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Pakt zwischen der Muslimbruderschaft und den Militärs

Mohamed Mursi will "Präsident aller Ägypter" sein

Von Karin Leukefeld *

Nach Bekanntgabe der Wahl des Islamisten Mohamed Mursi (60) zum neuen ägyptischen Präsidenten herrschte am Sonntagabend eitel Freude. Selbst der Handel an der Börse in Kairo machte zur Feier des Tages einen Sprung.

Mursi, ein Ingenieur, der in den USA studierte und unter Mubarak zeitweise inhaftiert war, versprach er wolle „Präsident aller Ägypter“ sein. Besonders die Minderheiten sollten das wissen, womit er sich direkt an die (christlichen) Kopten wandte. Zum Zeichen, dass er es ernst meint, erklärte er seinen Austritt aus der Partei für Freiheit und Entwicklung, dem politischen Arm der ägyptischen Muslim Bruderschaft. Mit der Versicherung, „alle internationalen Verträge einhalten“ zu wollen, sandte Mursi zudem ein beruhigendes Signal an die USA und Europa, die von der Muslim Bruderschaft gefordert hatten, den Friedensvertrag (von 1979) mit Israel nicht aufzukündigen. Er werde für „die Umsetzung der Revolution“ sorgen, versicherte Mursi der Protestbewegung, die ihn und seine Organisation an die Macht gebracht hat. „Raum für eine Sprache der Konfrontation wird es nicht geben“. Auch sein Widersacher, der ehemalige Ministerpräsident und frühere Luftwaffengeneral Ahmed Schafik äußerte sich versöhnlich. Er gratulierte Mursi zu seinem Sieg und erklärte sich bereit, in dessen Kabinett mitzuarbeiten.

Für Unruhe in westlichen Medien und bei politischen Führern sorgte dann doch ein Interview, das Mursi der iranischen Nachrichtenagentur FARS kurz vor Bekanntgabe seiner Wahl gegeben hatte. Er wolle die Beziehungen zum Iran ausbauen, um einen „strategischen Ausgleich“ in der Region zu schaffen, so Mursi. Iran, mit dem Ägypten derzeit keine diplomatischen Beziehungen hat, hatte den Sturz Mubaraks begrüßt und sich offen an die Seite der Protestbewegung gestellt. Die Wahl Mursis wurde in Teheran als Zeichen eines „Islamischen Erwachens“ begrüßt. Bisher galt Ägypten als sicherer Partner Saudi Arabiens, das mit dem Iran um die regionale Vormachtstellung kämpft.

Mit einem gigantischen Feuerwerk wurden die Menschenmassen am Sonntagabend auf dem Tahrir Platz beglückt, bevor Mursi sich am Montagmorgen daran machte, eine neue Regierung zusammenzustellen. Die politischen Aufgaben sind groß. Die Wirtschaft des Landes, das mit 82 Millionen Menschen die größte arabische Nation ist, liegt am Boden. Die Jugend braucht Ausbildung und Arbeitsplätze, der lukrative Tourismussektor wankt angesichts einer islamistischen politischen Führung. Die ägyptische Tageszeitung Al Masri al Youm berichtet, Mursi habe den Reformpolitiker Mohamed ElBaradei gefragt, ob er den Posten des Ministerpräsidenten übernehmen wolle. Weder von diesem noch von der Muslimbruderschaft wurde die Meldung kommentiert. Nach der Auflösung des Parlaments werden Neuwahlen und ein neuer Verfassungsgebender Prozess eingeleitet werden müssen. Doch selbst wenn der Militärrat, wie angekündigt, Ende Juni die Macht an den neuen Präsidenten übergeben wird, bleibt Mursi von den Militärs abhängig.

Nach Einschätzung politischer Beobachter hat das Militär mit der gut organisierten Muslimbruderschaft einen Pakt geschlossen, Ägypten bis auf Weiteres gemeinsam zu regieren. Um nichts dem Zufall zu überlassen, organisierten die Militärs am Vortag der Stichwahl einen „sanften Putsch“. Der noch aus der Mubarakzeit stammende Hohe Gerichtshof löste das Parlament auf, in das die Muslimbruderschaft im Januar mit großer Mehrheit eingezogen war. Die Militärs ermächtigten sich daraufhin mit „Zusätzen zur Verfassung“ selbst und übernahmen die Kontrolle über die Gesetzgebung, eigentlich Aufgabe des Parlaments. Sie sicherten sich ein Veto über den Haushalt und setzten den Nationalen Sicherheitsrat wieder ein, eine Institution des Ausnahmezustandes. Das ganze dürfte nicht zuletzt mit Zustimmung, vielleicht sogar auf Anraten westlicher Partner geschehen sein. Die US-Administration zahlt der ägyptischen Armee jährliche Militärhilfe in Millionenhöhe, um die Sicherheit Israels zu gewährleisten.

