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Mit Koran und Facebook

Hintergrund. Nach der vorübergehenden Ruhigstellung des ägyptischen Volksaufstandes durch das Militär geht der Kampf in die nächste Runde

Von Werner Pirker *

Der 1. Mai 2011 war der erste 1. Mai seit 54 Jahren, an dem die ägyptische Arbeiterklasse frei von staatlicher Bevormundung ihren Ehrentag begehen konnte. An die 100000 Menschen hatten sich auf dem Tahrir-Platz zu Kairo versammelt, um ihrer Forderung nach einer sozialen Umgestaltung Nachdruck zu verleihen. Sie waren einem Aufruf der am 30. Januar 2011 gegründeten Ägyptischen Föderation Unabhängiger Gewerkschaften (EFITU) gefolgt. Während die Demonstranten vom Tahrir-Platz forderten, die alten Staatsgewerkschaften (­EFTU) aufzulösen und ihre korrupte, voll in Diensten des Mubarak-Regimes gestandene Führung vor Gericht zu stellen, beging diese – in Abwesenheit ihres Vorsitzenden Hussein Mugawa, der als einer der Organisatoren der Kamel­attacke vom 2. Februar in Untersuchungshaft sitzt – den »Tag der Arbeit« gemeinsam mit Mitgliedern der Übergangsregierung und des Militärrates.

»An diesem 1. Mai beglückwünschen wir die ägyptischen Arbeiter«, hieß es in einem Aufruf der legendären, seit Mitte der 1970er Jahre verboten gewesenen Kommunistischen Partei Ägyptens. »Das ist Euer Tag. Wir begrüßen Euren Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit.«

Der Volksaufstand war von den Arbeitern von Beginn an unterstützt worden. Zuerst taten sie das als Individuen, dann als Kollektiv. Als am 8. Februar 2011 Zehntausende Arbeiter geschlossen zum Tahrir-Platz marschierten, war das Kräftegleichgewicht vollends zugunsten der aufständischen Massen gekippt. Die ägyptische Arbeiterschaft hat dem Mubarak-Regime nicht nur den Todesstoß versetzt, sie stand auch am Beginn einer Bewegung, die in den Januar/Februar-Ereignissen kulminierte und den Sturz des Despoten herbeiführte.

Zwischen 1998 und 2010 haben sich zwei Millionen Arbeiter, vor allem aus der im Nildelta konzentrierten Textilindustrie, an Demonstrationen, Streiks und anderen Formen sozialen Widerstandes beteiligt. Dabei konnten beträchtliche Teilerfolge wie Lohnerhöhungen, Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und mitunter auch die Absetzung korrupter Betriebsleitungen erzwungen werden. Schon damals gab es enge Kontakte zwischen der Arbeiter- und der später auf dem Tahrir-Platz als »Facebook-Revolutionäre« in Erscheinung getretenen studentischen Bewegung. Der Anfang April 2008 erfolgte Versuch, via Facebook einen Generalstreik zu initiieren, scheiterte indes. Das Regime war zu keinen Zugeständnissen an die Industriearbeiterschaft mehr bereit und setzte nur noch auf Repression. Mit der Verschärfung der Unterdrückung und anderen aus panischer Furcht vor dem Untergang erfolgten Maßnahmen, wie zum Beispiel der massive Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen 2010, schaufelten sich Mubarak und die Seinen ihr eigenes Grab.

Treuhänder oder Henker?

Das Ancien Régime aber ist mit dem Sturz seines Anführers noch lange nicht erledigt. Der alte Staatsapparat – Armee, Sicherheitsdienste, Polizei – blieb vorerst weitgehend intakt. Mubaraks »Nationaldemokratische Partei« wurde zwar aufgelöst, ihre Kader aber bilden immer noch die äußerste Reserve der Konterrevolution. Der Militärrat als das gegenwärtig oberste Machtorgan geriert sich als Treuhänder der Revolution, doch könnte er auch zu ihrem Henker werden.

Abdelhalim Kandil, Journalist und führender Vertreter der Kifaja (»Es reicht«)-Bewegung, einem Bündnis aus linken Nationalisten, Sozialisten und linken Liberalen, spricht gegenüber junge Welt in Kairo von einer Revolution ohne adäquater Führung, weshalb sie sich eine solche in Gestalt des Militärrates hätte ausborgen müssen. Die Frage ist nur, auf welche Weise die Generalität ihr Mandat wahrnimmt. Die Zeichen stehen eher auf rechts. An einer Fortsetzung und Vertiefung des revolutionären Prozesses ist dem Militär ganz sicher nicht gelegen. Das sind keine Nelken-Revolutionäre wie 1974 in Portugal. Gleich das erste Dekret des Militärrates zielte auf die Kriminalisierung von Arbeitskämpfen. Zwar sind Streiks nicht grundsätzlich untersagt– Streiks, die »normale Geschäftsabläufe« stören und der Wirtschaft Schaden zufügen, aber schon. Dennoch, so Kandil, erlebe das Land einen grandiosen Aufschwung an gewerkschaftlichen Aktivitäten, fänden Streiks am laufenden Band statt und sähe sich der Militärrat nicht in der Lage, die Antistreikgesetze durchzusetzen.

