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Mubarak geht endgültig baden

Ägyptens Diktator erklärte Rücktritt und reiste ans Rote Meer / Der Oberste Militärrat übernahm die Macht im Land

Der ägyptische Präsident Husni Mubarak ist am Freitag (12. Feb.) unter dem Druck der Massenproteste zurückgetreten. Das teilte Vizepräsident Omar Suleiman in Kairo mit. Mubarak war am Nachmittag mit seiner Familie in den Badeort Scharm el Scheich am Roten Meer geflogen, wo er eine Villa besitzt.

Nach mehr als zwei Wochen langen Massenprotesten hat der ägyptische Präsident Mubarak den Rücktritt erklärt. Vizepräsident Suleiman gab am Freitag (11. Feb.) in Kairo bekannt, Mubarak habe die Führung des Landes an das Militär übergeben. Auf den Straßen von Kairo, wo es seit dem 25. Januar täglich Demonstrationen gegen Mubarak gab, brach daraufhin Jubel aus.

Es waren die Worte, auf die Millionen Menschen in ganz Ägypten seit Wochen gewartet hatten: »In Anbetracht der schwierigen Umstände, durch die das Land derzeit geht, hat Präsident Mohammed Husni Mubarak entschieden, den Posten des Staatschefs abzugeben«, sagte Suleiman. Auf dem Tahrir-Platz, dem Zentrum der oppositionellen Proteste, herrschte ein wahrer Freudentaumel. Hunderttausende Menschen, die sich dort auch am Freitag wieder versammelt hatten, feierten den Rücktritt Mubaraks. »Das Volk hat das Regime gestürzt!« rief die Menge. Überwältigt von den Eindrücken fielen einige Demonstranten in Ohnmacht. Der zwischenzeitlich inhaftierte Internet-Aktivist und Google-Manager Wael Ghonim schrieb auf seiner Seite beim Kurzbotschaftendienst Twitter: »Glückwunsch Ägypten! Der Verbrecher hat den Palast verlassen.«

Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Mussa, ist nach dem Rücktritt Mubaraks von einer positiven Zukunft des Landes überzeugt. »Ich bin optimistisch, dass wir den richtigen Weg für Ägypten und das ägyptische Volk einschlagen werden«, sagte der frühere Außenminister des Landes am Freitag. Der Abgang Mubaraks bedeute, »dass wir erreicht haben, was das Volk gefordert hat«.

Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei sagte: »Das ist der schönste Tag meines Lebens.«

In Tunesien, wo durch heftige Proteste Mitte Januar Präsident Zine el Abidine Ben Ali gestürzt worden war, kam es zu spontanen Freudentänzen auf den Straßen im Zentrum der Hauptstadt Tunis. Als Reaktion auf die Nachricht vom Rücktritt Mubaraks erklangen Hupkonzerte. »Großartig! Innerhalb eines Monats sind zwei Diktatoren gestürzt worden«, sagte eine Studentin.

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, Präsident Mubarak habe seinem Land mit dem Rücktritt einen »letzten Dienst« erwiesen. Sie bot der künftigen Spitze deutsche Unterstützung an. Die Bundesregierung erwarte, dass auch die neue Führung am Nahost-Friedensprozess sowie an den Verträgen mit Israel festhalte.

Unterdessen hat der Oberste Militärrat unter dem bisherigen Verteidigungsminister Mohammed Hussein Tantawi die Macht in Ägypten übernommen. Das Oberkommando der Streitkräfte werde Regierung und Parlament entlassen, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Arabija. Der Militärrat wolle die Macht dann zusammen mit der Spitze des Verfassungsgerichtes ausüben. Damit bleibt völlig offen, welche Rolle Suleiman künftig spielen wird.

Die ägyptische Armeeführung hatte am Freitag bereits eine Erklärung abgegeben, die der Bevölkerung politische Reformen garantiert. Das Oberkommando kündigte an, den Weg zu freien und fairen Wahlen zu sichern. Der seit Jahrzehnten geltende Ausnahmezustand solle aufgehoben werde, sobald es die Situation erlaube. Kein friedlicher Demonstrant müsse Strafverfolgung fürchten.

In der im Staatsfernsehen verlesenen Erklärung warnte die Armee vor jedem Versuch, die Sicherheit des Landes und der Bürger zu gefährden. Zudem rief sie zu einer Rückkehr zum normalen Leben auf. Die Beschäftigten von staatlichen Einrichtungen sollten wieder an die Arbeit gehen. Anders als die Polizei hat das Militär in Ägypten viel Sympathien.

