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Ägypten im Umbruch: Ein neuer Präsident wurde vereidigt, sein Vorgänger festgesetzt

Ob Putsch, Umsturz oder Machtwechsel – Hoffnung auf demokratischen Wandel bleibt. Mehrere Beiträge und Kommentare

Adli Mansur folgt auf Mohammed Mursi. Am Donnerstag wurde der bisherige Präsident des Verfassungsgerichtshofes als Ägyptens Präsident vereidigt. Mansur soll an der Spitze einer überparteilichen Übergangsregierung stehen, Präsidenten- und Parlamentswahlen vorbereiten. Die islamistisch geprägte Verfassung wurde ausgesetzt. Sie soll überarbeitet und zur Volksabstimmung vorgelegt werden, wie Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi in einer Fernsehansprache am Vorabend ankündigte.

Der bisherige Präsident Mohammed Mursi war nach mehrtägigen Massenprotesten und einem Ultimatum der Armeeführung am Mittwochabend vom Militär entmachtet und festgesetzt worden. Er klagte an: »klarer Militärputsch«. Auch der Chef der islamistischen Muslimbrüder Mohammed Badie wurde am Donnerstag in der westlichen Stadt Marsa Matruh festgenommen. Ihm werde »Anstiftung zur Tötung von Demonstranten« vorgeworfen, informierten Sicherheitsdienste. Badie und sein Stellvertreter Chairat al-Schater sollen tödliche Zusammenstöße zwischen Anhängern und Gegnern Mursis am Sonntag vor dem Hauptsitz der Muslimbrüder, aus deren Bewegung auch Mursi kommt, in Kairo provoziert haben. Zuvor wurden bereits der Chef der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, Saad al-Katatni, sowie ein Vizechef der Muslimbrüder, Raschad Bajumi, verhaftet.

Mit großem Jubel und einem Freudenfeuerwerk bis tief in die Nacht war der Machtwechsel von Hunderttausenden Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo begleitet worden. Der ägyptische Aktienindex EGX 30 machte mit und sprang ungewohnte 7,4 Prozent hoch.

Trauer und Empörung herrschte bei den Anhängern des gestürzten Mursi. Sie skandierten im Stadtteil Nasr City: »Nein zur Militärregierung!« Bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften und Krawallen sollen in der Nacht mindestens zehn Menschen getötet und 500 Menschen verletzt worden sein.

US-Präsident Barack Obama zeigte sich noch in der Nacht »zutiefst besorgt«. Er forderte das ägyptische Militär auf, so schnell wie möglich die volle Macht an eine demokratisch gewählte Regierung zurückzugeben. In der Region kam das erste Glückwunschtelegramm eines Staatschefs vom saudiarabischen König Abdullah. Auch Palästinenserpräsident Mahmud Abbas gratulierte und lobte ausdrücklich das Eingreifen der Armee.

Die Regierung der Türkei nannte die Ereignisse »extrem besorgniserregend«. Für Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) war das Eingreifen der Armee »ein schwerer Rückschlag für die Demokratie«. Sein Amt erklärte aber Reisen in die Urlaubsgebiete am Roten Meer sowie die Touristenzentren Luxor und Assuan für unbedenklich. Das Oberhaupt der koptisch-orthodoxen Christen in Deutschland, Bischof Anba Damian, sah Hoffnung für das Land.

Auf Sorge und Verständnis stießen die Ereignisse bei deutschen Parteien. Die LINKE zeigte sich uneins, wie das Eingreifen des Militärs zu bewerten sei. Union, SPD, Grüne, FDP und Linkspartei forderten gleichermaßen die rasche Übergabe der Macht vom Militär an eine gewählte Zivilregierung.

Besorgt äußerte die Organisation Reporter ohne Grenzen, »es wäre eine traurige Ironie, wenn die Pressefreiheit zum ersten Opfer des Machtwechsels würde«. Unmittelbar nach dem Sturz Mursis waren mehrere Fernsehsender abgeschaltet worden, darunter »Misr25« der Muslimbruderschaft.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 5. Juli 2013


Bejubelter Putsch

Ägyptens Militär stürzt Präsident Mohammed Mursi. Verfassungsrichter Mansur neuer Staatschef. Freude in Kairo, Verständnis bei CDU, Grünen und Linken, Kritik von Westerwelle

Von André Scheer **


Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi steht Ägypten wieder vor einer unsicheren Zukunft. Das Militär hatte den islamistischen Staatschef am Mittwoch abend für abgesetzt erklärt und damit für einen Freudenausbruch der Hunderttausenden Demonstranten auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos gesorgt. In anderen Teilen der Stadt gingen demgegenüber Anhänger Mursis und von dessen Muslimbruderschaft auf die Straße, um gegen den Putsch zu protestieren. Bei Zusammenstößen zwischen empörten Demonstranten und Sicherheitskräften wurden Medienberichten zufolge mindestens 14 Menschen getötet.

