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"Eine Intervention in Libyen wird klar abgelehnt"

EU-Abgeordneter Helmut Scholz zu seinen Gesprächen in Ägypten *


Der EU-Abgeordnete Helmut Scholz (LINKE) beobachtete am Wochenende das Verfassungsreferendum in Ägypten. Gemeinsam mit Vertretern nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments führte er Gespräche unter anderem mit Repräsentanten des Bündnisses Jugendkoalition, der Kräfte wie die Baradei-Kampagne und die Linkspartei angehören, der Ägyptischen Bewegung für Wandel, Präsidentschaftskandidaten, der Muslimbruderschaft und von Nichtregierungsorganisation sowie mit Botschaftern von EU-Staaten. Mit dem Europaabgeordneten sprach für das Neue Deutschland (ND) Uwe Sattler.

ND: Sie waren während des Beginns der Angriffe auf Libyen in Kairo. Wie waren die Reaktionen in Ägypten auf den Krieg?

Scholz: Quer durch das Spektrum der politischen Kräfte, von links bis rechts und durch alle Religionen, wurde der UN-Beschluss über die Einrichtung einer Flugverbotszone unterstützt. Von der internationalen Gemeinschaft war eine klare Positionierung gegen das Gaddafi-Regime und für die Bestrebungen des libyschen Volkes nach Demokratie und freier Meinungsäußerung erwartet worden. Zugleich aber wurde eine weitere Intervention des Westens in der Region und insbesondere ein dauerhaftes Festsetzen ausländischer Truppen in Libyen und anderen Staaten klar abgelehnt.

Lassen sich die Entwicklungen in Ägypten und Libyen miteinander vergleichen?

Die Situation in Libyen kenne ich nur von außen. In Ägypten gab es eine breite, vom überwiegenden Teil der Bevölkerung getragene Demokratisierungsbewegung, in der vor allem die jungen Menschen gesagt haben: »Es reicht, wir wollen uns um unser Land und unsere Zukunft selbst kümmern.« Danach sind die politischen Parteien und andere Kräfte, wie die Gewerkschaften, auf den Zug aufgesprungen. Die Forderung nach einem neuen Ägypten wird heute von breitesten Bevölkerungskreisen getragen. Ob dies in Libyen ähnlich ist, lässt sich schwer sagen.

Sie haben in Ägypten das Verfassungsreferendum beobachtet. Wie wurde diese erste demokratische Entscheidung seit Jahrzehnten aufgenommen?

Es war beeindruckend und für mich auch emotional bewegend, wie stark diese Möglichkeit der Bevölkerungsmitsprache wahrgenommen wurde. Der Andrang in den Stimmlokalen war enorm, es gab Kundgebungen, Debatten zwischen den Anhängern von Ja und Nein zu den Verfassungsänderungen. Allein das ist schon ein Zeichen dafür, dass die Demokratisierung Fuß fasst. Übereinstimmend ist man aber der Meinung, dass das Referendum allein noch keine Garantie für die Fortsetzung dieses Prozesses ist.

Einige Beobachter sind der Ansicht, die Zeit bis zu den Wahlen wird nicht reichen, um eine funktionierende Parteienlandschaft zu schaffen. Wie ist der Stand bei der Festigung der Zivilgesellschaft?

Wir konnten uns davon überzeugen, dass gerade die jungen Menschen den festen Willen haben, sich die bisherigen Früchte der Demokratisierungsbewegung nicht wegnehmen zu lassen, und diesen Prozess zu verstetigen. Diskutiert wird noch die Form, wie dies geschehen soll. Beispielsweise durch die Schaffung einer neuen großen Kraft, die diese Entwicklung trägt, oder eine weite Parteienlandschaft, deren Akteure in politischer und religiöser Hinsicht vielfältig sind. Klar ist man sich dagegen über die Bereiche, die reformiert werden müssen: das Bildungswesen, die Wirtschaft muss wieder aufgebaut und die Korruption beendet, die Außenpolitik des Landes neu gestaltet werden.

Betrifft dies auch die Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt?

Alle unsere Gesprächspartner – mit Abstrichen auch die Muslimbruderschaft – haben grundsätzlich betont, sie wollten an den Festlegungen von Camp David festhalten und die Aussöhnung zwischen Palästinensern und Israelis unterstützen. Gefordert, insbesondere von den Präsidentschaftskandidaten, wird die Aufhebung der israelischen Gaza-Blockade und die Öffnung des Grenzübergangs Rafah zu Ägypten, um den Schmuggel zu unterbinden. Allerdings wird betont, dass sich auch Israel an die Vorgaben des Camp-David-Abkommens halten muss.

Welche Partner sehen die europäische und die deutsche Linke in Ägypten?

Wenn man links als Unterstützung der Demokratisierung, als Kampf für soziale Gerechtigkeit und die Schaffung von Arbeitsplätzen versteht, gibt es zahlreiche Kräfte, die dieses Kriterium erfüllen. Hinzu kommen neue progressive Gruppierungen, die in den vergangenen Wochen entstanden sind. Wir als europäische Linke müssen all diesen Kräften Hilfe und Unterstützung anbieten. Wobei es aber nicht darum gehen kann, ihnen unser Verständnis von Parteiendemokratie und westliche Gesellschaftsstrukturen aufzudrängen.

Was erwarten diese Partner konkret?

Vor allem Unterstützung bei der Festigung der Zivilgesellschaft, das heißt politische Bildung, die Vermittlung von Erfahrungen bei der Transformation von Gesellschaften. Das heißt auch, auf die europäischen Regierungen Einfluss zu nehmen, um nicht abermals Beziehungen zu den neuen Führungen in Nordafrika aufzubauen, die einseitig von westeuropäischen Wertevorstellungen und Interessen dominiert sind.

Auch die Forderung, die Schulden des Mubarak-Regimes zu streichen, wurde mehrfach an uns herangetragen. Insgesamt hat sich die EU mit ihrer bisherigen Politik der Unterstützung von Despoten diskreditiert. Das kann und muss man nun ändern, Europa hat eine neue Chance.

* Aus: Neues Deutschland, 22. März 2011


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