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Spielwiese der Militärs

In Ägypten ist der seit der Entmachtung der Muslimbrüder verhängte Ausnahmezustand zwar aufgehoben, doch die Armee bestimmt Geschehen und Straßenbild

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Ende August in Ägyptens Hauptstadt Kairo. Die Straßen sind leer gefegt. Kein Mensch ist unterwegs, keine Autos oder Busse, nicht einmal Straßenhändler bieten ihre Ware feil. Geschäfte sind geschlossen. Selbst die »Kuschks«, kleine überall in der Stadt zu findende Kioskgeschäfte, die Getränke, Süßigkeiten und Tabakwaren anbieten, sind verbarrikadiert. Das normalerweise alles übertönende Hupkonzert in der Stadt ist verstummt. Es herrscht gespenstische Stille. Kairo, nach offiziellen Zahlen die drittgrößte Stadt Afrikas und zusammen mit Giza die größte Metropolregion des Kontinents, mit seinen 22 bis 25 Millionen Einwohnern, ist eine Geisterstadt. Ab und an durchbricht das Rotorengedonner der auch nachts am Himmel patrouillierenden Militärhelikopter die Stille. An Kreuzungen, vor Regierungsgebäuden und an den Nilbrücken hat die Armee Stellung bezogen, Checkpoints errichtet und mit Stacheldraht die Straßen versperrt. Soldaten sitzen gelangweilt auf ihren Panzern, automatische Waffen im Anschlag. Es herrscht Ausgangssperre am Nil.

Übergangspräsident Adli Mansur hat am 14. August den Notstand verhängt, nachdem Ägyptens Sicherheitsapparat mit der gewaltsamen Räumung der Protestlager der Muslimbrüder an der Rabaa Al-Adawija-Moschee in Nasr City im Osten Kairos und am Nahda-Platz in Giza begonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten Muslimbrüder und Anhänger des am 3. Juli vom Militär abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi bereits sechs Wochen gegen ihre Entmachtung demonstriert, stur die Wiedereinsetzung des in ihren Augen legitimen Präsidenten gefordert und sich in den Protestcamps häuslich niedergelassen. Das Land hielt wochenlang den Atem an. Die Menschen waren nervös. Immer wieder kam es allerorten zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen Mursi-Anhängern und Sicherheitskräften. Schnell war klar, daß die Bruderschaft keineswegs gedachte, ihre Proteste zu beenden. Schließlich konnte die vorerst politisch gescheiterte Organisation auf ihr Fußvolk bauen, das sich monatelang Tag für Tag für Proteste mobilisieren ließ.

Mediale Hetzkampagne

Die Menschen vor allem in den urbanen Zentren Ägyptens sind inzwischen an politische Instabilitäten, Demonstrationen und blutige Zusammenstöße gewöhnt. Doch es lag etwas in der Luft. Die Militäroffensive gegen gewaltbereite Islamisten im hermetisch abgeriegelten Nordsinai machte Schlagzeilen und die Verbal­attacken von Regierung und Militärführung gegen die Bruderschaft wurden martialischer. Das aus der Asche auferstandene alte Regime wertete den Machtkampf am Nil zum symbolhaften Kampf »Gut gegen Böse« auf. Von einem Tag auf den anderen wurde die Bruderschaft im Staats- und Privatrundfunk konsequent nur noch mit »Terroristen« gleichgesetzt. Staatsmedien und das Gros der Privatpresse sind voll auf Regierungskurs. So unfähig die Muslimbrüder sich auch gezeigt haben, das Land zu regieren, so sehr ist die mediale Hetzkampagne gegen sie ein Sinnbild für die Rückkehr des alten Militärstaates, der fest entschlossen ist, die alte Ordnung zu restaurieren. Die Feindschaft zwischen Militär und Bruderschaft ist wieder offiziell Teil der Staatsideologie. Die Kampagne gegen die 85 Jahre alte Organisation war ein Vorgeschmack auf die Ereignisse, die folgen sollten.

