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Wenn Schafik gewinnt, sind wir tot

Akteure der ägyptischen Revolution unzufrieden mit Wahlausgang

Von Miriam Nicolai *

Schon aus den Überschriften der liberalen Zeitungen Ägyptens spricht das Entsetzen: Einen »Albtraum« nennen sie das Ergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen.

Am Montagnachmittag gab das Oberste Wahlkomitee Ägyptens die Ergebnisse der Abstimmung bekannt, die am Mittwoch und Donnerstag stattgefunden hatte: In einer Stichwahl am 16. und 17. Juni werden Mohamed Mursi und Ahmed Schafik gegeneinander antreten, also der Kandidat der Muslimbrüder gegen den letzten Premierminister des gestürzten Präsidenten Husni Mubarak. Mursi erhielt demnach knapp 25 Prozent der Stimmen, Schafik 24 Prozent.

In Kairo und anderen Städten brachen nach der Bekanntgabe der Ergebnisse Proteste aus. Tausende versammelten sich auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos. Am Abend hatten Unbekannte, vermutlich Mitglieder der Revolutionsbewegung, an der Wahlkampfzentrale Schafiks im Kairoer Stadtteil Dokki Feuer gelegt.

»Ich habe nicht mein Leben auf dem Tahrir-Platz riskiert, damit der Luftfahrtminister den Präsidenten ablöst«, schrieb einer im Internet. Luftwaffen-General Shafiq war unter Mubarak zehn Jahre lang Minister für Luftfahrt. Dass Mursi unter den beiden Kandidaten fürs Präsidentenamt sein würde, galt als wahrscheinlich: Mit den Muslimbrüdern hat er eine große und gut organisierte Organisation hinter sich. Bei den Parlamentswahlen im Dezember hatten die Muslimbrüder rund 45 Prozent der Stimmen gewonnen. Schafiks zweiter Platz hingegen war nicht erwartet worden. Noch vor wenigen Wochen lag er in Umfragen weit hinten. Im Internet kursieren Bilder von Stapeln von Ausweisen, offenbar waren zahlreiche Tote in den Verzeichnissen vertreten, andere Namen tauchten bis zu 50-fach auf.

Unterlegene Kandidaten hatten am Wochenende Beschwerde wegen Wahlbetrugs eingereicht. Sie werfen dem regierenden Militärrat unter anderem vor, dass eine Million Polizisten aufgefordert worden seien, für Schafik zu stimmen, ebenso Millionen Soldaten und Wehrdienstleistende. Das Wahlkomitee wies die Beschwerden am Montag zurück.

Obwohl ein Gesetz Mitgliedern des Mubarak-Regimes verbietet, für öffentliche Ämter zu kandidieren, war Schafik zur Wahl zugelassen worden. Er gilt als enger Vertrauter Mubaraks und hat diesen erst vor wenigen Tagen »sein Vorbild« genannt. Auf dem Höhepunkt der Revolution, am 29. Januar 2011, ernannte ihn Mubarak zum Premier. Er blieb auch nach Mubaraks Sturz im Amt, musste erst nach Protesten wenige Wochen später zurücktreten.

Schafik ist der Kandidat des Militärs - und die Horrorvision der Revolutionsbewegung, die der Militärrat seit Monaten zu zerschlagen versucht. Als er nach dem Bekanntwerden der Wahlergebnisse eine Pressekonferenz gab, war sein erster Satz: »Die Revolution ist vorbei.« Bei der Demonstration am Montagabend trug ein Demonstrant ein Schild, auf dem stand: »Wenn Schafik gewinnt, sind wir alle tot.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 30. Mai 2012


Proteste in Kairo nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses **

Kairo. Das Ergebnis der ägyptischen Präsidentenwahl hat am Montag abend in Kairo zu verschiedenen Protestaktionen geführt. In der Innenstadt der ägyptischen Hauptstadt versammelten sich Tausende Menschen zu einer Kundgebung auf dem Tahrir-Platz (Foto), die sich sowohl gegen den regierenden Militärrat als auch gegen die beiden sich in einer Stichwahl gegenüberstehenden Politiker richtete. Dabei handelt es sich um den letzten Ministerpräsidenten des gestürzten Regimes und Mubarak-Vertrauten Ahmed Schafik und den Kandidaten der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi. »Es kann nicht sein, daß wir nur zwischen einem religiösen Staat und einem autokratischen Staat wählen dürfen. Dann haben wir nichts erreicht«, sagte der 35jährige Ahmed Bassiuni auf dem Tahrir-Platz – an dem Ort, an dem mit Massenprotesten vor mehr als einem Jahr der Sturz des langjährigen Staatschefs Hosni Mubarak eingeleitet wurde.

In einem wohlhabenden Viertel der ägyptischen Hauptstadt zogen junge Menschen vor Schafiks Büro. Wie Sicherheitskräfte und Augenzeugen berichteten, warfen die Angreifer Fenster ein, schleuderten Wahlmaterial aus dem Fenster und zerrissen Wahlplakate, bevor sie schließlich ein Feuer legten. Acht Menschen wurden festgenommen.

Nachdem das Feuer gelöscht war und die Polizei das Gelände gesichert hatte, versammelten sich Anhänger Schafiks vor dem Büro. »Die Muslimbrüder sind Feinde Gottes«, riefen sie in Sprechchören und hielten Bilder ihres Kandidaten hoch.

In der nördlichen Metropole Alexandria, einer Hochburg des in der ersten Wahlrunde drittplatzierten linksgerichteten Kandidaten Hamdin Sabahi, rissen Demonstranten große Plakate sowohl von Schafik als auch von Mursi herunter und setzten sie in Brand. Auch in den Provinzen Dakahlija und Mansura im Nildelta kam es zu Protesten.

Mursi erhielt dem offiziellen Ergebnis zufolge 5,76 Millionen Stimmen oder rund 25 Prozent. Schafik folgte mit 5,5 Millionen Stimmen. Die Stichwahl ist für den 16. und 17. Juni geplant.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 30. Mai 2012


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