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Bereit zur Verteidigung

Ägyptens Muslimbrüder verschanzen sich in ihren Protestcamps

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

In Ägypten setzen die entmachteten Muslimbrüder ihre Demonstrationen gegen die Absetzung des Präsidenten Mohammed Mursi durch die Armee fort. Am Sonntag harrten sie weiter in ihren Protestcamps vor der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City und am Nahda-Platz an der Universität von Kairo in Giza aus. Die Übergangsregierung hat das Innenministerium inzwischen ermächtigt, die beiden Lager zu räumen, da die Sitzblockaden der Bruderschaft eine »Gefahr für die nationale Sicherheit« seien. Mittlerweile legt sie jedoch etwas mehr Fingerspitzengefühl an den Tag und mäßigt ihren Tonfall, nachdem das gewaltsame Vorgehen von Polizei und Armee gegen Anhänger der Bruderschaft heftig kritisiert worden war. Vor gut einer Woche waren mindestens 80 Menschen getötet worden, als die Sicherheitskräfte gegen die Proteste vorgegangen waren.

Nach internationalen Konsultationen und Appellen von Menschenrechtsorganisationen, den Konflikt gewaltfrei zu lösen, rückten Innenministerium und Armee zumindest vorerst davon ab, die Camps mit Gewalt zu stürmen. Nach wie vor kreisen regelmäßig Militärhubschrauber über Nasr City und dem Nahda-Platz, die Armee hat Panzer rund um die Universität von Kairo postiert und Straßensperren errichtet. Innenminister Mohammed Ibrahim versprach denjenigen, die die Zeltlager verlassen wollten, freies Geleit. Trotz weiträumiger Absperrungen war es am Wochenende aber auch weiterhin möglich, ungehindert Zugang zum Nahda-Platz zu bekommen. Nach wie vor verweilten dort am Wochenende einige tausend Menschen.

Von diesen wurden Barrikaden errichtet und Sandsäcke aufgetürmt. Personenkontrollen sollten die Sicherheit auf dem Platz gewährleisten und verhindern, daß »vom Regime bezahlte Schläger« das Camp ausspionieren. Überall hingen Bilder des abgesetzten Mursi und Banner mit Aufschriften wie »Pro Demokratie« und »Mursi ist der legitime Präsident Ägyptens«. Das Camp ist eine improvisierte Zeltstadt. Es gibt eine Küche, ein Lazarett und zahlreiche Verkaufsstände für Getränke und Obst. Doch bereiten sich die Demonstranten bereits auf die Erstürmung des Lagers vor. Eine Gruppe junger Frauen hat aus aufgeschnittenen Plastikflaschen, Pappbechern und Gummibändern Hunderte Gasmasken gebastelt, um sich gegen das von Polizei und Militär benutzte Tränengas schützen zu können.

»Die Angst vor Repression in uns ist nach der Revolution 2011 gestorben. Wir haben keine Furcht mehr vor dem Regime und werden bleiben, bis unsere Forderungen erfüllt sind«, sagte Saad Mohamed, Student der Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Helwan und Anhänger der Muslimbrüder, am Nahda-Platz im Gespräch mit jW. »Nach der Ankündigung der Regierung, die Protestcamps zu räumen, sind noch mehr Menschen hierhergekommen, um gegen den Militärputsch zu protestieren.« Saad betont, man bereite sich nur defensiv auf die Erstürmung vor. Anschuldigungen, man habe Waffen versteckt, seien eine Lüge – eine schlecht nachzuprüfende allerdings.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert von den Muslimbrüdern Aufklärung über Vorwürfe, die Anhänger des gegnerischen politischen Lagers am Nahda-Platz festgehalten und gefoltert zu haben. Zugleich betont die Organisation jedoch, die Anschuldigungen dürften nicht für eine kollektive Bestrafung der Demonstranten mißbraucht werden.