Mubarak hatte am Nachmittag mit seiner Familie die Hauptstadt verlassen und war in den Badeort Scharm el Scheich am Roten Meer geflogen, wo er eine Villa besitzt. Augenzeugen in Kairo hatten berichtetet, ein Hubschrauber sei vom Präsidentenpalast im Kairoer Stadtteil Heliopolis aus abgeflogen. Wenig später landete Mubarak in Scharm el Scheich. Mehrfach war in den vergangenen Tagen die Möglichkeit ins Spiel gebracht worden, dass er sich dorthin zurückziehen könnte.

Der Diktator hatte am Vorabend (10. Feb.) in einer mit Spannung erwarteten Fernsehansprache einen Teil seiner Befugnisse an Suleiman abgegeben, ohne aber ein Wort zum einen Rücktritt zu sagen. Die Enttäuschung über diese verweigerte Abdankung bestimmte am Freitag die Proteste in Ägypten.

Landesweit gingen mehr als eine Million Menschen gegen Mubarak auf die Straßen. Allein im Stadtzentrum von Kairo versammelten sich auf dem Tahrir-Platz, vor dem Präsidentenpalast und vor dem Gebäude des Staatsfernsehens mehrere hunderttausend Menschen. Auch in etlichen anderen Städten gab es große Demonstrationen. Hunderttausende demonstrierten auf der Halbinsel Sinai und in Suez. Sie riefen: »Nieder mit Mubarak! Nieder mit (Vizepräsident) Suleiman!« In Al-Arisch eskalierte die Situation, ein Demonstrant wurde getötet. Die Protestierer hatten in der Stadt im Nordsinai eine Polizeistation angegriffen, daraufhin kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Augenzeugen berichteten, der Mann sei von Scharfschützen erschossen worden, die auf Dächern postiert waren. Wenige Stunden zuvor war es in Rafah, der Grenzstadt zum Gaza-Streifen, zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizisten gekommen, als die Demonstranten aus Vorfreude über einen möglichen Rücktritt Mubaraks in die Luft geschossen hatten. Bereits in der Nacht zuvor hatten Protestierende Polizeiwachen in der Stadt angegriffen.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Februar 2011


30 Jahre dauerte es, bis der Geduldsfaden riss

Gespräche auf dem Tahrir-Platz und in Zamalek, am anderen Ufer des Nils: "Wir hoffen nur, dass es kein weiteres Blutbad gibt."

Von Karin Leukefeld, Kairo **


Enttäuschung und Wut machten sich auf dem Kairoer Tahrir-Platz in der Nacht zum Freitag breit, nachdem Husni Mubarak nicht wie erhofft seinen Rücktritt verkündet hatte. Doch schon am Morgen danach hatten die Demonstranten neue Kräfte gesammelt.

Die Antwort auf Mubaraks Rede am Donnerstagabend kam prompt: Die Menschen auf dem Tahrir-Platz zogen ihre Schuhe aus, wedelten sie wütend durch die Luft und forderten Mubarak zum Rücktritt auf. Als kurz darauf Vizepräsident Omar Suleiman die Demonstranten in seiner Fernsehansprache aufforderte, nach Hause und zu ihren Arbeitsplätzen zurückzukehren, gab es kein Halten mehr: Tausende zogen vom Tahrir-Platz im Zentrum Kairos zum Staatlichen Fernsehsender am Nil-Ufer, nur wenige hundert Meter vom Platz der Befreiung entfernt. Tausende machten sich auf den langen Weg zum Präsidentenpalast in Heliopolis, den das Militär jedoch weiträumig abgesperrt hatte. »Morgen kommen wir mit Millionen wieder«, versprachen die Demonstranten zum Abschied.

Geschmückt mit den Farben Ägyptens

Kaum war die Sonne über dem Nil aufgegangen, kamen die Massen am Freitagmorgen tatsächlich zurück. Zu Fuß, per Auto oder Minibus, endlos strömten sie zum Freitagsgebet auf den »Platz der Befreiung«. Ganze Familien waren mit der ägyptischen Nationalfahne geschmückt, die von fliegenden Händlern in allen möglichen Variationen angeboten wird: als Hut, als Stirn- oder Armband, als Fahne und Anstecker, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Um die Mittagszeit standen die Menschen dicht an dicht auf der Kasr-al-Nil Brücke, das Militär kontrollierte wenig und sorgte für ein möglichst zügiges Weiterkommen der Demonstranten. Die Protestierenden vor dem Staatlichen Fernsehsender hatten die Nacht vor dem Gebäude verbracht, das vom Militär mit einem provisorischen Stacheldrahtzaun abgesperrt ist. Doch niemand hatte vor, das Gebäude zu stürmen. Die Menschen lagerten davor, gingen spazieren, die Parolen hallten über den Nil bis zum anderen Ufer und konnten auch im Gezira-Club in Zamalek, wo die reiche Oberschicht reitet, läuft und Tennis spielt, nicht mehr ignoriert werden.

