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Arabische Welt bleibt in Aufruhr

Ägyptisches Militär löst Parlament auf / Protest in Algier von Polizei gewaltsam unterdrückt

48 Stunden nach seiner Machtübernahme hat der Oberste Militärrat in Ägypten die Auflösung des Parlaments und freie Wahlen angekündigt. In Algerien haben Sicherheitskräfte am Sonnabend (12. Feb.) auf Regimegegner eingeprügelt und mit massivem Polizeieinsatz Massenproteste verhindert.

Zwei Tage nach dem Sturz von Präsident Husni Mubarak hat das nun in Ägypten herrschende Militär die Weichen für einen politischen Neuanfang gestellt. Die Armeespitze löste am Sonntag (13. Feb.) das erst im Herbst gewählte Parlament auf und setzte die Verfassung bis zu einer Volksabstimmung über notwendige Änderungen außer Kraft. In spätestens sechs Monaten soll es Wahlen geben, durch die eine zivile Führung die Armee an der Staatsspitze ablösen soll.

Mit der Auflösung des Parlaments und den zugesagten Verfassungsänderungen erfüllte die Armee zentrale Forderungen der Demonstranten. Das von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei dominierte Parlament galt vielen als nicht legitimiert, da die Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet worden war. Die Geltung der Verfassung musste auch ausgesetzt werden, da sonst innerhalb von 60 Tagen nach dem Rücktritt Mubaraks Präsidentschaftswahlen nötig gewesen wären. Die Armeespitze versicherte zudem, dass Ägypten allen regionalen und internationalen Verträgen verpflichtet bleibe. Dazu gehört auch das 1979 geschlossene Friedensabkommen mit Israel. US-Präsident Barack Obama begrüßte das Festhalten an den Abkommen.

In Kairo normalisierte sich die Lage am Sonntag zusehends. Der für die tagelangen Proteste gegen die ägyptische Führung emblematisch gewordene Tahrir-Platz wurde bis auf einen Teil wieder für den Verkehr freigegeben, nachdem dort bis zum Vorabend Zehntausende Menschen den Abgang Mubaraks gefeiert hatten. Einige hundert Demonstranten harrten noch aus. Sie verlangten unter anderem, dass der Ausnahmezustand aufgehoben und festgenommene Demonstranten wieder freigelassen werden sollten.

Die Generalstaatsanwaltschaft verhängte ein Ausreiseverbot gegen den früheren Ministerpräsidenten Ahmed Nasif und Informationsminister Anas el-Fekki, zudem fror sie das Vermögen des ehemaligen Innenministers Habib el-Adli ein. Fekki trat später zurück. Mubarak selbst hält sich nach Regierungsangaben weiterhin in Ägypten auf. Er war kurz vor seiner Rücktrittserklärung in den Küstenort Scharm-el-Scheich geflogen.

Die britische Regierung will mögliche Gelder der bisherigen Präsidenten Ägyptens und Tunesiens an beide Staaten zurückgeben. Wenn Vermögenswerte in Großbritannien ausfindig gemacht werden sollten, werde das Land versuchen, die Gelder zurückzuführen, sagte der Direktor der britischen Strafverfolgungsbehörde für schwere Betrugsdelikte.

Inspiriert von den Protesten in Tunesien und Ägypten sind auch in Algerien am Sonnabend mehrere tausend Menschen gegen die Regierung von Präsident Abdelaziz Bouteflika auf die Straße gegangen. In der Hauptstadt Algier riegelten rund 30 000 Polizisten mit gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern die Strecke des geplanten Protestzuges ab, der nicht genehmigt worden war. Fodil Boumala vom Bündnis Nationale Koordinierung für den Wandel und die Demokratie, das zu den Protesten aufgerufen hatte, erklärte: "Wir haben die Mauer der Angst durchbrochen, dies ist nur der Beginn." An den Protesten nahmen sowohl Said Sadi, der Führer des Zusammenschlusses für Kultur und Demokratie, als auch Ali Belhadj teil, der Gründer der verbotenen Islamischen Heilsfront.

Auch in Jemen gingen am Sonnabend Tausende Menschen gegen den dortigen Präsidenten Ali Abdallah Saleh auf die Straße.