Ägyptens provisorische Staatsführung sieht ihre Hauptaufgabe offenbar darin, den von der Obama-Regierung und den EU-Granden ausdrücklich gewünschten »geordneten Übergang« zu gewährleisten. Das heißt, zu verhindern, daß der antidiktatorische Aufstand eine soziale Dimension erhält, womit sich auch die Demokratiefrage in einem neuen, auf die soziale Emanzipation der Unterschichten bezogenen Zusammenhang stellen würde. Deshalb die Eile, mit der die Militärelite die Umwälzung zu einem bürgerlich-demokratischen (mehr bürgerlichen als demokratischen) Abschluß bringen will.

Soziale Demokratie oder Oligarchie?

Freiheit und Demokratie seien abstrakte Postulate, wenn sie nicht mit sozialer Gerechtigkeit in Verbindung gebracht werden, meinte Gamal Ald el Fattah, der einem Volkskomitee vorsteht – einem Organ partizipatorischer Demokratie, das aus der Aufstandsbewegung spontan hervorgegangen ist. Gegenwärtig sind die Volkskomitees vor allem auf örtlicher Ebene bemüht, den Interessen der Unterprivilegierten unmittelbar Geltung zu verschaffen.

Während Kifaja-Aktivist Kandil im Militärrat unterschiedliche Kräfte vertreten sieht, die einen patriotisch, die anderen proimperialistisch, die einen volksnah, die anderen elitär, betrachtet el Fattah diese Institution im wesentlichen als ein Instrument der Konterrevolution. Es ginge dem Rat vor allem um die Sicherung der Machtkontinuität, um ein Fortbestehen des alten Regimes hinter nunmehr formal-demokratischer Fassade.

Die Gründung einer Partei, erzählt er mir, sei heute schwieriger als unter Mubarak. Nach dem neuen Parteiengesetz bedarf es dazu 5000 Mitglieder, deren Namen in den beiden größten Tageszeitungen veröffentlicht werden müssen, was sich außerhalb der Business community angesiedelte Parteiinitiativen in der Regel nicht leisten können. In der Tat spitzt sich die Demokratiefrage zu. Wird aus der ägyptischen Volkserhebung eine an den Interessen der Volksklassen orientierte soziale Demokratie (nicht zu verwechseln mit Sozialdemokratie) hervorgehen, oder wird sich die neue alte Oligarchie nur einer anderen, demokratisch genannten Form der Minderheitenherrschaft bedienen?

Wie Lutz Herden in einem Artikel für den Freitag schrieb, bestand die eigenartige Dialektik des ägyptischen Volksaufstandes darin, daß das Volk den Präsidentenpalast zwar belagert hat, er aber von der Armee eingenommen wurde. Der Form nach hat sich die Volkserhebung in einem Militärputsch realisiert. Von einer »revolutionären Einheit« zwischen Armee und Volk kann indes nicht die Rede sein. Doch auch das Gegenteil will der Nasserist Kandil nicht gelten lassen. Für ihn stellt nicht die Armee, die über die ganze bleierne Mubarak-Zeit die einzig respektierte Institution im Land geblieben sei und sich in ihrer modernen Geschichte nie gegen das Volk gerichtet habe, das Problem dar, sondern die CIA-Fraktion im Militärrat.

Die ägyptische Armee ist eine Wehrpflicht-Armee, weshalb sich in ihr, pathetisch ausgedrückt, die »Söhne des Volkes« sammeln – oder sammeln sollten. Trotz ihrer »Volksnähe« geriet sie im Laufe der Mubarak-Jahre zunehmend unter das Kommando Washingtons. Ägypten erhält nach Israel die größte US-Militärhilfe. Die Generalität ließ sich ihre Loyalität gegenüber der den nationalen Interessen zuwiderhandelnden Mubarak-Clique mit wirtschaftlichen Privilegien vergüten. Es entstand ein vom Militär beherrschtes Wirtschaftsimperium. Auf diese Weise wurden die höheren Ränge unter den Söhnen des Volkes zu einem tragenden Bestandteil des spezifisch staatsbürokratischen Kapitalismusmodells, dessen Grundzüge sich bereits in der Nasser-Ära herausgebildet hatten. Auf ihre ökonomische Machtstellung wird die Militärnomenklatura nicht freiwillig verzichten wollen.

