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Verhärtete Fronten in Ägypten

Ultimatum des Militärs abgelaufen / Keine Annäherung nach Krisengesprächen

Von Roland Etzel *

Das von Ägyptens Militärrat den Konfliktparteien gesetzte Ultimatum ist gestern abgelaufen. Nachdem der Präsident den Forderungen nicht im gewünschten Maße nachgekommen war, begann die Armee, in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen. Am Nachmittag hatte es Krisengespräche bei der Militärführung gegeben.

Ägyptens Militärs meinen es ernst. Sie haben erklärt, dass sie die hochexplosive Konfrontation in der ägyptischen Gesellschaft abbauen wollen, die sich innerhalb der vergangenen zwei Wochen immer mehr auf die Formel pro oder kontra Staatspräsident Mohammed Mursi reduzieren ließ.

Kurz vor Ablauf des Ultimatums hatte Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi am Mittwoch laut dpa Oppositionsvertreter zu einem Gespräch gebeten, darunter den früheren Präsidenten der Internationalen Atomenergiebehörde und Friedensnobelpreisträger, Mohammed el-Baradei. Eingeladen waren zu getrennten Krisengesprächen auch Vertreter der im Parlament dominierenden und den Muslimbrüdern nahestehenden Parteien, der Protestbewegung »Tamarud« und prominente Korangelehrte. Die Muslimbrüder lehnten die Teilnahme ab. Ihr Sprecher, Gehad al-Haddad, twitterte, das Militär sei kein politischer Akteur und damit nicht in der Position, solche Verhandlungen zu führen. Kairos führende Zeitung »Al-Ahram« hatte den Treffen ohnehin wenig Erfolgsaussichten vorhergesagt.

Um inhaltliche Dinge geht es schon seit Wochen nicht mehr. Kompromissbereitschaft war auch in keinem der Lager zu spüren gewesen. Die Wortführer der Demonstranten lehnten jede Lösung unterhalb des Präsidentenrücktritts und neuer Wahlen ab. Präsident Mursi hatte sich in einer Rede am Vorabend zwar konziliant, aber nicht rücktrittsbereit gezeigt. Er sei vor einem Jahr mit großer Mehrheit gewählt worden und habe folglich einen legitimen Auftrag des Volkes für dieses Amt.

Auf dem Kairoer Tahrir-Platz, dem zentralen Protestort der Opposition, sammelten sich gestern schon seit dem Mittag Zehntausende Menschen zur vermeintlich entscheidenden Kundgebung. Der nd-Berichterstatter sprach von einer angespannten, feierlichen und gleichzeitig fröhlichen Stimmung.

Mursis Unterstützer kamen unterdessen im Stadtteil Nasr-City zusammen, wie Fernsehbilder zeigten. Die Polizei soll Leibwächter des Vorsitzenden der Muslimbruderschaft ohne Angabe von Gründen festgenommen haben. Ihr Sprecher Haddad rief die Anhänger dazu auf, Mursi – den Präsidenten aus ihren Reihen – mit dem Leben zu verteidigen: »Der einzige Plan, den die Menschen angesichts eines Putschversuchs haben, ist, sich vor die Panzer zu stellen. So wie wir es bei der Revolution des 25. Januar (2011) gemacht haben.«

Der katarische Sender Al Dschasira berichtete am Mittwochmorgen unter Berufung auf das Gesundheitsministerium in Kairo von 22 Toten bei Auseinandersetzungen am Vorabend.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 4. Juli 2013


Opposition streckt nicht die Fahnen

Auf den Straßen Ägyptens wird um eine Entscheidung im Machtkampf gerungen

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Der Machtkampf in Ägypten ist am Mittwoch in eine entscheidende Phase getreten – was wie selten zuvor auf Kairos Straßen zu spüren war.

