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Kairo beklagt "schwarzen Terror"

Ägyptens Generäle rechtfertigen Vorgehen gegen Muslimbrüder

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Ägyptens Generalstabschef Sisi hat erneut betont, das Militär habe das »Mandat des Volkes«, die Proteste für den abgesetzten Präsidenten Mursi zu beenden. Zuvor hatte die Armee Dutzende Demonstranten getötet. Die Muslimbruderschaft gibt sich entschlossener denn je.

Die Ruhe täuscht: Vor der Rabaa-al-Adawija-Moschee im Osten Kairos harren auch am Sonntag wieder Tausende Unterstützer des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi aus. Um sie herum haben Hunderte Soldaten und Polizisten Stellung bezogen. Sie versuchen zu verhindern, dass ausländische Journalisten dort- hin gelangen – zu ihrem eigenen Schutz, wie es immer wieder heißt. Wahrscheinlicher ist, dass es niemand mitbekommen soll, wenn der Einsatzbefehl kommt: Verteidigungsminister und Generalstabschef Abdel Fattah al-Sisi hatte am Sonntagmorgen zum wiederholten Male gefordert, die Demonstranten sollten sich umgehend zerstreuen, und sich einmal mehr auf das »Mandat« berufen, das ihm das Volk durch eine Massendemonstration auf dem Tahrir-Platz am Freitagabend gegeben habe, gegen den »schwarzen Terror« vorzugehen, so die neue Terminologie für die Muslimbrüder.

Wie das aussehen kann, demonstrierte das Militär in der Nacht zum Samstag: Acht Stunden lang gingen Sicherheitskräfte, viele von ihnen in Zivil, gegen die Unterstützer Mursis vor, die zuvor von Soldaten eingekesselt worden waren. Mindestens 65 Menschen, möglicherweise aber mehr als 100, wurden dabei getötet. Mindestens vier der Getöteten wiesen Verletzungen an Kopf und Brust auf, die auf Scharfschützen hindeuten. Mehrere Opfer erlitten darüber hinaus Frakturen von Brustbein und Rippen – konsistent mit dem Einsatz von Wasserwerfern aus nächster Nähe. Ärzte berichten weiterhin, Dutzende Opfer wiesen Verletzungen an den Atemwegen auf, die vermuten lassen, dass das eingesetzte Tränengas in irgendeiner Weise modifiziert war.

All dies steht in starkem Kontrast zu den Äußerungen von Innenminister Mohammad Ibrahim, der die Muslimbrüder für die Gewalt verantwortlich machte. Er bestritt, dass die Armee gezielt geschossen habe. Die Wasserwerfer seien dazu da gewesen, den Menschen Abkühlung vor der Sommerhitze zu verschaffen. Äußerungen, die einmal mehr von den ägyptischen Medien unhinterfragt übernommen wurden: In ihren Berichten wird die Muslimbruderschaft als Terrororganisation dargestellt, die das Land destabilisieren wolle – was wiederum einer der Gründe dafür ist, warum die überwiegende Zahl der Mursi-Gegner für das Vorgehen Sisis ist. Die Positionen der Gegenseite sind in der Berichterstattung nicht zu finden.

Vizeübergangspräsident Mohammad el-Baradei hat derweil die Gewaltanwendung verurteilt. Er »arbeite hart und mit allen Mitteln daran, die Konfrontation auf friedlichem Wege zu beenden«, schrieb er auf Twitter. Doch diese Mittel dürften begrenzt sein. Sisi hat gezeigt, wer der wirkliche starke Mann ist.

* Aus: neues deutschland, Montag, 29. Juli 2013


Ägypten am Abgrund

Mindestens 80 Tote bei Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des gestürzten Präsidenten und Sicherheitskräften. Gewaltspirale dient beiden Seiten

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Ägyptens Muslimbrüder wollen ihre Proteste gegen den Sturz des Präsidenten Mohammed Mursi trotz des gewaltsamen Vorgehens von Polizei und Militär fortsetzen. Vor der Moschee Rabaa Al-Adawija in Kairo harrten am Sonntag weiter Tausende Menschen in einem Protestlager aus. »Es gibt das Gefühl von Leid und Wut, aber auch ein sehr starkes Gefühl der Entschlossenheit«, sagte der Sprecher der Muslimbruderschaft, Gehad Al-Haddad, der Nachrichtenagentur AFP. »Wenn wir sterben, treffen wir unseren Schöpfer und sind zumindest für einen guten Zweck gestorben.« Die Armee verstärkte ihre Präsenz. Dutzende Panzer wurden in das Zentrum der Hauptstadt verlegt, Militärhelikopter patrouillierten über der Stadt.

Bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Muslimbrüder waren am Samstag morgen in Alexandria mindestens acht Menschen getötet worden. In Nasr City im Osten Kairos wurden bei Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei mindestens 72 Menschen getötet, die Bruderschaft spricht von 120 Toten. Die Sicherheitskräfte hatten Tränengas und offenbar scharfe Munition eingesetzt.

Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi hatte in der vergangenen Woche die Menschen aufgerufen, auf die Straße zu gehen, sich mit Armee und Übergangsregierung zu solidarisieren und dem Militär ein »Mandat« zur Bekämpfung von »Gewalt und Terrorismus« zu geben. Hunderttausende folgten am Freitag seinem Aufruf, zogen zum Tahrir-Platz in Kairo und feierten die Truppen. Vergessen schien die Gewalt unter dem Zepter der Generäle nach Mubaraks Sturz. Diese taktieren geschickt und haben aus den Fehlern gelernt, die sie während ihrer Herrschaft 2011 gemacht hatten und durch die sie zur Zielscheibe von Oppositionsprotesten geworden waren.

Diesmal stellte sich das Militär gleich zu Beginn der Massendemonstrationen gegen Mursi auf die Seite der Regierungsgegner. »Die Armee will, daß das Volk ihr auf die Straßen folgt – und das nur ein Jahr, nachdem wir ›Nieder mit der Militärherrschaft‹ gerufen haben«, gibt es jedoch auch Kritik von links. Die »Revolutionären Sozialisten« haben zu Protesten aufgerufen. Der Appell Al-Sisis sei eine Farce, man werde keine neuerliche Militärherrschaft legitimieren und der Armee keinen Blankoscheck für Gewalt ausstellen. Nicht viele Menschen schlossen sich diesen Protesten an; kritische Töne gegenüber der Armee sind in Ägypten kaum zu hören.

Seit der Absetzung Mursis gehen Armee und Justiz verstärkt gegen die Muslimbrüder vor. Die Verhaftungswelle gegen deren Führungskader und die Niederschlagung der Proteste hat sie nach dem einjährigen »Experiment Mursi« politisch entmachtet. Seine Anhänger fürchten nun nicht ganz unberechtigt eine neuerliche Verfolgungswelle wie schon unter Mubarak. Doch beide Seiten könnten aus der neuen Gewaltspirale politisches Kapital schlagen. Der Bruderschaft eröffnet sich durch das harte Eingreifen der Polizei die Gelegenheit, sich als Märtyrer zu präsentieren und sich dadurch neuen Aufwind zu verschaffen, nachdem sie zuletzt deutlich an Zustimmung in der Bevölkerung verloren hatte. Das Militär seinerseits setzt alles daran, die Bruderschaft zu dämonisieren, um sich selber als Beschützer Ägyptens vor einem radikalisierten politischen Islam zu präsentieren und damit seinen politischen Einfluß zu legitimieren.

** Aus: junge Welt, Montag, 29. Juli 2013


Obamas Schweigen

US-Regierung will nicht über den Militärputsch in Ägypten sprechen

Von Knut Mellenthin ***


US-Präsident Barack Obama will den gewaltsamen Sturz der ägyptischen Regierung am 3. Juli nicht als Militärputsch bezeichnen. Neben der naheliegenden Vermutung, daß der Staatsstreich der Generäle mit den USA abgesprochen worden war, gibt es für Obamas Schweigen auch einen juristischen Grund: Der Foreign Assistance Act schreibt vor, daß einem Land, dessen rechtmäßige Regierung durch einen Putsch beseitigt wurde, alle Hilfeleistungen gestrichen werden müssen. Dieses Gesetz kann nicht durch eine vom Präsidenten anzuordnende Ausnahmeregelung – einen sogenannten »Waiver« – umgangen werden. Da es andererseits heikel wäre, wenn die US-Administration bestreiten würde, daß es sich bei den Vorgängen in Ägypten um einen militärischen Staatsstreich handelt, sind die Rechtsberater des Weißen Hauses auf einen typisch amerikanischen Einfall gekommen: Der Foreign Assistance Act verpflichte die US-Regierung nicht, eine formale Beurteilung vorzunehmen, ob ein Putsch stattgefunden hat oder nicht.