Gegen 19 Uhr war Armeechef Abdel Fatah Al-Sisi vor die Fernsehkameras getreten und hatte die Absetzung des Staatschefs und eine zeitweilige Suspendierung der Verfassung verkündet. Der Präsident des Obersten Verfassungsgerichts, Adli Mansur, solle bis zur Wahl eines neuen Präsidenten die Amtsgeschäfte des Staatschefs führen und dürfe »Verfassungsdeklarationen« abgeben. Dieser legte am Donnerstag den Amtseid ab und schwor, »die Verfassung zu respektieren«. Die Übergangsregierung soll nach dem Willen des Militärs aus »nationalen, starken, fähigen Experten« bestehen. Namen wurden offiziell noch nicht genannt, als Kabinettschef gehandelt wurde jedoch der Oppositionspolitiker Mohammed ElBaradei. Dieser sei »unsere erste Wahl«, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag einen Gewährsmann aus dem Umfeld des Oberkommandos. »Er ist international bekannt, kommt bei den jungen Leuten gut an und glaubt an eine Demokratie, die alle politischen Kräfte einschließt.«

Im Ausland wurde die Lage in Ägypten am Donnerstag mit Sorge beobachtet. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP), der den Putsch durch das Militär in Honduras vor vier Jahren verteidigt hatte, wertete den jetzigen Sturz des ägyptischen Präsidenten als »schweren Rückschlag für die Demokratie«. Bundespolitiker anderer Parteien zeigten sich hingegen verständnisvoll. Zwar sei ein Putsch gegen einen gewählten Präsidenten »ein äußerst fragwürdiger Vorgang«, erklärte etwa Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin am Donnerstag in Berlin. Allerdings trage Mursi durch den Versuch, »die ägyptische Gesellschaft zu islamisieren und zu spalten« selbst die Verantwortung für die Massenproteste. Der CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder bezeichnete Mursi im Deutschlandfunk als »radikalen gefährlichen Antisemiten«. Zwar sei es »grundsätzlich nicht richtig«, demokratisch gewählte Präsidenten abzusetzen. Im Falle Ägyptens sei die Alternative aber eine Eskalation bis zum Bürgerkrieg gewesen. Der Linken-Abgeordnete Jan van Aken warf Mursi vor, die Hoffnungen auf einen demokratischen Neuanfang enttäuscht zu haben.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International rief die Armee auf, die Sicherheit aller Ägypter zu gewährleisten. »Die Lage ist äußerst angespannt, und es gibt begründete Sorge, daß es zu Repressalien und Racheakten kommt«, sagt Ägypten-Expertin Alexia Knappmann. In den vergangenen Tagen hätten Amnesty-Mitarbeiter in Ägypten zahlreiche Menschenrechtsverletzungen sowohl von Mursi-Anhängern als auch von dessen Gegnern und von Sicherheitskräften festgestellt. Unter anderem dokumentierten sie zahlreiche Vergewaltigungen von Frauen.

** Aus: junge Welt, Freitag, 5. Juli 2013


Kairo jubelt

Der Druck der Straße erzwingt in Ägypten die zweite Revolution in zwei Jahren. Freudentänze aber auch Sorgen auf dem Tahrir