Die Mursi-Anhänger haben darauf reagiert, indem sie inzwischen offensiv Journalisten einladen und sie herumführen, um die Vorwürfe zu entkräften. Unmittelbar nach dem Sturz Mursis waren Anhänger der Bruderschaft noch randalierend und bewaffnet durch die Straßen gezogen. Inzwischen sind sie umso mehr bemüht, ihre Friedfertigkeit zu demonstrieren. Der Sprecher der Muslimbrüder, Ahmed Aref, sagte, die Proteste in Rabaa und Nahda seien eine legitime und unbewaffnete Meinungsäußerung. »Wir zeigen allen, daß wir hier friedlich und rechtmäßig demonstrieren. Nein zum Polizeistaat, nein zur Militärherrschaft«, sagt auch Hela Mohedin, eine Gegnerin der Militärintervention. »Seit dem Sturz Hosni Mubaraks 2011 sind wir sechsmal zur Wahl gegangen, und das soll alles umsonst gewesen sein?« Sie ist unverschleiert und hat bei den Präsidentschaftswahlen für einen liberalen Kandidaten gestimmt. Mursi ist ihr zuwider, aber sie fürchtet die Rückkehr des alten Regimes. Menschen wie Hela sind hier unter all den bärtigen Männern die Minderheit, doch erwähnt die Bruderschaft immer wieder ausdrücklich die Anwesenheit von Menschen, die nicht zu ihrer Organisation gehören.

Unterdessen haben offenbar Geheimverhandlungen zwischen Muslimbrüdern und der Übergangsregierung begonnen. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete am Sonntag über »Kompromißsignale« beider Seiten. Noch am Freitag hatte Mohammed Soudan, der Sekretär für Außenbeziehungen des Büros der als politischer Arm der Bruderschaft geltenden Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), in Alexandria allerdings direkte Kontakte mit der neuen Machtelite Ägyptens dementiert. Verhandlungen sind jedoch notwendig, um doch noch eine politische Lösung der festgefahrenen und aufgeheizten Lage in Ägypten zu ermöglichen und weiteres Blutvergießen zu verhindern.

* Aus: junge Welt, Montag, 5. August 2013


Machtkampf in Kairo

Proteste und Gespräche **

Einen Monat nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi wollen die Islamisten mit neuen Massenkundgebungen seine Wiedereinsetzung durchsetzen. Die Muslimbruderschaft hatte für Sonntag zu einer »Demonstration der Millionen« aufgerufen. Nach Protesten von Mursi-Anhängern war es zuvor in der Provinz Al-Minia zu Gewalt zwischen Christen und Muslimen gekommen. Tausende harren derweil in zwei Protestcamps in Kairo aus, in denen sie bleiben wollen, bis der Ex-Präsident wieder im Amt ist. Das Innenministerium erneuerte seinen Aufruf, die Lager umgehend zu verlassen. Wer nicht an gewaltsamen Aktionen beteiligt gewesen sei und nicht zum Terrorismus aufgerufen habe, müsse keine Strafverfolgung fürchten. Die Organisatoren würden aber diverser Verbrechen wie Mord und illegaler Waffenbesitz verdächtigt und müssten zur Verantwortung gezogen werden.

Wie Armeechef Abdel Fattah al-Sisi erklären ließ, bestehe »noch die Chance auf eine friedliche Lösung, vorausgesetzt, dass Gewalt vermieden wird«. Er traf am Wochenende mit vier islamischen Geistlichen zusammen, die nicht selbst der Muslimbruderschaft angehören, aber eine Art Vermittlerrolle spielen dürften. Al-Sisi forderte die USA zugleich dazu auf, sich bei den Islamisten für die freiwillige Beendigung ihrer Dauerproteste einzusetzen. Al-Sisi erinnerte in seinem ersten Interview seit dem Umsturz gegenüber der »Washington Post« daran, dass ihn »30 Millionen Menschen« bei Anti-Mursi-Kundgebungen unterstützt hätten. Sie erwarteten, dass er etwas tue. Der Militär gilt als der starke Mann in Ägypten und ist erster Vize-Ministerpräsident sowie Verteidigungsminister. Der Westen will die Übergangsregierung von neuer Gewalt gegen die entmachteten Islamisten abhalten. Außenminister Nabil Fahmi betonte bei einem Treffen mit US-Vizeaußenminister William Burns, die Entscheidung liege allein bei seiner Regierung. Burns wollte am Sonntag auch Al-Sisi treffen. Der jemenitischen Friedensnobelpreisträgerin Karman, einer Mursi-Unterstützerin, ist die Einreise verwehrt worden.

** Aus: neues deutschland, Montag, 5. August 2013


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