Ägypten erhält von den USA jährlich rund 1,55 Milliarden Dollar Unterstützung, von denen 1,3 Milliarden als Militärhilfe deklariert sind. Das wurde 1979 vereinbart, als das Kairoer Regime unter Anwar Al-Sadat in einen Friedensvertrag mit Israel einwilligte. Für die Rüstungsindustrie der USA stellt diese Summe einen fest kalkulierbaren Einnahmeposten dar, zumal die Bewaffnung der ägyptischen Armee zugleich als Alibi für die Militärhilfe an Israel herhalten muß. Die Regierung in Jerusalem hat denn auch einheimischen und US-amerikanischen Medien zufolge ihren Einfluß in Washington geltend gemacht, die Militärhilfe nicht einzustellen. Außerdem sichert diese den USA entscheidenden Einfluß auf die Führung der ägyptischen Streitkräfte. Und schließlich soll möglichst verhindert werden, daß sich Ägypten künftig noch mehr als bisher auf andere Lieferanten orientiert. Ein Kongreßbericht verzeichnete vor zwei Jahren, daß Ägypten seit 2003 Waffen im Wert von 800 bzw. 600 Millionen Dollar in China und Rußland gekauft hat.

Abgesehen von den erwähnten Gründen wäre es für die USA auch technisch äußerst problematisch, die Militärhilfe wegen tagespolitischer Ereignisse kurzfristig zu unterbrechen: Ägypten hat bereits auf etliche Jahre im voraus Verträge über Waffenlieferungen mit US-amerikanischen Firmen abgeschlossen, also sozusagen einen Vorschuß auf die erwarteten regelmäßigen Hilfszahlungen der nächsten Jahre genommen.

Republikanische Politiker, allen voran Hardliner John McCain, kritisieren und verspotten Obamas Weigerung, den Putsch beim Namen zu nennen. Das heißt jedoch keineswegs automatisch, daß sie die Einstellung der Militärhilfe an Ägypten befürworten. Viel mehr streben sie, wie auch zahlreiche demokratische Kongreßmitglieder, eine Änderung der Gesetzeslage an. Gegen die Streichung der Putschklausel aus dem Foreign Assistance Act gäbe es vermutlich Widerstand. Als vergleichsweise rasch zu bewerkstelligen wird aber die Einfügung eines »Waivers« betrachtet, der dem Präsidenten erlauben würde, das Gesetz »im nationalen Interesse« ausnahmsweise zu umgehen.

Als Zeichen in alle Richtungen hat das Pentagon am vorigen Mittwoch die fällige Lieferung von vier Kampfflugzeugen an Ägypten ohne nähere Angaben »verschoben«. Den Putschgenerälen signalisiert diese materiell nicht ins Gewicht fallende Geste den Wunsch der US-Regierung, sich bei der blutigen Repression gegen die Anhänger der Muslimbrüder etwas zu mäßigen.

*** Aus: junge Welt, Montag, 29. Juli 2013


Die Revolutionssteuerer

Von Roland Etzel ****

US-Außenminister Kerry äußerte, er sei »zutiefst besorgt« angesichts der Gewalt in Ägypten. Andere US-Politiker wurden noch empathischer. Unterm Strich blieb es ein Feuerwerk der Folgenlosigkeit. Dabei zeigen Ägyptens Generale täglich mehr, dass ihnen die Ergebnisse der ersten freien Wahlen in ihrem Land ziemlich gleichgültig sind und dass jene, die auf der Straße deren Respektierung einfordern, mit Gewehrkugeln zu rechnen haben. Bei jeder Demonstration ein bisschen heftiger.

Etwa 80 Prozent der großen und kleinen Waffen, über die Kairos neuer starker Mann, General Sisi, in Ägypten gebietet und mit denen er eben auch auf Protestierende schießen lässt, werden über diverse Umwege aus US-Haushaltsposten bezahlt. Es ist deshalb gut vorstellbar, dass Sisi sehr genau darauf achtet, welche Miene man in Washington zu seinem Treiben macht. Es ist noch viel besser vorstellbar, dass ein paar Pentagon-Routiniers in Sachen Revolutions-Steuerungstechnik im Verteidigungsministerium in Kairo der Einfachheit halber gleich mit an Sisis Tisch sitzen.