Umgekehrt weiß sie aber auch um die anhaltende Kampfbereitschaft und das neue Selbstbewußtsein der in Aufruhr geratenen Volkskräfte, die sich ihre Revolution vom Militärrat nicht kassieren lassen wollen. Ein Prozeß des gegenseitigen Abtastens findet statt.

Zuckerbrot und Peitsche

Es ist nämlich keineswegs so, daß die herrschende Militärmacht gegenüber dem Druck der Straße unempfindlich wäre. Sie reagiert darauf mit Zugeständnissen, mitunter aber auch mit nackter Gewalt. Der Volkssouveränität sollen ihre Grenzen aufgezeigt werden. Als sich am 9. April wieder einmal Hunderttausende auf dem Tahrir versammelt hatten, ließ die Staatsmacht Panzer auffahren. Von den 25 Offizieren, die sich in ihren Uniformen an der Manifestation beteiligt hatten, wurden drei noch auf dem Platz getötet, die anderen sind seitdem spurlos verschwunden.

Ob mit Zuckerbrot oder Peitsche: Die Initiative gehört vorerst den Militärmachthabern. Richtung und Tempo des Reformprozesses werden von ihnen vorgegeben. Während die revolutionären Kräfte dafür eingetreten waren, zunächst eine Konstituierende Versammlung einzuberufen und erst auf der Grundlage einer neuen Verfassung Parlaments- und Präsidentenwahlen durchzuführen, sieht die von der Junta erstellte Roadmap die umgekehrte Vorgehensweise vor. Im März ließ man das Volk über einige Verfassungsänderungen abstimmen, welche die undemokratischen Verhältnisse eher festschreiben als aufheben. Bereits für September sind Parlamentswahlen vorgesehen und in der Folge eine umfassendere Verfassungsreform durch die neue Volksvertretung. Danach sollen die Präsidentschaftswahlen stattfinden. Mit den Verfassungsänderungen, die dem Amt des Präsidenten und damit der Exekutive einen weit größeren Stellenwert einräumen als den Organen der repräsentativen Demokratie, ist bereits eine wichtige Weichenstellung in Richtung Sicherung der Machtkontinuität vorgenommen worden. Der frühe Zeitpunkt, zu dem die Parlamentswahlen durchgeführt werden sollen, begünstigt die etablierten Parteien des herrschenden Blocks – die um den Militärrat gruppierten Kräfte des alten Regimes, die vom big business aufgestellten und entsprechend finanzkräftigen Parteien, die (offiziell immer noch verbotenen) Moslembrüder und die Formationen der klassischen liberalen Opposition.

Die deutliche Niederlage, die die Aktiven vom Tahrir-Platz beim Referendum über die Verfassungsänderungen hinnehmen mußten, als immerhin drei Viertel dafür und damit gegen eine Verfassungsreform von unten stimmten, lassen auf Ermüdungserscheinungen, die dem gewaltigen Aufbruch vom Januar/Februar zwangsläufig folgen mußten, schließen. Das Spießbürgertum meldete sich zu Wort. Es sei vor allem das Bedürfnis nach Stabilität gewesen, welches das Abstimmungsergebnis maßgeblich beeinflußt habe, meinte Mohamed Wakir, der der Gruppe »Revolutionäre Sozialisten« im Rahmen der Sammlungsbewegung »Nationale Front« angehört. Anderen sei es wichtig gewesen, daß zuerst gewählt und dann erst über eine neue Verfassung beraten werde, weil andernfalls das Militär noch jahrelang an der Macht bliebe. Auch die Befürchtung, daß in einer neuen Verfassung der Scharia-Bezug fehlen würde, habe religiös geprägte Menschen zu einem Ja bewogen.

