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"Die Menschen in Ägypten haben ganz andere Sorgen"

Massenhafte Streiks für höhere Löhne. Proteste gegen den "Schmähfilm" werden von den Medien aufgebauscht. Ein Gespräch mit Annette Groth *




Die Proteste in der arabischen Welt gegen den in den USA produzierten islamfeindlichen Film bestimmen seit Tagen die Schlagzeilen – nichts liest man jedoch z. B. von den massenhaften Streiks in Ägypten. Sie haben dort Gespräche geführt – was tut sich wirklich auf Kairos Straßen?

In der Tat wurden wir gewarnt, aber von Unruhen haben wir nichts mitbekommen. Ich habe den Eindruck, daß die Proteste gegen diesen Film in der Presse aufgebauscht werden. Die Menschen in Ägypten haben ganz andere Sorgen, soziale Proteste stehen im Vordergrund. Die paar hundert Menschen, die vor der US-Botschaft demonstrierten, sind nichts gegen die Zehntausende, die zur Zeit für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen streiken. Neben Universitätsangestellten und Lehrern haben Arbeiter und Arbeiterinnen im Transport- und Textilsektor die Arbeit niedergelegt. Bei einem Mindestlohn von nur 30 Euro wundert man sich nicht über derart heftige Streikwellen.

Sie haben mit Gewerkschaftsvertretern gesprochen. Was hat sich seit dem Sturz des früheren Staatspräsidenten Hosni Mubarak verändert?

Ägyptens neuer Staatspräsident Mohamed Mursi, ein ehemaliges Mitglied der Muslimbrüder, hat Arbeitsplätze und bessere Arbeitsbedingungen versprochen, doch seit seiner Amtsübernahme hat sich nicht viel getan. Im Gegenteil: Die Lebensmittelpreise sind gestiegen, Steuern sollen erhöht und Subventionen für Wasser und Strom gekürzt werden.

Dennoch gibt es auch Positives zu berichten. Nach Angaben des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes EFITU gibt es mittlerweile 1000 unabhängige Gewerkschaften, 2,4 Millionen Menschen sind darin organisiert. Ihre zentralen Forderungen sind die Verankerung des Rechts auf freie Gewerkschaftsgründung in der neuen Verfassung und ein Mindestlohn von 150 Euro.

Wie geht die neue Regierung unter Präsident Mursi mit diesen Arbeitsniederlegungen um?

Die Polizei geht nach wie vor mit Gewalt gegen Demonstrationen und Streiks vor – der alte Sicherheits- und Polizeiapparat besteht ja noch. Eine international bekannte Menschenrechtsaktivistin sagte zu mir, die Folter sei in den Gefängnissen noch schlimmer geworden ist. An diesem Punkt muß man der ägyptischen Regierung Druck machen! Leider ist das Prinzip »Handel kommt vor Menschenrechten« vorherrschend, obwohl Artikel 2 des Handelsabkommens zwischen Ägypten und der EU alle Partner zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Dennoch werden Menschenrechte in Ägypten mit Füßen getreten.

Anfang September wurde bekannt, daß Deutschland zwei U-Boote an Ägypten verkaufen will. Wie stehen Sie zu diesem Waffengeschäft?

Jedes Rüstungsgeschäft mit Staaten in dieser Region ist ein Skandal – Exporte in Spannungsgebiete sind laut Grundgesetz verboten. Dennoch liefern wir Waffen an Israel, Ägypten, Libyen, Saudi-Arabien und Algerien und kümmern uns nicht darum, was mit ihnen geschieht. Viele Waffen werden unkontrolliert weiterverkauft und sind in die Hände terroristischer Gruppen gelangt. Daher fordert die Linke ein totales Verbot von Rüstungsexporten. Vor allem die Länder im Nahen Osten brauchen keine Waffen, sondern Brot, Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen. Waffenkäufe entziehen den Staatshaushalten Geld.

Sie haben sich mit dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Hamdin Sabahi getroffen, der nur knapp die Stichwahl verpaßte. Wofür steht er?

Sabahi steht für Freiheit und soziale Gerechtigkeit – das waren die Ziele der Revolution. Der Sturz Mubaraks war ein Erfolg, aber nun müssen die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden. Sabahi bezweifelt, daß Mursi dieser Aufgabe gewachsen ist. Schließlich arbeitet die neue Regierung mit den Schergen des alten Regimes zusammen. Ein grundlegender Wandel im Staatsapparat ist nur möglich, wenn man die alten Verbündeten Mubaraks strafrechtlich verfolgt. Das geschieht jedoch nicht.

Interview: Sofian Philip Naceur

* Annette Groth, Bundestagsabgeordnete und menschenrechtpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag

Aus: junge Welt, Samstag, 22. September 2012


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