Von Sofian Philip Naceur, Kairo ***


Das ist der 19. Tag der Revolution und kein Staatsstreich, wie die westliche Presse behauptet«, sagt ein junger Mann am Mittwoch auf dem Tahrir-Platz in Kairo und spielt auf die Parallelen an, die ohnehin kaum zu übersehen sind. 18 Tage hatte Ägyptens Revolution im Januar und Februar 2011 gedauert, 18 Tage geprägt von Massenprotesten, vor allem in Kairo, aber auch in Suez und anderen Städten – 18 lange Tage bis zum Sturz des verhaßten Despoten Hosni Mubarak. Der 19. Tag, von dem der Mann spricht, steht für die Fortsetzung dieser Revolution. Da stört auch nicht, daß es eigentlich vier Protestnächte waren, die den erst seit einem Jahr regierenden Präsidenten Mohammed Mursi zu Fall brachten. Denn die Hauptakteure waren die gleichen: Die Ägypter, die erneut zu Millionen auf die Straßen zogen und vehement Mursis Rücktritt forderten, und die Armee. Am Mittwoch abend setzten die Militärs die von den Islamisten im Herbst durchgepeitschte Verfassung außer Kraft und stellten Mursi unter Hausarrest. »Amtlich hat die Armee Mursi abgesetzt, doch Ägyptens Bevölkerung hat sie mit ihrer Machtdemonstration vom Sonntag dazu gezwungen«, sagt der junge Demonstrant am Tahrir-Platz, der erneut einer der wichtigsten Schauplätze des Aufstandes gegen die Staatsführung war. Nachdem die Militärführung am Montag Regierung und Opposition ein 48stündiges Ultimatum zur Lösung der Krise gestellt hatte, verfolgte das ganze Land mit Spannung die Fernsehansprache Mursis am Dienstag abend. Gebetsmühlenartig betonte der, daß er der demokratisch gewählte und legitime Präsident des Landes sei und lobte wieder und wieder die neue Verfassung. Doch Mursi wirkte angespannt und nervös. Trotz seiner Appelle an die Armee, das Ultimatum zurückzuziehen, hatte das Militär für Mittwoch abend eine Ansprache angekündigt. Sie sollte das Ende seiner Präsidentschaft besiegeln.

Mittwoch früh ist das für die Anhänger der Opposition noch ein Traum, wenn auch einer, an den sie glauben. Schon am Morgen ziehen Hunderttausende durch die Straßen und versammeln sich zu Kundgebungen. Die Nationalflagge, ein Symbol der Revolution von 2011, ist allgegenwärtig. Vor dem Verteidigungsministerium in Koubry Al-Qubba halten die Menschen Bilder von Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi in die Höhe. »Vorwärts Al-Sisi« und »Mein Geliebter Al-Sisi« skandieren sie lautstark. Der so Verehrte ist gleichzeitig Chef der Armee, auf der die Hoffnungen unzähliger Menschen ruhen. Sie hat die Macht, den verhaßten Präsidenten in die Wüste zu schicken. Vergessen scheint die autokratische Herrschaft des Obersten Militärrates, der nach dem Sturz Mubaraks übergangsweise das Land regierte, bis Mursi sein Amt als Präsident antrat. Die Armee handelt geschickt. Trotz der Ankündigung, die Sicherheitsvorkehrungen vor staatlichen Gebäuden zu verstärken und expliziter Warnungen an die Demonstranten, sich nicht an bestimmten Orten zu versammeln, halten sich Armee und Polizei im Hintergrund. Die Militärhelikopter, die pausenlos über Kairo kreisen, werden am Tahrir und am Präsidentenpalast in Heliopolis, einem weiteren zentralen Punkt der Massenproteste, immer wieder mit frenetischem Jubel begrüßt. Vor dem Hauptsitz der Republikanischen Garden, einer Sonderdivision der Armee, die für die militärische Verteidigung der Hauptstadt zuständig ist, tanzen die Menschen. Applaus brandet auf, als ein Soldat am Eingangs­portal die ägyptische Fahne in das Kanonenrohr eines dahinter geparkten Panzers steckt. Soldaten verteilen Wasserflaschen an die Demonstranten, von Nervosität keine Spur. Von einem Balkon eines nahe gelegenen Wohnhauses läßt sich das gesamte Areal der Streitkräfte überblicken. Einige Soldaten sitzen dort gelangweilt auf einer Mauer hinter dem Zugangstor, Bewaffnete sind nicht zu sehen.

Hunderttausende Menschen strömen schließlich am frühen Abend zum Amtssitz des Präsidenten und warten auf offizielle Informationen der Armee. Alle Zufahrtsstraßen sind verstopft, die Stimmung ist ausgelassen, bis es plötzlich still wird. Menschentrauben bilden sich vor Geschäften und Restaurants, in denen der Fernseher läuft. Stumm stehen die Leute um Autos, in denen die Radios laut gestellt werden. Aus den Boxen ist Verteidigungsminister Al-Sisi zu hören, der die Aussetzung der Verfassung und die Einsetzung von Adli Mansur, dem Vorsitzenden des Obersten Verfassungsgerichtes, zum Interimspräsidenten verkündet. Der Rest ist nicht enden wollender Jubel.