Angesichts des dramatischen Ansturms Tausender aus Tunesien kommender Flüchtlinge hat Italien den humanitären Notstand ausgerufen. Innenminister Roberto Maroni klagte über fehlende Hilfe der EU und kündigte an, italienische Polizisten in das nordafrikanische Land entsenden zu wollen. In den vergangenen Tagen hatten rund 5000 Personen in Booten die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa erreicht. In der Nacht zum Sonntag waren es nach Angaben der Küstenwache erneut fast 1000 Menschen. Die Lage sei außer Kontrolle", sagte der Bürgermeister von Lampedusa, Bernardino de Rubeis. Die Insel liegt 110 Kilometer vor der tunesischen Küste.

In Teheran wurde eine Solidaritätskundgebung mit Ägyptern verboten. Die iranische Führung erklärte, die Versammlung sei ein Trick für neuerliche Demonstrationen gegen die Regierung.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Februar 2011


Nach der Party beginnt der Neuaufbau

Der Tahrir-Platz am Tag Eins ohne Mubarak

Von Karin Leukefeld, Kairo **


Freude und Stolz erfüllen den Kairoer Tahrir-Platz, das Zentrum des Bebens, das Ägypten nach dem Willen der Demokratiebewegung gründlich verändern soll.

"Entschuldigen Sie die Störung, wir bauen Ägypten wieder auf." Viele der jugendlichen Helfer, die am Tag Eins ohne Mubarak auf und um den Tahrir-Platz in Kairo die Besen schwingen, haben sich Schilder angeheftet, auf denen ihr Verhalten erklärt wird. "Gestern war ich Demonstrant, heute baue ich Ägypten neu auf", heißt es auf einem anderen Schild. Schon vor dem Sturz des ägyptischen Präsidenten hatten die Demonstranten die Öffentlichkeit über ihr Vorhaben aufgeklärt. "Sobald der Präsident zurückgetreten ist, werden wir hier eine große Party veranstalten und dann werden wir aufräumen", sagte ein junger Mann vor einer Woche.

Aller Unrat soll verschwinden

Die Demokratiebewegung in Ägypten meint es ernst. In der Nacht nach dem Rücktritt Husni Mubaraks hatte man bis in die Morgenstunden gefeiert, am Sonnabend strömten die Putzbrigaden aus allen Teilen der Stadt zusammen und begannen mit dem Aufräumen. Da wurde gefegt und geschaufelt, Decken und Zeltplanen wurden eingerollt, Pflastersteine, die zur Verteidigung gegen die staatlichen Schlägertrupps ausgegraben worden waren, wurden wieder eingesetzt, Graffiti an Hauswänden und auf Denkmälern entfernt, die Bordsteine neu bemalt, sogar die öffentlichen Toiletten in den Metro-Anlagen wurden von Fachleuten neu gefliest und repariert.

Abschleppunternehmen zogen Bus- und Autowracks fort, die die Demonstranten zu Verteidigungsanlagen aufgetürmt hatten, Bleche und Gitter, die von der nahe gelegenen Baustelle entfernt worden waren, wurden wieder zurückgebracht.

Durch SMS-Botschaften hatten Freunde und Verwandte einander von dem großen Aufräumen informiert, nicht nur, um den Müll der Proteste und Kämpfe zu entfernen, sondern auch um symbolisch zu zeigen, dass man entschlossen ist, das Land vom Unrat des alten Regimes zu säubern.

"Unwissenheit, Armut, Krebs, Ausplünderung, Korruption, Lüge und Unterdrückung habt ihr uns gebracht", heißt es auf einem großen Transparent, das noch immer auf dem Platz hängt. Es zeigt die Gesichter Husni Mubaraks und der Mitglieder seiner Regierung, von denen etliche inzwischen unter Hausarrest stehen. Das Gesicht Mubaraks ist rot durchgestrichen.

Familien und Freunde, junge und alte Paare, Generationen streifen über den Tahrir-Platz, der wie ein einziges großes Lachen erscheint. "Gottseidank haben wir Ägypter unsere Ehre wieder", sagt eine alte Frau, die - auf einen Stock gestützt - von ihrer Tochter und Enkeltöchtern herumgeführt wird. Überall wird fotografiert und gefilmt, ungläubig beobachtet eine große Menge von der Brücke des 6. Oktober die Putzbrigaden. Vor Tagen noch hatten dort Kämpfe Tote und Verletzte gefordert. Die Bilder der Opfer hängen an Hauswänden und zwischen Straßenlaternen, einige verharren davor im stillen Gebet, andere fotografieren.