Armeefunktionäre und Mitglieder der Übergangsregierung unter Premierminister Hasim Al-Beblawi ließen sich auf das Katz-und-Maus-Spiel ein und setzten auf Zuckerbrot und Peitsche. Die Falken im Kabinett nannten die Protestcamps der Bruderschaft eine Gefahr für die »nationale Sicherheit«, dort seien Waffendepots angelegt worden und man werde den »Terroristen« mit Härte begegnen, während Tauben wie Mohammed ElBaradei erfolglos einen Dialog forderten. Die Führungskader der Bruderschaft ließen ihre Gefolgschaft in den Camps ausharren und warteten auf die Reaktion des Staates, wohlwissend, daß sie von erneutem Blutvergießen profitieren würden. Ihr Martyrium im Kampf gegen altes Regime, Staats- und Militärapparat, so ihr Kalkül, würde ihren politischen Zielen Legitimität verleihen und ihre politischen Verfehlungen sowie ihre Randale Anfang Juli vergessen machen. Tagelang nach Mursis Absetzung zog damals seine Anhängerschaft randalierend durch die Straßen, attackierte willkürlich Passanten, zündete Kirchen an.

Das Übergewicht der Falken in der Übergangsregierung und im Generalstab sowie ihre schärfer werdende Rhetorik ließ die Menschen sorgenvoll den am Himmel patrouillierenden Militärhelikop­tern nachschauen. Die Freude von Millionen über das Ende der einjährigen Regentschaft Mursis war längst verflogen, die Ungewissheit über die Zukunft der jäh abgebrochenen politischen Konsolidierung am Nil allerorts spürbar. Die Massenproteste gegen die Bruderschaft am 30. Juni seien die Fortsetzung der Revolution und mit der Absetzung Mursis habe die Armeeführung den Willen des Volkes erhört, sagt Mohammed Nabawi, Mitglied des fünfköpfigen Politbüros von Tamarud (Arabisch für Rebellion), der Gruppe, die im Frühjahr mit einer Unterschriftensammlung Mursis Sturz einleitete. »Alle Ägypter unterstützen die Armee. Sie hat die Menschen vor Flüssen aus Blut gerettet«, sagt Nabawy weiter. Das Tamarud-Politbüro steht der Militärführung nahe, auch wenn sich an der Basis Unmut über den Autoritarismus des Regimes breit macht. Daß die Armee das Land am Nil weniger vor »Flüssen aus Blut« gerettet als diese vielmehr provoziert hat, wird kategorisch verneint. Viele Menschen haben die Brutalität des Sicherheitsapparates unter dem 2011 gestürzten Hosni Mubarak und der Militärherrschaft des Obersten Militärrates (SCAF) von Februar 2011 bis Juni 2012 unter Feldmarschall Hussein Tantawi vergessen und sind den Militärs in die Arme gelaufen, ignorierend, daß diese unter Mubarak, Tantawi und auch Mursi die Schaltstellen der Macht kontrolliert haben, meint hingegen Mohammed Al-Adawy, ein junger Bankangestellter aus Shubra im Norden Kairos.

Am 14. August, kurz nach Ende des Fastenmonats Ramadan, brachen schließlich alle Dämme. Im Morgengrauen rückten Armee und die dem Innenministerium unterstellten paramilitärischen Zentralen Sicherheitskräfte (CSF) vor den Camps an und begannen mit der gewaltsamen Räumung der Lager. Während die Armee die Areale großräumig absperrte und im Hintergrund blieb, übernahm die CSF die Drecksarbeit. Mit Tränengas, Gummigeschossen und scharfer Munition rückten sie vor und machten die Camps mit Bulldozern wortwörtlich dem Erdboden gleich. Ein jüngst veröffentlichter Bericht des Gesundheitsministeriums spricht von 627 Toten an der Rabaa Al-Adawija. 21 Menschen seien am Nahda-Platz und 120 bei den Ausschreitungen am Ramses-Platz in Kairos Stadtzentrum wenige Tage später getötet worden.

Interimspräsident Mansur verhängte noch am Tag der Räumung der Protestcamps den Notstand und verkündete eine tägliche Ausgangssperre von 19 bis 6 Uhr. »Seit der Revolution 2011 haben wir immer wieder Ausgangssperren erlebt, doch diesmal halten sich die Menschen an die Vorgaben. Sie haben Angst, nachdem sie gesehen haben, was in Nasr City und Giza geschehen ist«, sagt Karim Mostafa, ein Gemüsehändler aus Giza. Nach Räumung der Camps zogen Anhänger der Muslimbrüder weiter durch die Straßen, doch Armee und CSF gingen mit aller Härte gegen sie vor. Die Stimmung am Nil war nach dem 14. August am Tief-, die Nervosität am Höhepunkt. Es herrschte Ungewißheit und Frustration.

