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Forderungen nach mehr Demokratie an Mursi

Ägyptischer Präsident auf verkürzter Berlin-Visite

Von Roland Etzel *

Der ägyptische Präsident Mursi besuchte am Mittwoch Berlin - angesichts der aktuellen Entwicklungen auf »einige Stunden« verkürzt. Mehrere Kundgebungen erinnerten ihn an Missstände in seinem Land. Vom Gespräch mit Kanzlerin Merkel wird er wohl neben Ermahnungen bezüglich der Menschenrechte auch gute Nachrichten nach Hause bringen.

Den anschließend in Frankreich geplanten Besuch hat Ägyptens Staatspräsident Mohammed Mursi abgesagt wegen der explosiven Lage zu Hause. Nach Deutschland aber kam er, wenn auch mit abgespecktem Programm. Also ohne Treffen mit seinem Amtskollegen Joachim Gauck, alles fokussiert auf den Termin bei der Kanzlerin. Ägypten hat derzeit nicht unbedingt erfreulichen Besuch von Inspekteuren des Internationalen Währungsfonds, die der Regierung demnächst mitteilen werden, ob und zu welchen Bedingungen Kairo in diesem Jahr Kredit erhält. Da wäre es wertvoll für Mursi, wenigstens mit der Zusage nach Hause zu fahren, dass Deutschland auf die Rückzahlung fälliger Schulden jetzt verzichtet. Im Gespräch ist eine Summe von von etwa 300 Millionen Dollar.

Bundeskanzlerin Angela Merkel teilte bei der anschließenden Pressekonferenz mit, dass diesem Anliegen Mursis wohl entsprochen werde. Des weiteren erklärte sie ihre Besorgnis über die Lage von Menschenrechten und Religionsfreiheit in Ägypten. »Rechtlich stabile Rahmenbedingungen« seien die Voraussetzung für Investitionen und die Entwicklung des Tourismus in Ägypten, so Merkel.

Mursi versprach, dass der »demokratische Transformationsprozess« fortgesetzt werde. Ägypten werde ein »ziviler Rechtsstaat« sein - »nicht militärischer und nicht theokratischer Natur«.

Es ist anzunehmen, dass Berlin auch Entgegenkommen bzw. ein anderes Verhalten der ägyptischen Behörden im Umgang mit »deutschen Interessen« erwartet, ohne dass dies gestern öffentlich ausgesprochen wurde; zum Beispiel was den ruppigen Umgang mit deutschen Parteienstiftungen in Ägypten betrifft. Razzien in ihren Residenzen hatten für Misstöne gesorgt. Die Arbeitsgrundlagen sind bis heute nicht geklärt. Während Außenminister Guido Westerwelle in der ARD artige allgemeinpolitische Forderungen artikulierte, zum Beispiel, dass die neue ägyptische Führung doch bitte demokratischen Prinzipien wie zum Beispiel die Gewaltenteilung achten möge«, erklärte Wirtschaftsminister Philipp Rösler, die deutsche Wirtschaft sehe sich sehr genau an, »wo es sich lohnt zu investieren«. »Entscheidend ist Planungssicherheit, die ist nur dort wirklich gegeben, wo Sicherheit vor Gewalt und politischer Willkür herrscht.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 31. Januar 2013


Militärische Ehren für Ägyptens Präsident

Mursi auf Staatsbesuch in Berlin. Zaghafte Proteste vor dem Bundestag

Von Sofian Naceur *


Trotz der anhaltenden Ausschreitungen in seinem Land reiste der ägyptische Staatspräsident Mohamed Mursi am Mittwoch nach Deutschland, wo er mit militärischen Ehren von Bundeskanzlerin Angela Merkel empfangen wurde. Begleitet wurde Mursi von Vertretern der ägyptischen Wirtschaft und mehreren Ministern. Der Besuch gebe der wirtschaftlichen Kooperation beider Länder neue Impulse, hieß es in Berlin. Merkel betonte: »Deutschland möchte ein wichtiger Partner Ägyptens werden.«

Deutschland ist bereits der drittgrößte Handelspartner Ägyptens und will seinen Einfluß am Nil ausbauen. Die dortige Wirtschaft liegt am Boden, und Kairo sucht händeringend nach Investoren. Der Tourismussektor ist eingebrochen, die Arbeitslosigkeit steigt und die Talfahrt der ägyptischen Währung geht unvermindert weiter. Die im Dezember ausgesetzten Gespräche über einen Schuldenerlaß waren in Berlin offiziell kein Thema. Merkel sagte lediglich, sie hoffe, der Internationale Währungsfonds nehme die Verhandlungen über einen Kredit für Ägypten bald wieder auf und helfe damit, die ökonomische Lage zu stabilisieren.

Seit November ist das Land nicht zur Ruhe gekommen. Über 60 Menschen starben seit Beginn der heftigen Protestwelle, die Ägypten seit einer Woche erschüttert. Noch am Sonntag rief Mursi den Notstand über Port Said, Ismailija und Suez aus, verhängte eine nächtliche Ausgangssperre und schickte die Armee in die Kanalzone. In Berlin betonte er, daß Ägypten ein ziviler Rechtsstaat werde. Das Notstandsgesetz sei nur eine temporäre Maßnahme. Doch auch das neue Regime setzt bei Protesten auf Repression. Die Armee wurde mit Sondervollmachten ausgestattet und verurteilt weiterhin Zivilisten vor Militärtribunalen.

