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"Wir werden in ganz Ägypten auf die Straße gehen"

Die Muslimbrüder loben die Vermittlungsbemühungen der EU und wollen weiter Widerstand leisten. Ein Gespräch mit Essam Al-Arian *


Essam Al-Arian ist Arzt und eines der wenigen noch in Freiheit befindlichen Führungsmitglieder der ägyptischen Muslimbruderschaft.


Wie beurteilen Sie die Ankündigung des aktuellen Innenministers von Ägypten, die früheren Antiterroreinheiten der Staatssicherheit wieder zu aktivieren?

Das ist Wahnsinn; deshalb müssen wir sehr wachsam bleiben, um zu verhindern, daß die demokratischen Freiheiten weiter beeinträchtigt werden. Und so gibt es jeden Tag neue Demonstrationen, die Ägyptens Straßen füllen. Die Märsche zu den Polizeistationen müssen genau in diesem Sinne verstanden werden. Das sind Aktionen, bei denen die Jugendgruppen innerhalb der Bruderschaft die treibende Kraft bilden.

Wie sehen Sie die Rolle der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, die den per Militärputsch abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi am 28. Juli getroffen hat?

Wir begrüßen jede Anstrengung, die dazu dient, die Krise zu lösen. Die Lösung kann allerdings nur aus Ägypten selbst kommen. Unsere Kampagne gegen den Staatsstreich des Militärs strebt eine offizielle Erklärung der EU an, die den Putsch verurteilen soll. Die Worte Asthons haben uns in der Tat gefreut, als sie sagte, sie wolle nicht aus dem Gespräch mit Mursi zitieren, weil er nicht das Recht habe, mit der Presse zu sprechen. Sie zeigt sich viel sensibler als Generalstabschef Abdel Fattah Al-Sisi. Allerdings sollte sie aber auch mal unser Protestcamp hier im Stadtteil Rabaa el-Adaweya besuchen, denn hier macht die Bruderschaft Politik.

Zumindest wissen wir, daß Mursi wohlauf ist.

Mursi hat mit Ashton in seiner Eigenschaft als Präsident gesprochen. Baronesse Ashton berichtete, er könne fernsehen – in meinen fünf Gefängnisjahren wurden mir die meisten Informationen vorenthalten, die von außen kamen.

Ich habe mit Mursi gemeinsam acht Monate im Gefängnis verbracht. Wir standen gemeinsam vor Mubaraks Richtern und haben uns niemals gefügt. Er ist ein friedlicher und respektvoller Mensch mit Werten, die nicht verhandelbar sind.

Was hat die EU veranlaßt, diese Vermittlerrolle zu übernehmen?

Die Europäer sehen ihre Interessen durch die permanente politische Instabilität bedroht, die zur wirtschaftlichen Zerstörung des Landes führen würde. Die EU ist allerdings gegen den politischen Islam, und das ist gefährlich für die Zukunft der Beziehungen der islamischen Nationen zu Europa.

Welche Zukunft hat die Bruderschaft, und wie beurteilen Sie den Putsch vom 3. Juli 2013?

Die ständigen Angriffe der Polizei können uns nur stärken. Sie verhält sich wie unter Nasser, Sadat und Mubarak. In der Geschichte hat das im Endeffekt dazu geführt, daß unsere Unterstützung gewachsen ist. Wir wollen ein demokratisches Land aufbauen und verlangen, daß der von den Ägyptern gewählte Präsident auf seinen Posten zurückkehrt. In Ägypten hat ein Teil der Armee – in Übereinstimmung mit Politikern und den Golf-Monarchien – diesen durch nichts zu rechtfertigenden Putsch durchgezogen.

Konzentrieren sich die Muslimbrüder jetzt wieder auf soziale Arbeit?

Wir verteilen Hilfsgüter in jedem Dorf – die Medien tun aber nichts anderes, als der Armee in die Hände zu arbeiten. Besonders parteiisch verhält sich dabei der britische Sender BBC. Wir führen unsere Protestkampagne gegen den Putsch auf friedliche Weise im Einklang mit allen Nationen der Welt.

Kann die Lage von einem Moment auf den anderen kippen?

Wir werden in ganz Ägypten auf die Straße gehen. Die Menschen dürfen sich frei bewegen, und deshalb setzen wir unsere friedlichen Märsche fort.

Die Demokratie besteht in der Respektierung der Wahl des Volkes und der Verfassung. Dies ist aber keine Demokratie mehr. Mit einem Schlag wurde das Parlament aufgelöst, die Verfassung außer Kraft gesetzt und der Präsident verhaftet. Wenn Panzer auf den Straßen stehen, kann man nicht von Demokratie sprechen.

Interview: Giuseppe Acconcia

[Übersetzung: Andreas Schuchardt]

Dieses Interview erschien zuerst in der italienischen Tageszeitung il manifesto vom 1. August 2013.

* Aus: junge Welt, Freitag, 9. August 2013


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