Mit nur 51 Prozent war die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl zum Präsidentenamt gering. Eine große Minderheit der Ägypter hatte sich aus verschiedenen Gründen nicht mehr an der Wahl beteiligt. Anhänger der Protestbewegung sahen sich um ihre Ziele betrogen, für die sie Gefahren und Unsicherheit in Kauf genommen und mit Wochenlangen Protesten zum Sturz Mubaraks beigetragen hatten. Sie wollten weder Schafik, einen Präsidenten des Militär- und Mubarak-Establishments, das 60 Jahre Ägypten beherrscht hatte, noch wollten sie Mursi, einen Islamisten zum Präsidenten. Der Kandidat der Linken, Hamdin Sabbahi, war in der ersten Wahlrunde überraschend auf Platz 3 gelandet und verpasste die Stichwahl nur knapp. Die Kräfte des revolutionären Lagers „hätten sich auf Hamdin Sabbahi als einzigen Kandidaten einigen müssen, um ihn zu stützen“, analysiert Mamdouh Habaschi von der 2011 wieder gegründeten Ägyptischen Sozialistischen Partei. Linke und progressive Kräfte hätten sich auf vier Kandidaten aufgesplittert, „ihre Stimmen fehlten am Ende Sabbahi für den letzten, entscheidenden Prozentpunkt“. Enttäuscht dürften auch viele Kopten sich abgewandt haben. Selbst wenn sie Reformen und mehr politische und wirtschaftliche Teilhabe wünschen, ist die christliche Gemeinschaft durch den politischen Machtwechsel zugunsten islamistischer Organisationen in den letzten Monaten zutiefst verunsichert. Auch die Bewohner ländlicher Gebiete und der Armenviertel dürften das Interesse nach der ersten Wahlrunde verloren haben, nach der es nur noch um zwei Seiten der gleichen Medaille ging. Ihr täglicher Kampf ums Überleben hat sich in den letzten Monaten eher noch verschärft.

* Dieser Beitrag erschien - gekürzt unter dem Titel "Vor großen Aufgaben" - in der "jungen Welt" vom 26. Juni 2012


Mursi zählt alle zu seiner ägyptischen Familie

Neue Töne des Muslimbruders als Präsident – und verdrießliche Blicke aus dem Westen

Von Roland Etzel **


Der neue ägyptische Präsident Mohammed Mursi hat in einer ersten Ansprache betont, der Präsident aller Ägypter sein zu wollen. Ob Muslime oder Christen, Männer oder Frauen, Alte oder Junge – er zähle alle zu seiner Familie. Westliche Politiker gratulierten pflichtschuldig, aber mit begrenzter Begeisterung.

Vielleicht haben viele Ägypter gestern erst realisiert, dass in Ägypten eine neue Epoche begonnen hat: zum ersten Mal eine Live-Ansprache eines Muslimbruders zur besten Sendezeit im Fernsehen. Der Kairoer Sender Nile TV übertrug, was bislang Husni Mubarak bzw. dem seit 15 Monaten dem regierenden Militärrat vorbehalten war. Vom todkranken Ex-Präsidenten gab es dagegen Krankenhausbilder. Sinnfälliger könnte ein Paradigmenwechsel kaum sein. Aber ist es tatsächlich einer?

Auch Mohammed Mursi stehen mindestens die 100 Tage zu, die man neuen Präsidenten gewöhnlich vor einer ersten Bewertung einräumt. Des Aufhorchens werte Zeichen hat er dennoch schon am Sonntagabend in seiner ersten Ansprache nach Verkündung seines Wahlsieges gesetzt.

Mursi erwähnte in seinen programmatischen Worten als erster Präsident seines Landes die ägyptischen Christen, die Kopten. Vor dem Hintergrund blutiger, vermeintlich religiös motivierter Unruhen ist dieses Signal der Versöhnung kaum zu überschätzen; und das von einem Mann, der von den meisten Medien und Politikern hierzulande bisher in gewollt abschätziger Weise als »Islamist« bezeichnet wird. Der Ton wird sich ändern, und ein wenig hat er das auch schon.

Sie werden mit ihm auskommen müssen, denn das hinter seiner Wahl eine Mehrheit der Ägypter steht, gestehen inzwischen selbst die Wahlverlierer ein. Ob und wie Mursi eine Modernisierung der polarisierten ägyptischen Gesellschaft gelingt, hängt allerdings von mehr ab als seinem guten Willen. Außerdem bestimmt derzeit in Ägypten eine Handvoll Generale die Politik, vor denen auch Mursi am Sonntag seinen Diener machte, indem er die Armee als »historische Institution « des Landes bezeichnete.

»Wir wollen Frieden«, sagte der neue Präsident, als er erklärte, dass Ägypten zu allen geschlossenen Verträgen uneingeschränkt stehe; eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber im Westen mehr oder weniger laut in Zweifel gezogen wird. Konkret geht es dabei um den 1979 geschlossenen Friedensvertrag mit Israel, in der politischen Gesamtschau aber wohl noch mehr um die besonders in Washington gehegte Befürchtung, man könne das Land am Nil als Eckpfeiler seiner Hegemonialpolitik im Nahen Osten einbüßen. Die USA freuten sich auf die Zusammenarbeit mit Mursi »auf der Basis gegenseitigen Respekts, um die vielen gemeinsamen Interessen Ägyptens und der USA zu fördern «, hieß es am Sonntag sibyllinisch in einer Erklärung des Weißen Hauses.

Israel, die USA und Westeuropa müssen von neuen Akzenten in der Nahostpolitik Ägyptens ausgehen – und das muss kein Widerspruch zu dessen Friedenswunsch sein. Die Muslimbrüder, deren Partei »Freiheit und Gerechtigkeit « bei den Wahlen mit Abstand die meisten Stimmen erhielt, haben bereits klargemacht, dass Frieden mit Israel für sie nicht länger heißt, wie bisher in dessen Interesse den Westausgang des Gefängnisses Gaza zu bewachen.

Und auch das dürfte Berlin, Jerusalem, vor allem aber Washington missfallen haben: Ägyptens erster frei gewählter Präsident strebt – im Gegensatz zu fast allen seiner arabischen Amtskollegen – eine Aussöhnung mit Teheran an. Die Ausweitung der Beziehungen, ließ er die iranische Agentur Fars wissen, würde »ein wirksames strategisches Gleichgewicht in der Region« herstellen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 26. Juni 2012


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