Nach dem Unfall mit dem Verbündeten Mubarak, von dessen Sturz man sich überraschen ließ, wird nun dessen Nachnachfolge vorbereitet. Kein falsches Wort! Obwohl das Militär den gewählten Präsidenten stürzte, nennt das im Weißen Haus niemand undemokratisch oder gar Putsch. Sonst dürften ja offiziell keine Militärhilfen mehr fließen. Es läuft perfekt. Wer soll da noch an spontane Ereignisse in Kairo glauben?

**** Aus: neues deutschland, Montag, 29. Juli 2013 (Kommentar)


Feuer frei

Ägyptens Militär läßt hinrichten

Von Rüdiger Göbel *****


Vor zwei Jahren haben Millionen Ägypter mit anhaltenden Massenprotesten den verhaßten Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak zum Rücktritt gezwungen. Zeitenwende in Kairo, es war die Rede von einer Revolu­tion. Dem Despoten wurde schließlich der Prozeß gemacht. Tatsächlich hatten die mächtigen Generäle am Nil ihren Mann am Ende fallen lassen, um ihre Macht nicht zu verlieren. Das Konzept ging auf. Aus den Wahlen gingen nicht die Tahrir-Platz-Demonstranten, die Liberalen und Linken als Sieger hervor. Die Muslimbrüder triumphierten über die Säkularen, die fortan mobil machten gegen die Bärtigen. Viel war von einer notwendigen »Neuauflage« bzw. »Fortsetzung« der Revolution die Rede. Mit im Protestboot saßen mit einem Mal wieder die alten Eliten und Parteigänger Mubaraks. In diesen Tagen ertränkt Ägyptens Armee die Revolution in Blut – und läßt sich dafür von den Revolutionären von gestern feiern. Lieber Militärherrschaft als Muslimbruderschaft, so das Motto der einstigen Helden.

Während sich Armeechef Abdel Fattah Al-Sisi auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz bei Musik, Lasershow und Helikoptervorführungen für seinen Putsch gegen die Brüder bejubeln läßt, marschieren ein paar Kilometer entfernt die »Sicherheitskräfte« gegen die Anhänger des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi auf. Zuerst werden Tränengasgranaten abgefeuert, danach wird scharf geschossen, gezielt auf Kopf oder Brust. Mindestens 80 Menschen wurden nach Behördenangaben getötet, mindestens 800 verletzt. Die Muslimbrüder sprechen von weit mehr als 100 Toten und 4000 Verletzten. Ihr Protestcamp in der Vorstadt Nasr City wird erzwungenermaßen zum Feldlazarett. Die vom Militär eingesetzte Führung verteidigt das brutale Vorgehen, wettert über den »bewaffneten Mob«. Innenminister Mohammed Ibrahim treibt es auf die Spitze, suggeriert, Mursis Mannen hätten das Massaker gar herbeigebetet, um sich als Märtyrer gerieren zu können: »Es war ein Trick der Muslimbruderschaft, um einen Zwischenfall zu provozieren und Sympathien für sich zu gewinnen«, so der Anwärter auf den nächsten George- Orwell-Preis.

Die Presse am Nil stimmt quasi gleichgeschaltet zu, die Nichtreligiösen, Linke wie Liberale, schweigen weitgehend. Der frühere Leiter der Internationalen Atomaufsichtsbehörde, Mohamed ElBaradei, jetzt Chef der »Nationalen Rettungsfront« und dank Militärputsch Anfang Juli Vizepräsident Ägyptens, verurteilte am Wochenende die »exzessive Gewalt«. Der Friedensnobelpreisträger vergaß dabei allerdings Polizei und Militär zu erwähnen. Am Ende erweckt auch er den Eindruck, die Islamisten seien selbst schuld am Blutvergießen. Selbst erschossen hat sich von den Demonstranten keiner.

Das Militär gebe den Ägyptern ihre Würde zurück, ist auf den Straßen Kairos seit dem 3. Juli immer wieder zu hören. Es ist die Würde der Notstandsdekrete, Folterkeller und wieder unantastbaren Generäle.

***** Aus: junge Welt, Montag, 29. Juli 2013 (Kommentar)


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