Wegen der anhaltenden Gewalt in Ägypten hatte Mursi seinen Aufenthalt in Deutschland verkürzt. Daß er dennoch nach Berlin gereist ist, zeigt, wieviel Gewicht das Regime den Beziehungen zur Bundesrepublik mittlerweile einräumt. Außenminister Guido Westerwelle war der erste westliche Spitzenpolitiker, der nach Mursis Sieg bei der Präsidentschaftswahl im Juni 2012 nach Kairo reiste und ihm politische Unterstützung zusagte. Berlin baute seine bilateralen Beziehungen zu Ägypten seither kontinuierlich aus und intensiviert die rüstungspolitische Kooperation. Ägypten will unter anderem U-Boote aus deutscher Produktion kaufen.

Mursi betonte in Berlin, es sei im Interesse seines Landes, das freundschaftliche Verhältnis zu Deutschland auszubauen, jedoch »ohne Einmischung in interne Angelegenheiten.« Merkel hob zuvor die Einhaltung der Menschenrechte in Ägypten als Grundlage der Partnerschaft hervor. Die autokratischen Züge des Regimes scheinen angesichts der Rüstungskooperation für die Bundesregierung eher zweitrangig zu sein. Berlin verfolgt am Nil handfeste wirtschaftliche Interessen, ist um jeden Preis an einer Stabilisierung des Landes interessiert und fordert von Kairo ein sicheres Umfeld für deutsche Investitionen. Mursi und die regierenden Muslimbrüder gelten trotz ihrer gesellschaftlichen Vorstellungen als verläßlicher wirtschaftspolitischer Partner mit neoliberalem Anstrich und werden von Berlin entsprechend hofiert.

Anläßlich des Staatsbesuchs protestierten am Dienstag rund 300 Demonstranten in Berlin gegen Menschen- und Organhandel auf der Sinai-Halbinsel (jW berichtete) und zogen vor den Bundestag. Sie forderten Kairo auf, das Flüchtlingsdrama auf dem Sinai nicht weiter zu ignorieren. Die Bundesregierung solle mehr Druck auf Mursi ausüben. Aufgerufen zu dem Protest hatten die »Eritreische Community in Deutschland« und die menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, Annette Groth. Sie hoffe, sagte diese, daß Angela Merkel die Lage auf dem Sinai im Gespräch mit Mursi auf den Tisch bringen werde. Die Nachbarschaftsabkommen mit Ägypten böten Möglichkeiten, Kairo unter Druck zu setzen und ein konsequentes Vorgehen gegen den Menschenhandel auf dem Sinai einzufordern.

** Aus: junge Welt, Freitag, 1. Februar 2013


Zweierlei Standards

Merkel mahnt Demokratie in Ägypten an

Von Werner Pirker ***


Ganz ohne Ermahnungen von deutscher Seite ging der Berlin-Besuch des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi am Mittwoch nicht über die Bühne. Die Menschenrechte müßten eingehalten und Religionsfreiheit müßte gelebt werden, fühlte sich Bundeskanzlerin Merkel zu Kritik an den Zuständen in Ägypten genötigt. Einem Hosni Mubarak wäre eine solche öffentliche Zurechtweisung sicherlich erspart geblieben. Auch ist nicht bekannt, daß einer der Golf-Despoten jemals mit Demokratiebelehrungen aus Berlin genervt worden wäre.

Doch das ist nur die eine Seite deutscher Heuchelei. Die andere besteht darin, daß Mursi zu einer Zeit in Berlin vorstellig werden durfte, in der über drei ägyptische Städte der Ausnahmezustand verhängt wurde und der staatliche Repressionsapparat die Demokratiebewegung zu zerschlagen versucht. Ein Baschar Al-Assad auf Staatsbesuch in Deutschland wäre seit Ausbruch der Unruhen, die sich mittlerweile zu einem von außen gesteuerten Vernichtungskrieg gegen Syrien entwickelt haben, zu keinem Zeitpunkt denkbar gewesen. Ebenso wenig vorstellbar ist gegenwärtig ein bewaffneter Aufstand in Ägypten, der aber im syrischen Fall von der westlichen Kriegspropaganda mit der größten Selbstverständlichkeit als einzige Option vorausgesetzt worden ist. Das Land am Nil erhält nach Israel die größte Militärhilfe von Washington, was seine Armee praktisch dem US-Kommando unterstellt. Der Gedanke an einen gewaltsamen Umsturz verbietet sich deshalb von selbst. So wie die bewaffnete Rebellion in der Levante von Beginn an auf die militärische Unterstützung durch den Westen zählen durfte, kann die ägyptische Konterrevolution mit westlichem Beistand rechnen, sollte sie der Volksbewegung aus eigener Kraft nicht mehr Herr werden.

Wurde von der hiesigen Meinungsmache einst immer wieder die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme beschworen, so sind die Islamisten inzwischen als Partner bei der Sicherung der westlichen Vorherrschaft unverzichtbar geworden. Ob als dschihadistische Sturmabteilungen wie in Syrien oder als Repräsentanten von Ruhe und Ordnung wie in Ägypten. Die im wesentlichen wertkonservativ und wirtschaftsliberal gesinnten Moslembrüder sollen nicht zuletzt die Risiken der Demokratisierung gering halten und im Bündnis mit der Armee für stabile, investitionsfreundliche Verhältnisse sorgen.

Es ist indessen keineswegs eine ausgemachte Sache, ob Mursi als gewählter Präsident, der seine demokratische Legitimation umgehend dazu nutzte, die Demokratie per Dekret zu minimieren, der ihm gestellten Aufgabe auch gewachsen ist. Für den Fall seines Scheiterns steht die Armee Gewehr bei Fuß. Es ist nicht die Sorge um Demokratie und Menschenrechte, sondern die Ungewißheit über die weitere Entwicklung im Land der Pyramiden, die Deutschlands »eiserne Kanzlerin« zu einer reservierten Haltung gegenüber dem ägyptischen Präsidenten bewogen hat.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 1. Februar 2013


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