Islamische Ambivalenzen

Das Ergebnis des Referendums hat den Einfluß, den der politische Islam auf das gesellschaftliche Bewußtsein ausübt, deutlich gemacht. Die Moslembruderschaft hatte sich für die Annahme der Verfassungsänderungen und damit gegen eine Konstituierende Versammlung eingesetzt, weil nur so eine stabile Entwicklung eingeleitet, das Militär zum Rückzug in die Kasernen bewogen und die Säkularisierung gebremst werden könnte. So empfahl sich die Bruderschaft der Junta als deren wichtigster zivilgesellschaftlicher Verbündeter. Obwohl der vom Mubarak-Regime 2010 begangene Wahlbetrug zu Lasten der Moslembrüder einer der Auslöser der Volksbewegung vom 25. Januar gewesen ist, hatten sich die frommen Brüder nur zögernd den Protesten angeschlossen. Bis zuletzt standen sie aber auch in Verhandlungen mit dem Regime. Nach einer Einschätzung von Abdelhalim Kandil sind die Moslembrüder »die wichtigste Kraft auf der Rechten«. Ähnlich der CDU in Deutschland vertrete die Bruderschaft einen religiös verbrämten Wirtschaftsliberalismus.

Doch auch ein Vergleich mit dem politischen Islam in der Türkei erscheint durchaus angebracht. Dort haben gemäßigte Islamisten die jahrzehntelange Vorherrschaft des säkular inspirierten Kemalismus gebrochen. Damit verbunden war auch ein Machtwechsel innerhalb der Eigentümereliten. Der staatsbürokratisch organisierte und auf der Verflechtung von Militär- und Wirtschaftsmacht beruhende Kapitalismus kemalistischer Prägung sieht sich zunehmend verdrängt durch eine neue, »islamische Calvinisten« genannte Unternehmerklasse, die auf ein sich in Ägypten herausbildendes »Unternehmertum von unten« durchaus inspirierend wirken könnte.

Die Angst des Westens vor einer Machtergreifung »radikaler Islamisten« scheint zumindest übertrieben zu sein. Weil erstens die Moslembruderschaft in ihrer Mehrheit keineswegs »kollektivistischen Utopien« anhängt, sondern dem Eigentümer-Individualismus huldigt. Und weil zweitens für die Salafisten als den fundamentalistischen Finsterlingen unter den Anhängern des Propheten allein die Vorstellung von sozialer Emanzipation des Teufels ist. Als Veranstalter von Pogromen gegen Christen und Schiiten besteht die ihnen von den Saudis zugedachte Aufgabe vor allem in der Kanalisierung sozialer und antiimperialistischer Energien.

Nassers Erbe

Es ist noch offen, auf welcher Seite die Bruderschaft in den künftigen Auseinandersetzungen stehen wird. Im Moment bildet sie eine Art Scharnier zwischen der Militärjunta und den Volkskräften. Doch die Generäle trauen den Brüdern nicht – und die Brüder nicht den Generälen. Das gegenseitige Mißtrauen hat seine historischen Wurzeln in der Todfeindschaft zwischen der Bruderschaft und dem Nasser-Regime. Als Anführer des Staatsstreiches der »Freien Offiziere« hat Gamal Abdel Nasser 1954 ein linksnationalistisches Regime begründet, das sich als entwicklungspolitisches Gegenmodell zu den arabischen Ölenklaven des Imperialismus positionierte. Für Nasser und die Seinen galten die Moslembrüder nicht zu Unrecht als Einflußagenten Saudi-Arabiens und damit als Teil der US-hörigen arabischen Reaktion. In seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Bruderschaft – ein Großteil ihrer Kader wurde ins Gefängnis geworfen, viele ihrer Führer wurden hingerichtet – wußte er die antiimperialistisch gesinnten Massen weitgehend auf seiner Seite.

Unter Nassers Nachfolger Anwar el Sadat fand eine dramatische Umorientierung vom »nichtkapitalistischen Entwicklungsweg« zum Kapitalismus und vom Antiimperialismus zur Kollaboration mit den Westmächten und ihrer zionistischen Dependance statt. In Camp David schloß Sadat 1976 einen Separatfrieden mit Israel, der den Palästinensern mit dem Verlust Ägyptens als ihrer bis dahin stärksten arabischen Schutzmacht teuer zu stehen kam. Um sich Verbündete in seinem Kampf gegen die Kommunisten und Nasseristen zu sichern, holte Sadat die Moslembrüder aus den Gefängnissen. Unter Mubarak gerieten sie zunächst wieder ins Visier staatlicher Repression, ehe das Regime versuchte, sie als loyale Opposition zu neutralisieren

