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Muslimbrüder zeigen Stärke

Zehntausende Islamisten bei Kundgebung für Ägyptens Präsident Mursi. Opposition ruft zu Massenprotesten auf

Von Sofian Naceur, Kairo *

Unterschriftensammlungen, Proteste und Gegendemonstrationen: Der Streit um die islamistische Regierung von Präsident Mohamed Mursi wird in Ägypten verstärkt auf der Straße ausgetragen – von beiden Seiten. Am Freitag folgten Zehntausende Menschen dem Aufruf der Muslimbrüder und 16 islamistischer Gruppen zu einer Solidaritätskundgebung für das angeschlagene Staatsoberhaupt. Sie versammelten sich im Stadtteil Nasr City im Osten Kairos. Ein den Muslimbrüdern nahestehender TV-Sender berichtete von zwei Millionen Teilnehmern, mehr als 50000 waren jedoch nicht vor Ort. Eine Woche vor den für den 30. Juni anläßlich des Jahrestages von Mursis Amtsantritt angekündigten Massenprotesten der Opposition wollte dessen Regierungslager so Stärke demonstrieren.

Die Opposition mobilisiert seit Wochen und forderte Mursi wiederholt zum Rücktritt auf. Seit Monaten sammeln Aktivisten im Rahmen der Rebell-Kampagne Unterschriften für seine Absetzung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. In der vergangenen Woche gab die Kampagnen-Leitung bekannt, man habe das erklärte Ziel von 15 Millionen Unterschriften erreicht. Mursi selbst nannte die Rücktrittsforderungen dennoch »absurd und illegal«. Er werde sich einem demokratischen Votum bei den für 2016 geplanten Präsidentschaftswahlen beugen, sollte er abgewählt werden. Bis dahin will er weiterregieren. Der von den Muslimbrüdern angeführte islamistische Block startete im Mai eine Gegenkampagne und gibt an, bisher 11 Millionen Unterschriften für den Präsidenten gesammelt zu haben. Ägypten hat rund 80 Millionen Einwohner.

Zur Demonstration am Freitag transportierten die Regierungstreuen Tausende Anhänger aus allen Landesteilen nach Kairo. In Nasr City waren ganze Straßenzüge mit Bussen zugeparkt. Eine Seltenheit ist das nicht: Die Hauptstadt gilt als Hochburg der Opposition, die Bruderschaft nutzt so ihren hohen Organisationsgrad in der Provinz. Die Demonstration fand unter dem Banner »Nein zu Gewalt« statt. Dennoch waren mit Gummiknüppel und Helm ausgestattete Männer an den Zufahrtsstraßen postiert. Auf die Frage, wie dies mit dem Motto der Kundgebung zusammenpasse, antwortete einer von ihnen, man müsse bei möglichen Zusammenstößen mit der Opposition eigene Anhänger verteidigen. Schließlich ging zeitgleich die Opposition auf die Straße. Eine Demonstration fand vor dem Verteidigungsministerium im nahe gelegenen Stadtteil Heliopolis statt. Hier forderten Teilnehmer die Armee dazu auf, die Macht zu übernehmen. Führende Oppositionelle lehnten dies kategorisch ab. Auch in anderen Städten Ägyptens wurde gegen die Regierung protestiert. In Alexandria, Fayoum und Mahalla kam es zu Ausschreitungen zwischen Gegnern und Unterstützern Mursis. Der Generalsekretär des politischen Arms der Bruderschaft, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), Hussein Ibrahim, machte führende Oppositionelle für den Gewaltausbruch verantwortlich. Deren Forderungen seien nicht politisch motiviert, sondern vielmehr Aufrufe zu Gewalt und Vandalismus gewesen.

Am Rande der Kundgebung in Nasr City sagte Ismail Said, ein pensionierter Oberst der Luftwaffe aus Ismailija, Ägypten sei auf dem Pfad der Demokratie angekommen. Mursi sei das Ergebnis der Revolution und solle seine Amtszeit zu Ende regieren. Ahmed Mohamed, ein Lehrer aus Mansura, sagte, die Rebell-Aktivisten würden das Land destabilisieren und sollten die Wahlen abwarten, wenn sie mit Mursis Politik nicht zufrieden seien. Scharf verurteilte er die Streik- und Protestbewegung, die Ägypten seit der Revolution 2011 lahmgelegt hätte. Die Regierung könne in diesem Unruhezustand nicht an einer Verbesserung der Lebensumstände arbeiten. Zu verantworten hat sie den allerdings selbst, den Mursi und FJP führen seit ihrer Machtübernahme konsequent die neoliberale Politik des alten Regimes fort. Die hatte seit den 1980ern weite Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben und überhaupt erst die Basis für das massenhafte Aufbegehren gelegt.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 25. Juni 2013


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