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Trüb wie die Wasser des Nils

Wahl in Ägypten vor dem Hintergrund unklarer Kompetenzen

Von Roland Etzel *

Nach der Annullierung der ägyptischen Parlamentswahl durch das Verfassungsgericht hat ein Zusammenschluss linksgerichteter und liberaler Gruppen die Armee der Konterrevolution bezichtigt. Heute und morgen soll in Ägypten ein neuer Präsident gewählt werden. Das wird wohl nicht mehr verhindert werden können - trotz anhaltender Proteste der rebellischen Jugend, die im vergangenen Jahr den pharaonenhaft drei Jahrzehnte lang auf Ägypten thronenden Präsidenten Husni Mubarak zu Fall gebracht hatte. Diese Jugend fühlt sich berechtigterweise hinters Licht geführt sieht, weil beide Stichwahlkandidaten nicht das repräsentieren, wofür sie demonstriert hat.

Vor allem Mubaraks letzten Ministerpräsidenten, Ahmed Schafik, wollte sie dort nicht sehen und baute dabei auf ein Gesetz, wonach Regierungsmitglieder der letzten zehn Mubarak-Jahre nicht wählbar sein sollten. Dieses Gesetz war am Donnerstag vom Verfassungsgerichtshof zumindest im Falle Schafiks für ungültig erklärt worden, und spätestens damit beginnt in der momentanen politischen Schlacht in und um Ägypten die große Unübersichtlichkeit.

Wer ist in Ägypten derzeit die oberste Instanz? Die Rechtslage ist trüb wie die Wasser des Nils. De facto regiert alles der Militärrat, der sich vor 16 Monaten selbst eingesetzt hat und noch nicht von seiner Zusage abgerückt ist, lediglich den geordneten Übergang zur Demokratie garantieren zu wollen. Anderes weist die Junta um Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi von sich. Jeder weiß daher, dass die Zulassung von Ex-General Schafik zur Stichwahl und die am selben Tag vom Verfassungsgerichtshof verfügte Teilneuwahl des Parlaments nur eine Idee aus dem Militärrat sein kann.

Die linken und liberalen Kräfte lassen ihrem Argwohn in dieser Hinsicht freien Lauf. Für sie ist das alles ein »konterrevolutionäres Szenario«, bei dem sich eines zum anderen geselle und stets zum Nachteil jener politischen Kräfte, die unter Mubarak unterdrückt waren. So steht es in einem am Freitag veröffentlichten Papier von sechs politischen Vereinigungen, die sich als links bzw. liberal respektive nicht islamisch ausgerichtet bezeichnen. Da der Militärrat voriges Jahr die bis dahin geltende Verfassung außer Kraft setzte - nicht zuletzt um seine Machtergreifung zu legitimieren -, sehen sie auch keine Berechtigung für einen Verfassungsgerichtshof und halten dessen Verfügungen folglich für gegenstandslos. Klar ist allein, dass selbst den ägyptischen Behörden die Rechtslage völlig unklar ist.

In dieser Hinsicht sehen sich die Linken selbst mit den ungeliebten Muslimbrüdern einer Meinung, die die faktische Annullierung der Parlamentswahl vor einem halben Jahr als Frontalangriff auf ihre dort errungene Mehrheit verstehen. Scharf wird von Linken und Jugendverbänden aber auch die Bekanntmachung der Regierung kritisiert, dass Geheimdienst und Militärpolizei jetzt wieder erlaubt sei, Zivilisten auf offener Straße zu verhaften und zu verschleppen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 16. Juni 2012


Ägyptens Volksgeneräle

Von Roland Etzel **

Die ägyptischen Generäle haben sich vergaloppiert. Die Sprüche des Verfassungsgerichtshofes erkennen sie offenbar an. Aber sie selbst hatten ihm 2011 per Verfügung ihres Militärrates die Legitimität entzogen. Da sie das Urteil des Hofes anerkennen, haben sie es mit ziemlicher Sicherheit dort selbst auf den Weg gebracht. Das war mindestens grob fahrlässig und hat ihre Freunde im Weißen Haus wieder mal in einige Erklärungsnot gebracht. Nun ist es noch ein bisschen schwieriger geworden, die einstigen Bundesgenossen und Erben Mubaraks als Hüter des demokratischen Wandels in Ägypten zu preisen.

Bei Feldmarschall Tantawi und Co. muss man sich allerdings nicht wundern. Jahrzehntelang haben sie sich niemals darum kümmern müssen, was in der Verfassung stand. Und nachdem sie sich entschieden hatten, ihrem Pharao Mubarak ein Cäsaren-Schicksal zu bescheren, wenn auch nur, um weiter den Platz an den Fleischtöpfen besetzen zu können, wurde ihnen dennoch von der Mehrheit der Ägypter höchste Anerkennung zuteil. Das verführte offenbar zu Leichtfertigkeit.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 16. Juni 2012 (Kommentar)


Proteste nach Parlamentsauflösung

Ägypten: Stichwahl um Präsidentschaft beginnt. Putschvorwürfe gegen Militärrat ***

Kurz vor der am Samstag beginnenden Stichwahl um das Präsidentenamt drohte Ägypten wieder in die Instabilität der vergangenen Monaten zurückzurutschen. Nachdem das Verfassungsgericht am Donnerstag die Parlamentswahl annulliert und die Abgeordneten nach Hause geschickt hatte, war es im ganzen Land zu neuen Protesten gekommen. Auch am Freitag blieb die Lage angespannt. Die islamistische Muslimbruderschaft sprach von einem »vollwertigen Staatsstreich« des Militärrats, zumal das Gericht auch die Kandidatur von Mubaraks einstigem Ministerpräsidenten Ahmed Schafik bei der Stichwahl bestätigt hatte. Dieser darf damit gegen den Muslimbruder Mohammed Mursi antreten, der erklärte, die Entscheidung der Richter akzeptieren zu wollen.

Die erste Parlamentswahl seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Hosni Mubarak im Februar 2011 hatte im vergangenen November begonnen und sich über einen Zeitraum von drei Monaten hingezogen. Ein Drittel der Sitze war dabei für unabhängige Kandidaten reserviert, trotzdem hatten sich auch Parteimitglieder beworben. Nach Ansicht des Gerichts wurde damit gegen den Grundsatz der Gleichstellung verstoßen, die gesamte Zusammensetzung des Parlaments sei also illegal. Folglich müßten Neuwahlen angesetzt werden, sagte Richter Maher Sami Jussef.

»Das ist das Ägypten, das Schafik und der Militärrat wollen und das wir nicht akzeptieren werden, egal wie hoch der Preis sein mag«, kritisierte Mohammed Al-Beltagi, ein ranghoher Abgeordneter der Muslimbruderschaft, das Urteil. Vor allem für seine Partei ist die Parlamentsauflösung ein schwerer Schlag. Sie hatte fast die Hälfte der Sitze gewonnen. Ein ähnlicher Erfolg bei einer Neuwahl gilt als unwahrscheinlich. In den zurückliegenden Monaten erweckte sie aus der Sicht vieler Ägypter den Eindruck einer machthungrigen Gruppe, die mehr mit sich selbst als mit den Problemen der Nation beschäftigt sei. (dapd/jW)

*** Aus: junge Welt, Samstag, 16. Juni 2012


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