Es gibt kein Halten mehr, der Druck der Straße hat einmal mehr die Geschichte des Landes umgeschrieben. Was danach kommen möge, das scheint hier zunächst unwichtig. Hupkonzerte und laute Musik ertönen aus allen Richtungen, die Stadt versinkt in einer riesigen Party, die die ganze Nacht hindurch andauern wird. »Mursi, wir bringen dich wieder in den Knast«, singt eine Arm in Arm tanzende Gruppe von jungen Männern. Nachdenkliche Stimmen sind rar geworden, doch es gibt sie noch. Anwar Hanfy, ein Ingenieur aus dem Norden Kairos und scharfer Kritiker des geschaßten Präsidenten, blickt sorgenvoll auf sein Telefon. Er hat Freunde, die die Muslimbrüder unterstützen. »Ich habe Angst vor dem Blutbad heute Nacht, die Muslimbrüder werden Sturm laufen, es wird Zusammenstöße geben, entweder zwischen Anhängern und Gegnern Mursis oder die Sicherheitskräfte werden Proteste von Mursis Gefolgschaft niederschlagen«, sagt er. Seine Sorgen bestätigen sich. 14 Menschen sterben nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters allein in der Nacht zu Donnerstag bei den Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Anhängern, Opposi­tion und Militär.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 5. Juli 2013


Überleben mit einem Dollar am Tag

Mursis Politik ist nicht schuld an der Wirtschaftsmisere, aber er hatte nicht einmal das Problem erkannt

Von Roland Etzel ****


Ägyptens Wirtschaft leidet seit den revolutionären Stürmen unter schwerer Grippe. Abhilfe in kaum Sicht, denn der Patient ist chronisch krank.

Mohammed Mursi war am Ende nur ein Jahr und drei Tage Ägyptens Präsident. Er hat nicht mit eiserner Hand regiert wie seine Vorgänger, nicht die arabische Seele gedemütigt wie Anwar al-Sadat, sich nicht in schamloser Weise bereichert wie Hosni Mubarak und dessen Familie. Dennoch verlief sein Absturz im Ansehen der Bürger dramatisch schnell. Warum?

Bei der Ursachensuche kommt man auf zahlreiche politische Fehler, infolge derer sich die Muslimbrüder und ihr Exponent Mursi unbeliebt machten. Vergessen wird bei politischen Erörterungen aber häufig jene Frage, die noch immer 'zig Millionen Ägypter zuallererst interessiert: Wovon werde ich morgen mein Essen bezahlen?

Wenn man zuhörte, was Demonstranten antworteten, warum sie auf der Straße sind, hieß die Antwort nicht selten: »Weil es uns immer schlechter geht.« Und das war mit Sicherheit kein gefühlter, sondern sehr wörtlich zu nehmender Unmut. Die wirtschaftliche Lage des Nillandes ist seit Jahrzehnten niemals entspannt gewesen, auch ohne Krieg mit Israel; der letzte ist im Oktober 40 Jahre her.

Ägypten hat eine schnell wachsende Bevölkerung von inzwischen über 80 Millionen Einwohnern. Aber höchstens drei Prozent der Landesfläche sind landwirtschaftlich nutzbar. Folglich muss immer mehr für Lebensmittelimporte ausgegeben werden – Geld, das Ägypten einfach nicht hat. Es ist auf Darlehen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Haushaltszuschüsse anderer Staaten angewiesen.

Sehr erschwerend hinzu kam nun, dass in den vergangenen zwei Jahren traditionelle Einkommensquellen erhebliche Einbußen hinzunehmen hatten, zum Beispiel der Tourismus, neben dem Suezkanal bisher der einzige stabile Devisenzufluss.

Zwar sind bei den Demonstrationen im Februar 2011, die zum Sturz Mubaraks führten, und in der Folgezeit keinerlei Touristen zu Schaden gekommen, dennoch wurden sie offenbar abgeschreckt. 2011 und 2012 kamen jeweils 30 Prozent weniger zahlende Gäste, ein Verlust von schätzungsweise sechs bis sieben Milliarden Dollar.

Nach Angaben der Kairoer Einreisebehörde waren 2010 rund 14,7 Millionen Ausländer nach Ägypten gekommen. In den Folgejahren blieb die Zahl unter zehn Millionen. Von denen und dem Geld, das sie in Ägypten ausgeben, aber leben Millionen entlang des Nils zwischen Alexandria und Assuan sowie in den Touristikzentren am Roten Meer. In der volkswirtschaftlichen Statistik schlägt sich das erbarmungslos nieder: 2010 mussten 22 Prozent aller Ägypter mit maximal einem Dollar pro Tag auskommen; ein Jahr später waren es 25 Prozent und 2012 bereits fast 30 Prozent.

