom Januar/Februar 2011. Zehntausende beteiligten sich. »Wir wollen soziale Gerechtigkeit schaffen, eine ausgewogene Verfassung und Gerichtsverfahren gegen die Mörder von Demonstranten«, hieß es im gemeinsamen Aufruf. Konkret gefordert wird die Einführung eines monatlichen Mindestlohns von 1500 Ägyptischen Pfund (etwa 191 Euro), Kontrolle der rapide steigenden Preise durch die Regierung sowie die Rückführung des Kapitals, das von Vertretern des ehemaligen Regimes in Ausland geschafft wurde. Außerdem lehnt das progressive Lager den von Mursis Kabinett beim IWF beantragten Kredit von 4,8 Milliarden Dollar wegen der damit verbundenen neoliberalen Bedingungen ab.

Für die nominell große, aber zersplitterte Linke bedeuten die beiden Demonstrationen einen wichtigen Schritt in Richtung Zusammenführung. Dabei steigt die Streikwelle weiter an. Neuesten Erhebungen des Egyptian Center for Economic and Social Rights (CESR) zufolge gab es allein in der ersten Septemberhälfte 300 betriebliche Proteste. Das ist der höchste Wert seit Jahresbeginn. Hintergrund sind vor allem Forderungen nach höheren Löhnen, besseren Bedingungen, langfristigen Verträgen sowie die Rehabilitierung und Wiedereinstellung von Kollegen, die im Laufe vorangegangener Aktionen entlassen oder vor Gericht gestellt wurden. Die meisten Arbeitsniederlegungen gab es mit 131 im öffentlichen Dienst, gefolgt von der Industrie (61), Schulen (41), Universitäten (21), Transportwesen (11) und den Krankenhäusern (10). Doch selbst Teile der Polizei und Imame von Moschen waren nicht immun.

Nach Einschätzung des Vorstandsvorsitzenden der Textilholding Arafa, Alaa Arafa, handelt es sich um eine Form von »sozialer Rache«. Die vielen wilden Streiks seien »sehr störend fürs Geschäft« und schadeten Ägyptens Reputation als sicherer Ort für Investitionen. »Wir brauchen irgendeine Art von Kommunikation mit den Arbeitern. Wir müssen die Ausstände regulieren«, meint der Konzernchef. Diese Ansicht teilt inzwischen die regierende Moslembruderschaft. Daß auch die Nasr Company, ein wichtiger Bestandteil des Wirtschaftsimperiums der Armee, bestreikt wird, dürfte diese Erkenntnis befördert haben. Die Belegschaften des sieben Fabriken umfassenden Konglomerats fordern zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Absetzung des Firmendirektors Generalmajor Mounir Labib sowie aller anderen Offiziere auf Managerposten.

Während die Regierung an einem Gesetzesentwurf zur Regulierung des Streikrechts arbeitet, legen die ausführenden Organe bereits heute kräftig Hand an. Nach einem Anfang Oktober veröffentlichten Bericht der beiden unabhängigen Gewerkschaftsbünde EFITU und EDLC über die Repression »greift die Regierung auf dieselben Taktiken zurück wie das alte Regime«. 32 ihrer Kader wurden wegen der Organisierung von Streiks angeklagt und fünf weitere bereits zu drei bis fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Zahl derjenigen, gegen die ermittelt wurde, geht in die Hunderte.

Doch auch von den Unternehmen bezahlte Schlägertrupps und die berüchtigte Bereitschaftspolizei kommen zum Einsatz, wie unter anderem die Kairoer Busfahrer Mitte September erfahren mußten. »Streik stellt bislang kein Verbrechen dar«, erklärt ihrer Anführer Tarek Al-Beheiry, der drei Tage lang inhaftiert wurde. »Aber das Wort ist im offiziellen Sprachgebrauch zu einem Synonym für selbstsüchtiges und fehlgeleitetes Verhalten geworden, das zur Zerstörung des Staates führt.«

Einschüchtern lassen sich die Betroffenen davon immer weniger. Das bewiesen Ende Oktober Hunderte Hafenarbeiter, die in einen zweiwöchige Ausstand in dem nahe Suez gelegenen Touristengebiet Ain Sukhna zeigte. Indem sie einen der wichtigsten Häfen des Landes lahmlegten, zwangen sie den in Dubai beheimateten Hafenbetreiber DP World dazu, acht entlassene Kollegen wieder einzustellen. Der Kairoer Professor für Arbeitsrecht und ehemalige Arbeitsminister Ahmed Hassan Al-Boraj warnte angesichts der sich zuspitzenden Entwicklung auf einer Konferenz des Nationalen Wettbewerbsrates ENCC vor einer drohenden sozialen Revolution: »Ich habe schon vor einiger Zeit gesagt, daß die durch die Gewaltanwendung gegen streikende Arbeiter verursachte soziale Unruhe eines Tages eskalieren und zu einem Feuer werden könnte, das nicht mehr zu löschen ist.«

Bis es allerdings soweit ist, bedarf es von seiten der Arbeiterbewegung allerdings noch erheblicher organisatorischer Anstrengungen. Denn auch wenn die Gewerkschaftsverbände EFITU und der etwas moderatere EDLC 2,5 Millionen bzw. 500000 Mitglieder für sich reklamieren, sind sie noch weit davon entfernt, branchenweite oder gar branchenübergreifende Streiks organisieren zu können. Entscheidend sind noch immer die circa 1200 unabhängigen Betriebsgewerkschaften vor Ort. Kampfmaßnahmen sind daher zumeist auf die jeweilige Fabrik oder Einrichtung beschränkt. Fälle von Solidarität oder Vernetzung unter Lohnabhängigen verschiedener Betriebe oder Städte werden als Erfolgsstorys gefeiert. Immerhin haben sich im Zuge der Mobilisierung zu den beiden Großdemos Mitte Oktober die beiden unabhängigen Gewerkschaftsbünde sowie rund ein Dutzend Linksparteien zur »Nationalen Front für die Verteidigung der Arbeitsrechte und gewerkschaftlichen Freiheiten« zusammengeschlossen. EFITU und EDLC sprechen über sinnvolle Wege einer Fusion.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 06. November 2012


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