»Wir sind stolz auf unsere Jugend«

»Unsere Tochter hat nach Mubaraks Rede gestern Abend gefragt, ob er in den letzten zwei Wochen nur Trickfilme im Fernsehen gesehen hätte«, erzählt dort ein Ehepaar, das sich als »Die Ägypter« vorstellt. Beide sind Akademiker. Ihre Tochter sei in den vergangenen Tagen mehrfach allein mit ihren Freundinnen auf dem Platz gewesen, erzählt der 50-jährige Vater: »Nie hat sie sich so sicher und aufgehoben auf einem öffentlichen Platz gefühlt.«

Eigentlich liebten die Ägypter ihre Führer, erzählt der Mann weiter. Wenn sie ehrlich und zuverlässig seien, sich um das Volk kümmerten, dann vertraue man ihnen. »Es hat 30 Jahre gedauert, bis der Faden unserer Geduld mit diesem Regime gerissen ist«, fährt er fort. Doch nun sei es vorbei. »Wir hoffen nur, dass es kein weiteres Blutbad gibt«, sagt seine Frau, die eine schwarze Baseballkappe auf den lockigen Haaren trägt. »Die Armee muss sich auf unsere Seite stellen.«

Das Ehepaar hat von seinen Kindern erfahren, wie sich die Bewegung auf dem Tahrir-Platz entwickelt hat. Immer mehr Menschen seien es geworden in den vergangenen zwei Wochen. »Wir nehmen mehr als wir geben«, bekennt der Mann, »wir sind stolz auf unsere Jugend.«

Plötzlich wird es ruhig auf dem Tahrir-Platz, von der Bühne wird das Kommuniqué Nummer 2 der Streitkräfte verlesen, das mit der Parole »Volk und Armee Hand in Hand« beantwortet wird. Eigentlich hatte die Armee nicht viel Neues zu erklären: Man respektiere die »legitimen Forderungen des Volkes«, die man »präzise umsetzen« wolle und garantiere den Demonstranten Sicherheit. Niemand müsse Strafverfolgung befürchten – das hatte zuvor schon Vizepräsident Omar Suleiman versichert. Die politische Entwicklung solle sich »im Rahmen der Verfassung« halten, hieß es weiter – für die Demonstranten unakzeptabel, die eine neue Verfassung bald und die Änderung von fünf Artikeln sofort verlangen. Der seit 1981 geltende Ausnahmezustand solle zudem aufgehoben werden, versprach das Zentralkommando, Voraussetzung sei allerdings ein Ende der Proteste.

»Besser als nichts«, meint der Student Abdullah Kamal, der wie seine Freunde die Aufforderung zum Beenden der Proteste einfach ignoriert. »Jetzt muss die Armee Mubarak absetzen und Ordnung herstellen.«

Niemand denkt daran, nach Hause zu gehen

Abdullah betreibt mit Freunden und Kommilitonen in einem Rohbau am Rande des Tahrir-Platzes die »Revolutionäre Nachrichtenagentur«. In einem Raum liegen Decken, auf denen etliche Mitkämpfer schlafen, in einem anderen Raum gluckert ein Teekocher vor sich hin. Nebenan stehen Computer auf dem Boden, auf denen die neuesten Nachrichten aus anderen Teilen des Landes einlaufen. »Streiks in Alexandria, Mahalla, Ismailija und Mansour«, zählt Abdullah auf. »Kämpfe in Port Said und Kafr Scheich, Tausende vor dem Präsidentenpalast und dem Staatlichen Fernsehen«. Leider sei der Drucker kaputt gegangen, entschuldigt er sich und verspricht, das nächste Bulletin am Abend per E-Mail weiterzuleiten.

Am späten Nachmittag drängen sich noch immer Hunderttausende auf dem Tahrir-Platz und den umliegenden Straßen und Brücken. Ihre Parolen erfüllen die Luft über Kairo, niemand denkt daran, nach Hause zu gehen, solange Mubarak weiter im Amt ist.