Es wäre unangebracht, die Schuld dafür den Muslimbrüdern in die Schuhe zu schieben, aber sie haben sich dieser Situation gegenüber ausgesprochen unsensibel erwiesen. Anstatt alles zu tun, um Vertrauen aufzubauen, hatte Mursi für die Region Luxor, die fast ausschließlich vom Altertumstourismus lebt, Ende Juni einen neuen Gouverneur ernannt, der der Partei Aufbau und Entwicklung angehört. Das ist der politische Arm jener islamisch-fundamentalistischen Gruppe, die in den 1990er Jahren wiederholt Touristen attackierte. In die Verantwortung der Gama'a Islamiya fiel auch der Feuerüberfall von 1997 nahe dem Hatschepsut-Tempel, dem 58 Touristen zum Opfer fielen. Auch Ankündigungen von Alkoholverboten und Kleidervorschriften mögen aus Sicht der Muslimbrüder verständlich erscheinen, geschäftsfördernd sind sie nicht.

Zu Jahresbeginn reiste eine IWF-Delegation nach Kairo, um neue ägyptische Kreditwünsche zu erörtern. Einigen konnte man sich offenbar nicht. Mursi hat sich wohl auch verspekuliert und auf falsche Freunde vertraut. Speziell aus Katar und Saudi-Arabien hatte er viel Beifall für seine markigen Rücktrittsforderungen gegenüber Syriens Präsident Baschar al-Assad erhalten. Der Dank in Form von petrodollargestützten Darlehen, zu denen beide Staaten locker in der Lage wären, ist aber so gut wie ausgeblieben.

Ob die Hoffnung der Ägypter auf Besserung ihrer Lage sich nun bald oder überhaupt erfüllt, steht allerdings dahin.

**** Aus: neues deutschland, Freitag, 5. Juli 2013


Guter, schlechter Putsch

Die LINKE und der Machtwechsel am Nil

Als erster, der Machtwechsel in Ägypten war noch im Gange, reagierte am Mittwochabend Stefan Liebich. Der Bundestagsabgeordnete und Außenpolitiker meinte, »bei allem was in Ägypten unter Mursi schlecht lief: Ein Militärputsch ist die falsche Antwort.« Er finde es nicht richtig, dass »Generäle entscheiden, wann und wie ein gewählter Präsident abtritt«. Sein Fraktionskollege Niema Movassat beglückwünschte die Ägypter zwar, fand jedoch ebenso, dass ein Eingreifen des Militärs »nicht die Lösung« sei.

Die LINKE-Politikerin Sabine Leidig meinte indes, »nicht das Militär hat Mursi gestürzt, sondern Millionen Menschen auf den Straßen« hätten dies friedlich getan. Auch der Attac-Aktivist und Ägypten-Kenner Pedram Shahyar kritisierte, das in den Medien dominierende Bild vom Militärputsch werde dem Charakter der Ereignisse nicht gerecht: »Die Armee schritt ein, um die Forderung der überwältigenden aktiven Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.«

Der Landeschef der LINKEN in Berlin, Klaus Lederer, sagte, dass es ihm schwer falle, »die Ereignisse in Ägypten nach hiesigen Maßstäben zu messen. Als Antimilitarist sehe ich den Machtfaktor Armee grundsätzlich sehr kritisch, das Militär war selten mehr als autoritär, aber eben in der Geschichte auch schon mal ein Katalysator für die Option demokratischer Entwicklungsprozesse«. Mit »gemischten Gefühlen« beobachtet auch der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion und Parteivize Jan van Aken die Ereignisse in Ägypten. »Es ist immer ein Problem, wenn das Militär die Macht übernimmt.«




Kann Revolution süchtig machen?

In Kairo überwiegt die Euphorie, in Städten und Dörfern außerhalb der Nil-Metropole die Furcht

Von Oliver Eberhardt, Kairo *****


Am Tag nach der Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi herrscht in Kairo Euphorie. Doch trotz aller Einheit der Protestbewegung: Das Land befindet sich in einer schwierigen Lage. Die Wirtschaft ist am Boden, Ägypten weiter gespalten. Und die Zukunft ungewiss.

Kann Revolution süchtig machen? Die Menschen, jung und alt, Männer, Frauen, die an diesem Donnerstagnachmittag die Straßen des Stadtzentrums von Kairo bevölkern, sind jedenfalls berauscht, regelrecht betrunken von dem, was sich in diesen Stunden in ihrem Land abspielt.

»Wir haben Mursi gestürzt«, sagt Muna, eine 23-jährige Studentin, die sich mit Freunden in einem schicken Café getroffen hat. Die Gruppe spricht von Freiheit, von Gleichheit, von Einheit, hört gar nicht auf, davon zu sprechen, wie so oft an diesem Nachmittag, wenn man mit Bewohnern dieser armen und reichen Stadt spricht, in der Freiheit, Gleichheit, Einheit so viele Jahrzehnte lang Fremdwörter waren.