Im gesamten Land bleiben Geschäfte geschlossen, die Menschen schließen sich zu Hunderttausenden den Demonstrationen an. Das chronische Verkehrschaos in der Hauptstadt ist wie weggeblasen. Dort, wo man sonst stundenlang im Stau feststeckt, sind die Straßen frei. Auf der Autobahn nach Heliopolis, dem Sitz des Präsidentenpalastes und Schauplatz der Oppositionskundgebungen, sind nur Fahrzeuge unterwegs, die den Amtssitz von Präsident Mohammed Mursi ansteuern. Geschmückt mit Ägyptens Nationalfahnen, einem Symbol der Revolution, und lautstark hupend bewegen sich überall Menschen zu den Protesten. Das Motto der Revolution »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit« ist allgegenwärtig.

Die Stimmung am Tahrir-Platz im Herzen Kairos und in dem Stadtteil Heliopolis ist ausgelassen, aber angespannt. Viele sind an diesem Mittwochnachmittag schier überwältigt von der neuerlichen revolutionären Dynamik auf den Straßen. Dennoch herrscht Unsicherheit über die Perspektive einer erneuten Machtübernahme der Streitkräfte. Immer wieder brandet vor dem Präsidentenpalast Jubel auf, wenn die seit Sonntag pausenlos über Kairo patrouillierenden Militärhubschrauber die Menge überfliegen. Kurz nachdem die Armee am Montag das Ultimatum verlesen hatte, das alle politischen Fraktionen aufrief, innerhalb von 48 Stunden »die Forderungen des Volkes zu erfüllen«, begann ein stundenlanges Hupkonzert in der Hauptstadt. Nicht wenige erhoffen sich von Mursis Absetzung durch die Armee Stabilität und geordnete Neuwahlen.

Dienstagabend wurde es zeitweilig still in Kairo. Mursi hielt eine Ansprache im Fernsehen, betonte, er sei demokratisch gewählt und der rechtmäßige Präsident, appellierte an das Militär, das Ultimatum aufzuheben. Er werde sich dem Druck nicht beugen. Gebannt verfolgten die Menschen die Worte des angezählten Staatschefs. Aus unzähligen Häusern war lautstark Mursis Stimme zuhören.

Sofort nach Ende der Übertragung strömten aber Tausende aus ihren Häusern und den Cafés und zogen zum Tahrir-Platz, um sich den Kundgebungen anzuschließen. »Auch wenn er stur immer und immer wieder auf die demokratische Wahl verweist, Mursi hat das Land politisch und wirtschaftlich ruiniert. Er muss gehen«, sagt der Obstverkäufer Ashraf Omar kurz nach Mursis Rede. Viele Anhänger des Präsidenten oder einfache Menschen, die sich endlich wieder stabile Verhältnisse wünschen, um arbeiten zu können, verweisen auf den Konsens der Parteien vor der Wahl. »Wir haben uns für demokratische Wahlen entschieden. Dann sollten wir das Ergebnis auch akzeptieren lernen und Mursi die Amtszeit zu Ende regieren lassen. Sollen wir etwa einmal pro Jahr den Präsidenten stürzen, wenn uns seine Politik doch nicht gefällt?«, so ein Teilnehmer einer Pro-Mursi-Kundgebung.

Nahe der Universität von Kairo in Giza kam es am Dienstag zu heftigen Ausschreitungen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten, 22 Menschen sollen getötet worden sein. Noch während der Auftaktdemonstration am Sonntag vor dem Präsidentenpalast sagte Fady Nader Adly, ein junger Ingenieur aus Heliopolis, es werde heute zu keinerlei Gewalt kommen, die Muslimbrüder würden sich bei dieser Menschenmasse schlicht nicht näher herantrauen. Dennoch verwundert es kaum, dass die Bruderschaft inzwischen verstärkt auf die Straße geht und zu Solidaritätsprotesten abseits der Großkundgebungen der Opposition aufruft, schließlich droht ihr der Verlust der gerade erst gewonnenen politischen Macht. Ausschreitungen wie diese jedoch sind derzeit die Ausnahme. Während die westliche Presse einem »Bürgerkrieg« das Wort redet, kämpft Ägyptens Bevölkerung für wirtschaftliche Teilhabe, für politische Freiheiten und soziale Gerechtigkeit.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 4. Juli 2013


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