Als die Sonne untergeht, macht eine neue Eilmeldung die Runde: Mubarak und seine Familie haben Kairo verlassen, in Richtung Badeort Scharm el-Scheich.

** Aus: Neues Deutschland, 12. Februar 2011

Der Langzeitpräsident

Mubaraks Macht zerfiel in wenigen Wochen ***

Fast drei Jahrzehnte war Husni Mubarak der unantastbare Herrscher vom Nil. Knapp drei Wochen dauerte es, bis seine Macht zerfiel. Unter den Führern der arabischen Welt hatte Mubarak eine Sonderstellung. Fast 30 Jahre führte er das bevölkerungsreichste Land im Nahen Osten und pflegte bis zu Beginn der Unruhen gleichzeitig gute Beziehungen zu den USA und Israel. Nun fordern die USA wie Hunderttausende seiner Landsleute rasche und tiefgreifende politische Reformen.

Der Beamtensohn Mubarak kam über eine Militärkarriere in die Politik. Als Vizepräsident rückte er 1981 automatisch an die Staatsspitze, als Präsident Anwar el Sadat wegen seines Friedensvertrags mit Israel von radikalen Muslimen ermordet wurde. Mubarak gelang es, trotz des in der arabischen Welt umstrittenen Friedensvertrages mit Israel Ägypten in einer regionalen Führungsrolle zu halten.

Mit seiner ausgleichenden Außenpolitik und seinem harten Vorgehen gegen radikale Muslimgruppen im Land, die in den 1990er Jahren ausländische Touristen und Staatsdiener töteten, verschaffte sich Mubarak im Westen breite Unterstützung. Er befürwortete 1991 den Krieg zur Vertreibung der Iraker aus Kuwait, versuchte 2003 aber, die USA von einem erneuten Irakkrieg abzubringen.

Der Westen sah in dem Präsidenten einen verlässlichen Partner und entscheidenden Pfeiler für die Stabilität im Nahen Osten. Daher wurde sein Land mit Milliarden unterstützt. Über Menschenrechtsverletzungen sah der Westen hinweg oder schwieg dazu.

*** Aus: Neues Deutschland, 12. Februar 2011



"Wir werden alle Machtzentren belagern"

Bevölkerung Ägyptens läßt sich nicht spalten: Proteste werden andauern, bis Mubaraks Regime abgetreten ist. Ein Gespräch mit Ayman Mahmud ****

Ayman Mahmud (27) ist Ingenieur. Seit dem 25. Januar 2011 beteiligt er sich an den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo.

Vor einer Woche gab es auf dem Tahrir-Platz in Kairo den »Tag des Rücktritts«, doch Präsident Mubarak trat nicht zurück. Damals sagten Sie, wenn er nicht zurücktritt, werden wir zum Präsidentenpalast marschieren. In seiner Rede am Donnerstag abend weigerte sich Mubarak erneut, sein Amt zu verlassen. Was werden Sie jetzt tun?

Wir haben unsere Antwort schon gegeben. Vor drei Tagen sind wir zum Parlament gegangen, in der Nacht zum Freitag zum Staatlichen Fernsehsender und zum Präsidentenpalast nach Heliopolis. Alle Institutionen und Machtzentren des Regimes werden wir belagern, bis es verschwindet.

Präsident Mubarak sagt, er wolle bis zum September im Amt bleiben, weil er sich für Ägypten und die Jugend des Landes verantwortlich fühlt.

Das akzeptieren wir nicht. Er hört uns nicht zu, er nimmt uns nicht ernst. 30 Jahre hat er Zeit gehabt, die Politik und das Land zu reformieren. Er hat uns immer wieder Änderungen versprochen, Donnerstag abend auch wieder. Aber alle Versprechen haben sich als falsch herausgestellt, wir vertrauen diesem Mann nicht, er muß gehen.

Vertrauen Sie dem Militär?

Diejenigen, die hier auf den Straßen sind und kontrollieren, sind unsere Brüder. Jeden Tag, wenn wir kommen oder gehen, geben wir uns die Hand und reden miteinander. Unsere Parole ist »Volk und Armee Hand in Hand«. Bei den Generälen ist das anders, die wurden von Mubarak ernannt und müssen erst noch beweisen, ob sie auf unserer Seite sind. Was sie bisher gesagt haben, reicht nicht aus.

Sind Sie organisiert? Wie haben Sie von diesen Protesten erfahren?