Heute erleben die Kairoer ihren zweiten Frühling, einen Frühling, der nach Ansicht vieler besser ist als der erste: »Wir können jetzt durchatmen«, sagt die junge Frau. »Wir können in die Zukunft blicken.«

Wirklich? »Es ist eine Katastrophe«, sagt Mahmud al Badry. Er ist Hotelchef in Hurghada, einem Badeort am Roten Meer. Mehrere Tausend Menschen leben allein hier von ausländischen Touristen. Quasi über Nacht sind die meisten von ihnen arbeitslos geworden. »Die Leute wollen nach Hause«, sagt al Badry, »und ich verstehe das: Die Touristen können das, was im Moment geschieht, ja nicht einschätzen.« Dabei habe das Geschäft gerade angefangen sich zu erholen, nachdem der erste Frühling, der als »Arabischer Frühling« bekannt wurde, den Tourismus für Monate zum Erliegen gebracht hatte.

Im Finanzministerium in Kairo nimmt man kein Blatt vor den Mund: »Wir müssen sehr schnell zur Normalität zurückkehren, sonst gehen hier bald die Lichter aus«, sagt ein Mitarbeiter der oberen Verwaltungsebene. Schon bevor das Militär die Verfassung aussetzte und Präsident Mohammed Mursi absetzte, nahm eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitern wichtiger Ministerien die Arbeit auf, um die wirtschaftlichen Folgen der Ereignisse möglichst abzufedern.

Gelungen sei das nicht, heißt es. Viel zu viel sei im Laufe der vergangenen Monate falsch gemacht worden. So wurde das Finanzministerium seit dem Amtsantritt Mursis von drei verschiedenen Ressortchefs geleitet, die immer dann abgesetzt wurden, wenn potenziell kontroverse Schritte anstanden. Zum Beispiel dieser: Umgerechnet rund 17 Milliarden Euro an Steuern schulden die Bürger dem Staat mittlerweile. Doch statt sie einzutreiben, nahm die Regierung lieber teure Kredite auf, bis ihr niemand mehr Kredit geben wollte.

Und so sind die wirtschaftlichen Folgen deutlich sichtbar: Die Banken sind weitgehend geschlossen, viele Geldautomaten leer. Auf den Straßen sind ungewöhnlich wenige Privatautos unterwegs, weil die Spritpreise innerhalb weniger Tage in die Höhe geschossen sind.

Doch auf dem Tahrir-Platz, aber auch bei Muna und ihren Freunden, zählen gerade andere Werte: »Jetzt, wo Mursi weg ist, werden wir das alles in den Griff bekommen«, ist der 24-jährige Tarek überzeugt. »Haben Sie das gestern Nacht gesehen? Wie das Land zusammensteht, wenn es drauf ankommt?«

Das ganze Land? In den Städten und Dörfern außerhalb Kairos, dort, wohin sich kaum jemand verirrt, ist die Stimmung eine andere. In Arab al Saf, einer Kleinstadt einige Kilometer nilaufwärts, ist von Euphorie nichts zu spüren. In Orten wie diesen, arm, staubig, konservativ, hatten sich vor über einem Jahr die Wahlen entschieden; Mursi, das war der Präsident der Menschen in der Peripherie, und er ist es geblieben.

»Ich hätte mir gewünscht, dass er standhaft bleibt«, sagt ein Ladenbesitzer. »Er wurde gewählt, und niemand kann sagen, dass die Wahl nicht frei war. Selbst die Wahlbeobachter aus dem Ausland haben gesagt, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.«

Der Mann will nicht einmal seinen Vornamen nennen. Denn er steht der Muslimbruderschaft nahe, wie sehr viele in solchen Orten. Jahrzehntelang hatten sie unter Hosni Mubarak ihre Ansichten verschweigen müssen. Dann kam der Arabische Frühling, und plötzlich war die Muslimbruderschaft legal, für alle sichtbar.

