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Polarisierung

Ägypten: Straßenschlachten zwischen Opposition und Mursi-Anhängern. Präsident verliert Auseinandersetzung mit Justiz

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Ägyptens innenpolitische Polarisierung hat am Wochenende einen neuen Höhepunkt erreicht, als sich Anhänger und Gegner von Staatspräsident Mohamed Mursi und der ihm nahestehenden Muslimbruderschaft in Kairo blutige Straßenschlachten lieferten. Linke und säkulare Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen hatten aufgerufen, gegen die Dominanz des politischen Arms der Bruderschaft, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), und der salafistischen Al-Nour-Partei in der verfassungsgebenden Versammlung auf dem Tahrir-Platz zu demonstrieren. Linke Gruppen forderten zudem die Erhöhung der Mindestlöhne sowie die Einführung eines Maximaleinkommens.

Erstmals seit langem versammelte sich die säkulare Opposition auf dem Tahrir im Herzen Kairos, der zum Symbol für die Revolution 2011 geworden ist und zuletzt fast ausschließlich von der Bruderschaft als Protestschauplatz genutzt wurde. Muslimbrüder und FJP riefen erst kurzfristig dazu auf, am selben Ort wie ihre politischen Gegner gegen den Freispruch 24 teils hochrangiger Funktionäre des gestürzten Regimes von Präsident Hosni Mubarak zu protestieren. Mursi hatte nach der Entscheidung den Generalstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmud entlassen. Dem Präsidenten wurde daraufhin unrechtmäßige Einmischung in die Justiz vorgeworfen, und am Samstag kehrte Mahmud, begleitet von Richtern und Sicherheitskräften, in sein Büro zurück.

Auslöser der Ausschreitungen tags zuvor war die Zerstörung einer von Mursi-Gegnern genutzten Rednerbühne durch Anhänger des Präsidenten. Muslimbruderschaft und FJD betonten hingegen, sie seien für die Gewalt nicht verantwortlich. Einige hundert der rund 5000 Demonstranten bewarfen sich bereits am Mittag in der Mohamed-Mahmoud-Straße, einer Nebenstraße des Tahrir, in der es im November 2011 zu blutigen Zusammenstößen zwischen Zivilisten und der Polizei gekommen war, mit Steinen und lieferten sich heftige Straßenschlachten. Bei den im Laufe des Tages immer wieder aufflammenden Kämpfen wurden bis zu 200 Menschen teils schwer verletzt; die ägyptische Presse berichtete, Demonstranten hätten mit Eisenstangen aufeinander eingeschlagen und einen Bus angezündet. Polizei und Militär glänzten den gesamten Tag über mit demonstrativer Abwesenheit. Erst am Abend beruhigte sich die Lage.

Bereits in den Tagen zuvor war auf Kairos Straßen wieder vermehrt demonstriert worden. Am Dienstag gedachten rund 4000 Menschen der 28 Toten des Maspero-Massakers vom 9. Oktober 2011, als das Militär bei friedlichen Protesten mit gepanzerten Fahrzeugen gezielt in die Menge raste und scharfe Munition einsetzte. Am Donnerstag zogen etwa 1500 Anhänger der Bewegung des 6. April durch die Innenstadt und protestierten gegen die Politik Mursis nach 100 Tagen im Amt sowie gegen die Dominanz von Al-Nour und FJP in der verfassunggebenden Versammlung.

Am Mittwoch war nach monatelangem Tauziehen ein erster Verfassungsentwurf veröffentlicht worden, über den per Referendum abgestimmt werden soll. Zahlreiche Vertreter säkularer, liberaler und linker Parteien hatten zuletzt aus Protest gegen die mangelnde Kompromißbereitschaft der Religiösen die Versammlung demonstrativ verlassen. Der vorliegende Entwurf schränke zwar das Recht des Präsidenten ein, den Ausnahmezustand beliebig zu verlängern, kritisiert wird der Text jedoch vor allem wegen seiner Einschränkung der Geschlechtergleichheit. Nach Artikel 36 werde diese nur garantiert, wenn sie im Einklang mit der islamischen Jurisprudenz stehe. Säkulare Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft fordern die Auflösung der Versammlung und eine Neubesetzung des 100köpfigen Gremiums mit angemessener Präsenz von koptischen Christen und Frauen.

Nach Verabschiedung einer neuen Verfassung soll innerhalb von 60 Tagen das Parlament neu gewählt werden. Mursi kündigte an, danach seine Amtszeit fortsetzen zu wollen, während die Opposition auch die Neuwahl des Staatspräsidenten fordert. Nach der massiven Streikwelle in Ägypten in den letzten Monaten hat die vergangene Woche vor allem gezeigt, daß die Herrschenden der FJP in Zukunft mit der säkularen Opposition rechnen müssen.

* Aus: junge Welt, Montag, 15. Oktober 2012


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