Nein, ich gehöre keiner Organisation an. Von diesen Protesten hatte ich kurz vor dem 25. Januar über Facebook erfahren. Es gab diesen Aufruf an alle Ägypter jeden Alters, jeder Herkunft. Freunde erzählten davon, Familien haben sich informiert. Hier ist meine Schwester mit ihrem Sohn und hier sind mein Bruder und mein Cousin. Diese neuen Medien sind wirklich stark, damit können wir jeden überall in Ägypten erreichen.

Der Aufruf wird von Millionen befolgt, aber gibt es Namen, Gesichter, die für diese Bewegung sprechen können? Im Ausland spricht man von Amr Moussa oder Mohamed ElBaradei

Wir werden niemanden wählen, bevor das Regime sich nicht aufgelöst hat, darüber sind wir uns alle einig.

Wir wollen eine Regierung der nationalen Einheit für eine Übergangszeit, die soll freie und faire Wahlen vorbereiten. Wir brauchen eine neue Verfassung. Das Volk wird entscheiden. Ein zentraler Punkt muß sein, daß die Macht geteilt wird. Wir brauchen eine Exekutive, eine Jurisdiktion und eine Legislative, so wie Sie es in den europäischen Ländern haben. Und die vierte Macht wird die Presse sein, die Medien, die öffentliche Meinung. Ein Militärregime wird es hier nicht mehr geben.

Welche Rolle spielen die westlichen Staaten, welchen Einfluß haben sie auf das Regime?

Den USA trauen wir sowieso nicht, das Regime Mubarak hat eine zentrale Bedeutung für den US-Einfluß hier in der Region. Wenn wir unsere neue, freie Regierung haben, werden wir darüber nachdenken, welche Beziehungen wir mit den USA wollen. Mit den europäischen Staaten haben wir diese Probleme nicht. Wenn sie uns helfen wollen, sollen sie mehr Druck auf das Regime ausüben, politisch und vor allem wirtschaftlich, damit es endlich verschwindet.

Im Westen wird viel darüber spekuliert, daß Ägypten ein islamischer Gottesstaat werden könnte wie der Iran.

In Ihren Ländern herrscht eine richtige Islamophobie, das hat nichts mit uns zu tun. Alle Leute hier, auch die Muslimbrüder, mit denen ich gesprochen habe, wollen eine Demokratie nach westlichem Vorbild. Wir wollen eine moderne Regierung, keinen religiösen Staat. Alle Bürger werden die gleichen Rechte haben, egal welcher Religion sie angehören, egal ob Männer oder Frauen. Die Muslimbruderschaft gehört zu unserer Nation, sie sind ein Teil von uns. Sie können eine Partei oder vier haben, sie haben auch nicht alle die gleiche Meinung. Unser Problem ist Herr Mubarak, er muß gehen, dann wird das Volk sprechen und seine Vertretung wählen.

Der Platz ist voller Menschen, und trotzdem sind diese ruhig, rücksichtsvoll, es gibt medizinische Hilfe, ein Fundbüro, einen Putzdienst ...

Das hier ist unser Land, jeder fühlt Verantwortung für die gesamte Nation, und so organisieren wir uns. Wir haben den Putzdienst, wir haben einen Sicherheitsdienst gegen die Schlägertrupps des Regimes, Essen wird verteilt, wir haben auch Waschgelegenheiten und Toiletten, das alles ist Teil unserer Bewegung. Was sich hier entwickelt, nennen die gebildeten Leute unter uns, die Zugang zum Internet haben, die Wikikultur. Sie kennen ja Wikileaks, Wikipedia und wir haben hier die Wikikultur.

Meinen Sie nicht, daß es zwischen Ihnen, als modernen Vertretern der Wikikultur und den Bauern aus dem Nildelta, den Beduinen aus dem Sinai, den Analphabeten aus den Slums einen zu großen Unterschied gibt?

Nein, alle sind hier. Die Bauern aus dem Nildelta sind hier, Arbeiter aus Suez, Nubier vom Oberen Nil. Was sie hindert, sich uns anzuschließen, ist das Regime. Straßen wurden gesperrt, um die Leute aufzuhalten, die staatlichen Medien haben falsch über uns berichtet; wenn uns etwas trennt, dann ist es das. Wir sind alle Ägypter, wir gehören alle zusammen. Wir haben kein Problem, uns zu verständigen. Hier auf dem Platz und bei allen unseren Protesten sehen Sie, daß das Volk nicht gespalten ist. Wir sind von allen Klassen, allen Altersstufen, allen Berufen, Religionen mit der gleichen Forderung: Das Regime muß gehen.

Interview: Karin Leukefeld, Kairo

**** Aus: junge Welt, 12. Februar 2011


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