»Die Touristen werden jetzt gewiß nicht so schnell zurückkehren nach den Massakern und der Gewalt in den Straßen«, sagt Mostafa, »aber wenigstens haben die Kinder abends Platz zum Fußballspielen.« Die gähnend leeren Straßen sind plötzlich frei. Der aus allen Nähten platzende Verkehr in der Metropole ist zum Erliegen gekommen, kaum ein Mensch ist auf den Straßen unterwegs, schon gar keine Autos. Kinder scheren sich im Alltag wenig um den Verkehr und machen aus der Not eine Tugend. Öffentliche Sportplätze sind rar gesät und in einem jämmerlichen Zustand, doch nutzen die Kinder den engen Raum der kleinen Gassen geschickt und finden immer einen Platz zum Fußballspielen. Die Ausgangssperre ist für sie ein Glücksfall, können sie doch unverhofft ihre improvisierten Spielfelder aus den engen mit Autos zugeparkten Gassen auf vierspurige Hauptstraßen verlagern und sich ungestört in der Ballkunst messen.

Während Hauptverkehrskreuzungen und Nilbrücken vom Militär mit Panzern und Stacheldraht abgesperrt sind, geht das Leben abseits der Hauptstraßen seinen gewohnten Gang, wenn auch deutlich ruhiger. Die Ausgangssperre hindert die Menschen vor allem daran, von einem Stadtviertel zum anderen zu gelangen. Nachts die Armeecheckpoints zu passieren, ist zwar möglich, doch oft werden Menschen stundenlang an Checkpoints festgehalten oder dürften gar erst nach Ende der Ausgangssperre im Morgengrauen ihren Weg fortsetzen. Wer dieses Risiko verringern und Kontrollen umgehen will, muß unausweichlich lange Umwege in Kauf nehmen oder sich durch die verwinkelten Gassen der Viertel schlängeln.

Auch der öffentliche Nahverkehr ist eingeschränkt und macht es noch schwieriger, sich in der Stadt fortzubewegen. Kairo platzt aus allen Nähten, vor allem da das Gros des Verkehrs überirdisch abläuft. Es gibt gerade mal drei Metrolinien und eine davon ist nicht einmal fertiggestellt und verbindet bislang lediglich das Zentrum mit Abasseya im Osten der Stadt. Um den Zulauf zu Protesten aus den Vororten einzuschränken, ließ die Regierung beide Umsteigebahnhöfe zwischen den zwei Metrolinien schließen. Der nach dem alten Staatspräsidenten Anwar Al-Sadat benannte U-Bahnhof am Tahrir Platz ist bis heute geschlossen. Der zweite Umsteigebahnhof am Ramses-Platz, Al-Shohadaa, der erst 2011 umbenannt wurde und vorher ausgerechnet den Namen Mubaraks trug, ist überfüllt. Züge und Bahnsteige sind überfüllt, das Umsteigen kann gut eine halbe Stunde dauern – und das bei nur rund 150 Metern Fußweg. Massenpaniken und lautstarke Streitereien sind die Regel. Soldaten stehen an den Ein- und Ausgängen und sollen für Ruhe sorgen.

Nachdem sich die Lage auf den Straßen wieder etwas beruhigt hat, verkürzte die Regierung die Ausgangssperre Schritt für Schritt, erst auf 21 Uhr, später auf 23 Uhr. Wer dennoch kurz vor Ausgangssperre unterwegs ist und sich am Abend nicht mehr in die völlig überfüllten letzten Züge quetschen kann, hat ein Problem. Taxis sind unterwegs, doch um diese Zeit ist es schwer, eines zu finden.

