Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mit Tränengas und Wasserwerfern

Ägypten: Polizeigewalt gegen Kritiker des neuen Demonstrationsgesetzes

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Das neue Demonstrationsgesetz sorgt weiterhin für Zündstoff in Ägypten. Auch am Sonntag fanden wieder landesweit Proteste gegen das Regelwerk statt. Es sieht drakonische Strafen für die Teilnahme an oder den Aufruf zu nicht genehmigten Demonstrationen oder Arbeitsniederlegungen vor. Und es legalisiert den Einsatz von scharfer Munition durch Sicherheitskräfte, sollten Demonstranten Anordnungen der Staatsmacht nicht Folge leisten. Mehrere hundert Anhänger der Muslimbrüder versammelten sich auf dem Campus der Cairo University in Giza und zogen zum Tahrir-Platz im Herzen der ägyptischen Hauptstadt, um gegen das Gesetz zu protestieren und des Studenten Mohammed Reda zu gedenken, der am Donnerstag bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten getötet worden war. Wieder gingen die Sicherheitskräfte mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor, Dutzende Menschen wurden verhaftet. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, der politische Arm der Muslimbrüder, hatte zu Demonstrationen aufgerufen und sich damit zahlreichen säkularen politischen Organisationen angeschlossen. Auch an Universitäten in Beni Suef, Assiut und Minya in Oberägypten kam es zu Protesten von Studentengruppen und zu Polizeigewalt.

Die Hochschulen am Nil waren zuletzt regelmäßig Schauplatz von regierungskritischen Protesten, vor allem von Anhängern der Muslimbrüder. Sie demonstrieren seit Wochen auf dem Campus der theologischen Al-Azhar-Universität im Osten Kairos und liefern sich immer wieder Auseinandersetzungen mit der Polizei liefern. Säkulare linke und liberale Studentengruppen waren zuletzt deutlich aktiver geworden. Auf dem Campus der Cairo University, der mit über 200000 Studenten größten Hochschule Afrikas, fanden wiederholt Aktionen von Anhängern und Gegnern des im Juli von der Armeeführung abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi statt.

Bereits vor einer Woche, einen Tag nach Inkrafttreten des Demonstrationsgesetzes, versammelten sich Hunderte Menschen in der Innenstadt Kairos und protestierten gegen das Regelwerk. Es sei ein Schlag gegen die Versammlungsfreiheit und kriminalisiere Streiks und Demonstrationen, heißt es. Die Menschenrechtsgruppe »Nein zu Militärtribunalen für Zivilisten« hatte zu einer Kundgebung vor dem Schura-Rat, dem Oberhaus des ägyptischen Parlamentes, aufgerufen, in dessen Räumlichkeiten die verfassunggebende Versammlung tagt und derzeit den neuen Chartaentwurf berät, über den im Januar per Referendum abgestimmt werden soll. Der Protest richtete sich insbesondere gegen die drohende Verabschiedung eines Artikels, der die Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten erlaubt. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen die Kundgebung ein, rund 50 Menschen wurden verhaftet. Mehrere kurzzeitig am vergangenen Dienstag internierte Frauen haben inzwischen wegen sexueller Belästigung durch Polizeibeamte Anzeige erstattet.

Nur einen Tag nach der gewaltsamen Auflösung der Proteste am Dienstag zogen am Mittwoch rund 6000 Demonstranten aus dem säkularen linksliberalen Lager durch das Stadtzentrum Kairos, forderten die Rücknahme des Gesetzes und sprachen sich vehement gegen die Legalisierung von Militärtribunalen für Zivilisten aus. Das Innenministerium hatte kurzfristig grünes Licht für die Demonstration gegeben. Sicherheitskräfte waren vor Ort, griffen aber nicht ein. Unterdessen reagierte die Regierung auf die anhaltende Kritik. Premierminister Hasim Al-Beblawi kündigte die Einberufung einer Kommission zur Revision des Gesetzes an. Innerhalb des Kabinetts gibt es Unstimmigkeiten über das Regelwerk. Mit einer umfassenden Liberalisierung des restriktiven Textes wird jedoch nicht gerechnet.

* Aus: junge welt, Dienstag, 3. Dezember 2013


Zurück zur Ägypten-Seite

Zurück zur Homepage