Badr Marzook war im Gespräch mit westlichen Antiimperialisten spürbar darum bemüht, das eher linke Antlitz der janusköpfigen Bruderschaft hervorzukehren. Das betraf auch seine Bewertung der Nasser-Politik als »im wesentlichen positiv, wenn auch vom bürokratischen Apparat falsch umgesetzt oder gar sabotiert«. Mit der gegenwärtigen Volksbewegung fühle sich die Bruderschaft tief verbunden, wolle sie aber nicht führen. Wichtig sei der nationale Dialog, die Zusammenarbeit aller konstruktiven Kräfte. »In der einen Hand das Facebook, in der anderen der Koran«, illustrierte Marzook die nationale Einheit, in der den Brüdern die Rolle von uneigennützigen Dienern des Volkes zukomme. Um dem Westen keinen Vorwand für feindselige Maßnahmen unter Beschwörung der »islamistischen Gefahr« zu liefern, wolle man bei den Präsidentschaftswahlen mit keinem eigenen Kandidaten antreten. Sollte der Wolf – womit Amr Mussa, der von den Militärs favorisierten Exvorsitzende der Arabischen Liga, von Marzook als »Mann der Amerikaner« bezeichnet, gemeint gewesen sein dürfte – gewinnen, dann werde die Bruderschaft der Hirte sein, der die Schafe schütze. Bei den für September angesetzten Parlamentswahlen treten die Brüder als »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« an, auf deren Liste auch einige namhafte koptische Christen kandidieren werden.

Harmonie statt Klassenkampf?

Indessen wird es immer deutlicher, daß die Moslembrüder eine ihrer wesentlichsten Aufgaben darin sehen, einer sozialen Radikalisierung der Volksbewegung entgegenzuwirken. Zwar bezeichnete Marzook die Kriminalisierung von Streiks als »unakzeptabel«. Nicht akzeptabel seien aber auch Streiks, die die öffentliche Ordnung stören und allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würden. Das sei nicht die Zeit, wirtschaftliche Sonderinteressen durchsetzen zu wollen, mahnte der Bruder »nationale Brüderlichkeit« an. Als Alternative zum Klassenkampf nannte er soziale Projekte, die Bildung von Kooperativen und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Kurzum: »Der Islam ist die Lösung.«

Als Erfinder dieser Losung stellte sich der Vorsitzende der Islamischen Arbeiterpartei, Magdi Hussein, vor. Der ehemalige Marxist, der sich im Milieu des politischen Islam wohl eine größere Wirkungsmöglichkeit als im linken Mikrokosmos erhofft haben dürfte, ist mittlerweile ein Befürworter des Dritten Weges – »zwischen einem extremen Kapitalismus und einem extremen Sozialismus«. Als wichtigste Programmpunkte seiner Partei nannte er nationale Souveränität, soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Welche Art von Demokratie? »Demokratie ist Demokratie«, gab Hussein seiner sozialdemokratischen Überzeugung Ausdruck, daß es nur die eine, die bürgerliche Demokratie gebe. Seine Vision: Vom Liberalismus die Demokratie und vom Sozialismus die soziale Gerechtigkeit. Die NATO-Aggression gegen Libyen hält der Arbeiterführer angesichts des schwächelnden Westens für unbedenklich. Die Jungs von Bengasi, meint er zu wissen, würden das westliche Kriegsbündnis schon für ihre Sache einspannen und nicht umgekehrt. Seinen früheren Gesinnungsgenossen wirft er linkes Sektierertum vor. Das Demonstrieren könne nicht bis in alle Ewigkeit andauern. Nach dem Sturz Mubaraks stünden andere Aufgaben auf der Tagesordnung. Nicht mehr der Protest, sondern die Selbstorganisation, die Bildung von Parteien, die Beteiligung an den Wahlen.

Eine Partei bilden will auch die Bewegung »Kifaja«. Eine Partei, die laut Kandil das gesamte linke Spektrum umfassen soll. »Nicht nur die marxistische Linke, sondern auch Nasseristen, Sozialdemokraten, linke Islamisten, ja selbst liberale Linke.« Noch würde die liberale Rhetorik die soziale Frage übertönen, gibt Kandil zu bedenken. Noch habe sich der soziale Block, der die nächste Phase der Revolution in Angriff nehmen könnte, nicht formiert. Für die Wahlen im September sieht nicht nur Kifaja-Aktivist Kandil einen Sieg der Moslembrüder voraus. Doch ist er davon überzeugt, daß sie an der Aufgabe, den Erwartungen ihrer Wähler zu entsprechen, ohne das alte Regime zu zerstören und die westliche Hegemonialpolitik frontal herauszufordern, zerbrechen würden.

Und dann? Dann kommen wir, hatte Leo Trotzki, im März 1917 nach der weiteren Perspektive der Russischen Revolution befragt, geantwortet. Die Antwort seines Anhängers Mohamed Wakil von den ägyptischen »Revolutionären Sozialisten« dürfte wohl etwas zurückhaltender ausfallen.

* Aus: junge Welt, 9. Juni 2011


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