Niemand glaubt Tantawi
Weiter Proteste in Ägypten. Wieder Tote bei Straßenschlachten
Von Karin Leukefeld *
Die Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten in der ägyptischen Hauptstadt Kairo gingen auch am Mittwoch (23. Nov.) weiter. Die Sicherheitskräfte des Innenministeriums setzten Tränengas, Gummigeschosse und Schrotmunition ein, die Demonstranten reagierten mit Molotowcocktails und Steinen. Die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay zeigte sich schockiert.
Bis Redaktionsschluß waren nach Angaben des Gesundheitsministeriums in den letzten Tagen mindestens 31 Menschen getötet worden. Oppositionskreise sprachen von 38 Toten. Auch in den Hafenstädten Alexandria und Suez, in Qena, Port Said, Assiut und Assuan sowie im Badeort Scharm el-Scheich kam es zu Protesten.
In Kairo konzentrierten sich die Straßenschlachten laut Agenturberichten auf die Gegend um das hoch gesicherte Innenministerium nahe dem Tahrir-Platz. Fenster gingen zu Bruch, Geschäfte wurden geplündert. Reporter der ägyptischen Tageszeitung Al-Masri Al-Youm berichteten, Sicherheitskräfte seien zunehmend aggressiv gegen Journalisten vorgegangen. Mindestens zwei Reporterinnen seien kurzfristig festgenommen worden.
Soldaten versuchten, die Kräfte des Innenministeriums von den Demonstranten zu trennen. Die Ankündigung von Militärchef Hussein Tantawi, im Juni kommenden Jahres die Macht an eine zivile Regierung zu übergeben und Präsidentschaftswahlen abzuhalten, wurde von den Demonstranten zurückgewiesen. »Verschwinde, verschwinde«, war die Parole des Tages. Niemand glaube dem Militärchef noch ein Wort, sagte ein Demonstrant. »Tantawi ist wie Mubarak, sagte der Demonstrant Ahmed Mamduh einem Reporter von Middle East Online. »Er ist Mubarak in Uniform«. Die Demonstranten fordern die Einsetzung einer zivilen Übergangsregierung und den sofortigen Rücktritt von Feldmarschall Tantawi, der 20 Jahre unter Hosni Mubarak Verteidigungsminister war.
Die Muslimbruderschaft, die am vergangenen Samstag (19. Nov.) ebenfalls gegen die Militärregierung auf dem Tahrir-Platz protestiert hatte, folgte derweil einer Einladung des Militärrates zu Gesprächen darüber, wie die für kommenden Montag vorgesehenen Parlamentswahlen unbeschadet durchgeführt werden können. Auch Präsidentschaftskandidat Amr Musr und der Chef der liberalen Wafd-Partei, Sayyed Badawi, nahmen an dem Treffen teil.
Der frühere stellvertretende Generalstabschef der israelischen Armee, Uzi Dayan sagte, Israel müsse eine »Interventionstruppe« bilden, um möglichen Terrorismus auf der Sinai-Halbinsel zu bekämpfen. Laut dem israelisch-ägyptischen Friedensvertrag gilt die Halbinsel als entmilitarisierte Zone. Laut der israelischen Tageszeitung Yediot Aharonot sagte Dayan weiter, sollten die Islamisten in Ägypten an die Macht kommen, müsse Israel auf »das Schlimmste vorbereitet sein«. Der ehemalige Geheimdienstchef Oren Schachor meinte, Israel habe ein Interesse daran, daß in Ägypten »der Militärrat so lange wie möglich an der Macht bleibt.«
* Aus: junge Welt, 24. November 2011
UNO verurteilt exzessive Gewalt in Ägypten
Mindestens 35 Tote durch Einsatz der Sicherheitskräfte **
Die Vereinten Nationen haben die ägyptischen Sicherheitskräfte
wegen des Todes von mindestens 35
Demonstranten seit Sonnabend scharf verurteilt.
Der Einsatz »exzessiver Gewalt« zur Unterdrückung
friedlicher Proteste gegen die Militärregierung
müsse sofort enden, verlangte
die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte,
Navi Pillay, am Mittwoch (23. Nov.) in Genf. Die
südafrikanische Juristin nannte das Einschreiten
der Sicherheitskräfte gegen Zivilisten
auf dem Tahrir-Platz in Kairo schockierend.
Diese Vorfälle müssten von einer unabhängigen
und unparteiischen Kommission
untersucht werden. Pillay betonte, die Sicherheitskräfte
sollten dem Land nach jahrzehntelanger
Diktatur auf dem Weg zu einer
Demokratie helfen.
Armee und Polizei waren in den vergangenen
Tagen mit äußerster Brutalität gegen
Demonstranten vorgegangen. Die Proteste
richteten sich gegen den Militärrat, der das
Land autokratisch regiert.
Auch am fünften Tag der Proteste Zehntausender
Demonstranten sind in Ägypten am
Mittwoch mehrere Menschen ums Leben gekommen.
Mindestens drei Demonstranten
seien von Sicherheitskräften erschossen worden,
sagte ein Arzt in einem Feldlazarett in
der Hauptstadt Kairo.
Der Militärrat hatte am Dienstagabend (22. Nov.) den
Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident
Essam Scharaf angenommen. In einer Fernsehansprache
sagte Militärratschef Hussein
Tantawi zudem, die geplante Parlamentswahl
solle wie vorgesehen ab dem kommenden
Montag stattfinden. Ein neuer ägyptischer
Staatschef solle »vor Ende Juni 2012« gewählt
werden. Scharafs Regierung hatte angesichts
der eskalierenden Gewalt bei den
Protesten der vergangenen Tage in Kairo bereits
am Montag ihren Rücktritt eingereicht,
doch war zunächst unklar, ob dieser vom Militärrat
akzeptiert werden würde.
** Aus: neues deutschland, 24. November 2011
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