Bis jetzt. Während in Kairo Freiheit und Einheit gefeiert werden, fürchten die Menschen hier erneut Unterdrückung und Illegalität. Denn in diesen Stunden deutet alles darauf hin, dass dies geschehen könnte: Noch während am Mittwochabend ein Treffen von Militärführung, Oppositionsbewegung Tamarud und Vertretern der religiösen Gruppierungen stattfand, ging die Armee gegen Medien vor, die der Muslimbruderschaft nahe stehen. Fernseh- und Radiosender wurden abgeschaltet, Zeitungen erschienen am Morgen nicht. Kurz darauf wurde ein Ausreiseverbot gegen Mursi und andere Führungskräfte der Muslimbruderschaft und der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei verhängt. Und nachdem die Aussetzung der Verfassung und die Absetzung des Präsidenten bekannt gegeben worden waren, begannen Soldaten, Vertreter der Muslimbruderschaft festzunehmen.

Sprecher des Militärs sagen, dadurch solle ein langer Machtkampf verhindert werden, und verweisen darauf, dass die Stimmung unter Mursis Anhängern extrem aggressiv sei. »Es geht nur darum, weiteres Blutvergießen zu verhindern«, sagt Hescham Hassan, Sprecher von Generalstabschef Abdel Fatah al-Sisi, und verweist darauf, dass es Pro-Mursi-Demonstranten waren, die immer wieder geschworen hatten, den Präsidenten zu verteidigen, bis »sie in einem See aus Blut liegen«.

Notwendig seien diese Schritte, sagen auch Muna, Tarek und ihre Freunde – und so ist es in diesen Stunden überall in Kairo-Mitte zu hören, in einer Welt, die irgendwie verkehrt scheint: Es ist gerade erst zweieinhalb Jahre her, dass sich Militär und Demonstranten als Feinde gegenüber standen. Heute dagegen muss jeder, der das Wort »Putsch« oder »Coup« verwendet, einen Vortrag über sich ergehen lassen: Es sei eine Revolution. Mit Unterstützung des Militärs.

»Natürlich ist jede politische Gruppierung willkommen, an der Gestaltung der Zukunft mitzuarbeiten«, wird immer wieder gesagt, von den Menschen auf der Straße, von Übergangspräsident Adli Mansur, aber auch von der Nationalen Rettungsfront, dem Bündnis bisheriger Oppositionsparteien.

Doch ob wirklich jeder die Chance bekommt, das liegt nicht in den Händen Munas und Tareks, auch nicht in den Händen des Parteienbündnisses und der Tamarud-Leute. Über all die Gespräche, die Euphorie wachen an den Straßenecken Soldaten, die zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder schwer bewaffnet sind.

Es ist Nachmittag geworden, der Rausch lässt nach. Die ersten werden nachdenklich. »Wenn ich mir das so anschaue, bin ich nicht so sicher, ob wirklich das Volk die Macht übernommen hat«, sagt ein Journalist von »Al Ahram«, während er auf einen Bus wartet. »Letzten Endes wird nichts passieren, was die Militärführung nicht will. Und ob die das Gleiche will wie das Volk – wir werden sehen.«

***** Aus: neues deutschland, Freitag, 5. Juli 2013


Nationaler Dialog in Ägypten

Dokumentiert: Rede des Verteidigungsministers und Armeechefs Abdel Fattah Al-Sisi zur Absetzung Mursis

Die Streitkräfte konnten nicht Ohren und Augen verschließen vor der Bewegung und den Forderungen der Massen, die sie aufgerufen haben, eine nationale Rolle zu spielen. Es ist keine politische Rolle, weil die Streitkräfte selbst die ersten sein werden, die proklamieren, daß sie sich aus der Politik heraushalten werden. Die Streitkräfte haben mit Weitsicht gespürt, daß das Volk ihre Unterstützung gesucht hat – nicht Macht oder Herrschaft, aber generelle Dienste und den nötigen Schutz der Forderungen der Revolution. Das ist die Botschaft, die die Streitkräfte aus dem gesamten urbanen Ägypten empfangen haben, aus den Großstädten und aus den Dörfern. Sie haben die Aufforderung angenommen, ihre Intentionen verstanden, ihre Dringlichkeit anerkannt und sind dem Zustand der Nation nähergekommen – hoffend, mit Willen und unter Einhaltung aller Grenzen der Pflicht, Verantwortung und Ehrlichkeit.

Die Streitkräfte haben in den vergangenen Monaten viele Anstrengungen unternommen, direkt und indirekt, um die interne Situation im Zaum zu halten und die nationale Versöhnung aller politischen Kräfte einschließlich des Präsidenten seit November 2012 durchzuführen. Das hat mit einem Aufruf zum nationalen Dialog begonnen, auf den alle politischen Kräfte geantwortet haben und wurde vom Präsidenten im letzten Moment abgewiesen. Dann folgten seit diesem Zeitpunkt wiederholt Einladungen und Initiativen bis zum heutigen Tag. Die Streitkräfte haben ihre strategische Einschätzung der Situation im Land und im Ausland mehr als einmal präsentiert, einschließlich der Herausforderungen und Gefahren, denen die Nation bei Sicherheit, Wirtschaft, Politik und im Sozialen Bereich gegenübersteht – zusammen mit der Weitsicht der Streitkräfte als nationale Institution darauf, wie die Ursachen der sozialen Spaltungen einzudämmen sind, wie die Ursachen des Staus aus dem Weg zu räumen sind und wie den Herausforderungen und Gefahren zu begegnen ist, um aus der gegenwärtigen Krise zu kommen.