Die Soldaten haben ihre Panzer zur Seite gefahren, die Kanonenrohre sind mit Tüchern abgedeckt, die Maschinengewehre abgebaut. Entspannt sitzen sie mit Kindern und Jugendlichen auf den Panzern, posieren endlos für Fotos, nehmen Blumen, Wasser und Süßigkeiten in Empfang. "Wir sind gekommen um Blumen für die Getöteten zu bringen", sagt ein Ehepaar mittleren Alters, das mit leuchtenden Augen das Geschehen beobachtet. Am Freitag hätten sie sich noch große Sorgen gemacht, ob es ein Blutbad geben könnte, nachdem Mubarak sich erneut geweigert hatte zurückzutreten. Erstmals in seinem Leben spüre er Freiheit, sagt der Mann, der mit seiner Frau zum ersten Mal auf den Tahrir-Platz gekommen ist. Der Sohn sei seit dem 25. Januar jeden Tag dort gewesen, er habe ihnen berichtet, sie seien in großer Sorge gewesen. "Es wird zehn Jahre dauern, bis wir das Land wieder aufgebaut haben", sagt der Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte. Sie hofften, dass Mubarak zur Rechenschaft gezogen wird, zumindest das viele Geld, das er, seine Frau, seine Familie gestohlen hätten, müssten sie zurückgeben. "Die Ägypter sind freundliche Menschen", fügt seine Frau hinzu, "und die Ärmsten von uns sind am freundlichsten."

"Das Militär kennt unsere Forderungen"

Sherif Mickawi, einer der Organisatoren, ist überglücklich über die Entwicklung und glaubt fest daran, dass das Militär auch weiter an der Seite des Volkes stehen wird. "Noch vertrauen wir ihnen", sagt er mit heiserer Stimme. Egal was geschehe, "wir wissen, was wir wollen und auch, wie wir es erreichen werden". Noch habe die Bewegung niemanden gewählt, wer immer für die Opposition angebe zu reden, spreche nur für sich selber. "Wir haben unsere Forderungen dem Militär mitgeteilt", sagt Mickawi selbstbewusst: Auflösung des Parlaments, Aufhebung des Ausnahmezustands, Ernennung eines Präsidialrates, der eine Regierung von Technokraten einsetzt, bis zu den Wahlen. "Wenn sie das nicht umsetzen, werden wir wiederkommen", verspricht Mickawi, und das Militär wisse das.

"Unsere Revolution ist der Prototyp für andere Länder. Kein Regime in der Region, kein ausländischer Geheimdienst hat das hier vorhergesehen. Wir haben alle Regeln gebrochen."

** Aus: Neues Deutschland, 14. Februar 2011


Washingtons Albträume

Von Roland Etzel ***

Jetzt, da Mubarak gestürzt ist, hat er offenbar im Westen niemals Freunde gehabt. Euphorisch feiert die abendländische Welt "einen Sieg der Demokratie" in Ägypten, den sie nachweisbar nicht wollte und den sie erst zu feiern begann, als er nicht mehr aufzuhalten war. Nun werden die Revolutionäre umarmt, ja umklammert, geködert mit dem dezenten Hinweis, dass anstelle der Entmachteten nun sie die Empfänger von Geld und guten Worten aus dem Westen seien. Nicht zuletzt von Rüstungsgeschenken. Damit war man immer dort gut gefahren, wo Uniformierte den Machthebeln sehr nahe standen, und das ist weiterhin überall so in der arabischen Welt...

Aber im Moment ist das noch offen. Vielleicht gab es im Westen sogar nie größere Angst vor der Entwicklung in der Region seit dem Nahostkrieg von 1973 und der folgenden Ölkrise. Der Gedanke an eine Wiederholung des damaligen Versuchs der Araber, ihr Öl als Waffe für politische Ziele einzusetzen, dürfte in der US-Regierung Albträume ausgelöst haben, so wütend reagiert sie, weil sie trotz einer Handvoll Geheimdienste mit Milliarden-Etats in Tunis wie in Kairo immer nur Getriebene der Ereignisse war.

Und während sie also mit süßsaurem Gesicht Revolutionen begrüßt, weil sie sie nicht verhindern konnte, wackeln bereits die nächsten Potentaten: in Algerien, Jemen, Jordanien - alles exzellente amerikanische Freunde.

*** Aus: Neues Deutschland, 14. Februar 2011 (Kommentar)


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