Bewegt man sich nach Beginn der Ausgangssperre abseits der Hauptstraßen, präsentiert sich Kairo jedoch von seiner normalen Seite. In Dokki bleiben Geschäfte und Teehäuser bis spät in die Nacht geöffnet, Obst- und Gemüsehändler sitzen am Soliman-Gohar-Markt vor ihren Ständen und gehen nachts ihren Geschäften nach. Tomaten oder Mangos kaufen, Shisha rauchen oder Tee trinken nachts um drei Uhr? Kein Problem. Am Dokki-Platz, einer Kreuzung an der Südflanke des Viertels, fährt Anfang Oktober eine Hochzeitsgesellschaft nach Westen. Am Checkpoint kontrollieren Soldaten die Papiere. Ein Mann mit Kamera steigt aus einem Wagen und filmt die Papierkontrolle des Hochzeitspaares, die Soldaten lassen sich ungestört aufnehmen und werden von den Hochzeitsgästen mit Gebäck versorgt.

Es kehrt wieder Normalität ein in Kairo, Alltagstrott. Trotz Ausgangssperre sind nachts deutlich mehr Menschen unterwegs. Nun, Ende November, ist der Verkehr zurück, die Stadt wieder chronisch verstopft und die Luftverschmutzung zurück auf altem Niveau.

Notstand aufgehoben

Zwar gehen auch im November regelmäßig Mursi-Anhänger auf die Straße und geraten immer wieder mit Sicherheitskräften aneinander, doch die Lage am Nil hat sich deutlich entspannt. Polizei und Armee setzen auf weniger blutiges Einsatzgerät und lassen die scharfe Munition im Schrank. Auch sind die Protestzüge der Muslimbrüder weitaus kleiner als noch im Sommer. Der entmachtete Präsident sitzt unterdessen weiterhin im Gefängnis. Der Gerichtsprozeß gegen ihn – Mursi wird beschuldigt, im Dezember 2012 seine Anhängerschaft zu Gewalt aufgerufen zu haben – wurde nach nur einer Sitzung vorerst auf Januar verschoben.

Am 12. November verfügte das Kairoer Verwaltungsgericht das Ende des Ausnahmezustandes. Der Notstand wäre zwei Tage später regulär ausgelaufen, da seine Verlängerung nur durch Abhaltung einer Volksabstimmung mit dem von Präsident Mansur am 14. August erlassenen Präsidialdekret vereinbar gewesen wäre. Doch das Gericht beendete die staatlichen Sonderbefugnisse vorzeitig. Die Regierung machte keine Anstalten, ein Referendum zu organisieren. Militärführung und Kabinett wollen aufgrund drei anstehender Urnengänge – das Verfassungsreferendum, die für April erwarteten Parlaments- und im Sommer geplanten Präsidentschaftswahlen – weitere Abstimmungen möglichst vermeiden. Man fand eine andere Lösung, um weiter die Kontrolle über Ägyptens Straßen zu haben. Die Armee scherte sich in den ersten Tagen nach offiziellem Ende des Notstandes und der Ausgangssperre nicht um deren Beendigung. Panzer säumten nach wie vor die Hauptstraßen, auch zahlreiche Checkpoints blieben bestehen. Erst mit einer Woche Verspätung verschwanden die Stahlkolosse und an ihre Stelle traten Polizei oder CSF, die von nun an die Checkpoint bedienen. Geändert hat sich nur die Farbe der Uniformen, nicht aber die Präsenz der Sicherheitskräfte in den Straßen.

Der Tahrir-Platz, das Symbol der Revolution 2011 und seitdem regelmäßig Schauplatz von Protesten verschiedenster politischer Strömungen, ist seit Mitte Juni zu einer Spielwiese der Militärs verkommen. 20 Panzer sind am Ägyptischen Museum stationiert. Regelmäßig wird der Platz hermetisch abgeriegelt. Die Armee zelebriert ihre Präsenz und betreibt gezielt Symbolpolitik. Schließlich versucht sich Ägyptens Militär als Verteidiger der Revolution und Bollwerk gegen den Terrorismus zu gebärden. Im November fanden erstmals wieder größere Demonstrationen säkularer Gruppen auf dem Tahrir statt – gegen die Armee. Denn das Übergangsregime hat den Ausnahmezustand schlicht durch eine Gesetzesnovelle ersetzt. Sie kriminalisiert Demonstrationen und Streiks. Das Papier von Staatschef Mansur regelt und legalisiert sogar den Einsatz scharfer Munition.

* Aus: junge welt, Samstag, 7. Dezember 2013


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