Im Zuge der derzeitigen Krise hat der Generalstab der Streitkräfte mit dem Präsidenten am 22. Juni im Präsidentenpalast ein Treffen abgehalten, bei dem es die Meinung des Oberkommandos und seine Ablehnung gegen die Verletzung nationaler und religiöser Staatsinstitutionen zum Ausdruck gebracht hat. Und es hat seine Ablehnung gegen das Terrorisieren und Bedrohen der Massen des Ägyptischen Volkes unterstrichen. Es gab die Hoffnung, eine nationale Versöhnung zu erreichen, einen Zukunftsplan zu entwickeln und den Menschen Gründe für Zuversicht, Sicherheit und Stabilität zu geben, um ihre Ambitionen und Hoffnungen zu erfüllen. Aber die Rede des Präsidenten in der vergangenen Nacht und vor dem Ende des 48stündigen Ultimatums stand den Forderungen des Volkes entgegen. Die Situation hat die Streitkräfte aufgrund ihrer nationalen und historischen Verantwortung veranlaßt, einige der Symbole der Kräfte aus Nation, Politik und Jugend zu konsultieren ohne irgend jemanden auszuschließen oder zu entfremden. Die Teilnehmer haben dem Zukunftsplan zugestimmt, der die ersten Schritte zum Erreichen einer starken, einheitlichen ägyptischen Gesellschaft beinhaltet, die ihre Söhne und Bewegungen nicht entfremdet und den Zustand der Kämpfe und Spaltungen beendet. (…) Gott bewahre Ägypten und sein großartiges, kämpferisches Volk.

(jW, 05.07.2013)




Präsident für den Übergang

Richter Adli Mansur im höchsten Staatsamt ******

Vom Amt des Präsidenten des Verfassungsgerichts zum Staatspräsidenten ist es in Ägypten nicht so weit. Rund 36 Stunden war Adli Mansur Oberster Richter, bevor er gestern für das höchste Staatsamt vereidigt wurde.

Der Amtseid des Präsidenten des Landes passt ganz besonders für einen Richter wie ihn. So war zu schwören, das System der Republik zu erhalten, die Verfassung und das Gesetz zu achten und die Interessen des Volkes zu schützen. Allerdings ist gerade für die Verfassung schon eine Überarbeitung angekündigt.

Schlagartig geriet der aus Kairo stammende Jurist, der auch in Paris studierte und seit 1992 am Verfassungsgericht tätig war, in den Blickpunkt der ägyptischen und auch der Weltöffentlichkeit. Schließlich verdankt er den neuen Posten der von Massenprotesten und letztlich dem Militär erzwungenen Entfernung seines Vorgängers.

Dabei wird der sunnitische Muslim erst einmal als Mann des Übergangs, vielleicht auch als Marionette der Generäle, keinesfalls jedoch als Heilsbringer eingeordnet. Dazu wäre er bisher auch gar allzu wenig öffentlich hervorgetreten. Erwartet wird vielmehr ein sachliches und wohl auch wenig parteiliches Gestalten der angekündigten Maßnahmen. So soll Mansur auch einer überparteilich zusammengesetzten Übergangsregierung vorstehen und Wahlen ansetzen.

Bis zu diesen Neuwahlen ist auch die Amtszeit Adli Mansurs erst einmal begrenzt. Mit seiner Mitwirkung am Gesetz für die Präsidentenwahlen im Jahre 2012 hat er dafür schon einmal vorgearbeitet. Nichts deutet – schon seines mit 67 Jahren in diesem Falle durchaus vorgerückten Alters wegen – darauf hin, dass Mansur es im entferntesten zeitlich auch nur annähernd mit Vorgängern wie den Langzeit-Präsidenten Gamal Abdel Nasser, Anwar al-Sadat oder Hosni Mubarak aufnehmen wird – vielleicht gerade noch mit seinem gestürzten Vorgänger.

Klaus Joachim Herrmann

****** Aus: neues deutschland, Freitag, 5. Juli 2013


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