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"Nicht der letzte Aufstand"

Die Rolle der Arbeiterklasse in der ägyptischen Revolution wird von internationalen Medien weitgehend ausgeblendet. Ein Gespräch mit Hossam Al-Hamalawy *


Hossam Al-Hamalawy (34) ist Marxist, Blogger und Journalist. Er schreibt u.a. für den britischen Guardian und hat sich über Jahre als Aktivist für die Rechte der ägyptischen Arbeiter engagiert.


Die Streiks, die im Januar/Februar vergangenen Jahres entscheidend zum Sturz Mubaraks beitrugen, kamen nicht aus dem Nichts. Wie entstand diese neue Arbeiterbewegung?

Sie begann 2006, als der damalige Ministerpräsident Ahmed Nazif Beschäftigten der Misr-Baumwollspinnerei zwei Monatslöhne als Bonus versprochen hatte und dies nicht einhielt. Daraufhin traten dreitausend Textilarbeiterinnen in den Ausstand. Sie marschierten in die männlichen Abteilungen des Betriebes und skandierten »Hier sind die Frauen! Wo sind die Männer?« Sie beschämten sie und trieben sie so zum Handeln.

Wie verhielt sich ihre offizielle Interessenvertretung?

Der 1957 von Gamal Abdel Nasser gegründete Gewerkschaftsbund ETUF war immer ein Arm des Regimes zur Kontrolle der Arbeiterklasse. Er hatte nie eine Streikaktion unterstützt und stellte sich auch gegen diese, was zu einer Unterschriftensammlung der Beschäftigten führte, die ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihre Funktionäre forderten. Im Januar 2007 hatte die Belegschaft 13000 Unterschriften zusammen und setzte der Führung der Allgemeinen Textilarbeiterunion GUTW ein Ultimatum, das Verfahren einzuleiten. Andernfalls würden sie einen unabhängigen nationalen Gewerkschaftsbund ins Leben rufen. Die Führung weigerte sich, und der Sicherheitsapparat ging gewaltsam gegen die Arbeiter in der Industriemetropole Mahalla vor.

Dennoch nahmen die Beschäftigten ihren Kampf auf, und es wurde zur Gewohnheit, daß nach jedem Streik die Arbeiter Unterschriften mit denselben Forderungen gegen die Offiziellen ihrer jeweiligen Branchengewerkschaft sammelten. Am 30.Januar 2011 wurde auf dem Tahrir-Platz der Kern des ersten unabhängigen Gewerkschaftsbundes vorgestellt. Im Laufe eines Jahres wuchs dieser von drei Einzelgewerkschaften auf irgend etwas zwischen 150 und 200 verschiedenen Mitgliedsverbänden.

Wenn hierzulande von Ägypten die Rede ist, dann weniger im Zusammenhang mit betrieblichen Auseinandersetzungen, sondern mit Parlaments- und den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Wie wichtig sind diese Institutionen wirklich?

Mubaraks Armeegeneräle bestimmen weiterhin die Show, was im Grunde bedeutet, daß das Regime nach wie vor am Leben ist. Das sind die Bedingungen für den neuen Staatspräsidenten.

Will die Junta dauerhaft an der Macht bleiben?

Im Gegensatz zu anderen Aktivisten, die genau davon ausgehen, denke ich das nicht. Die Offiziere wollen sich in ihre Kasernen zurückziehen, allerdings in einer Weise, die es ihnen erlaubt, ihre Privilegien, ihre Kontrolle über den Militärhaushalt und die Tatsache zu wahren, daß sie sich dem Parlament gegenüber nicht verantworten müssen. Die Armee kontrolliert 25 bis 40 Prozent unserer Wirtschaft. Viele Vorstandschefs von öffentlichen Unternehmen sind Militärs im Ruhestand. Außerdem beziehen die Streitkräfte jedes Jahr 1,3 Milliarden Dollar von den US-Steuerzahlern. Das ist, nach Israel, die zweitgrößte Militärhilfe der USA für ein anderes Land.

Wie beurteilen Sie die Moslembruderschaft als aktuell wichtigste politische Kraft?

Kurz gesagt: Ihre Führung ist konservativ und gelegentlich konterrevolutionär – mit ihren Jugendlichen ist es hingegen eine andere Sache. Wenn sich die Radikalisierung fortsetzt, wird es weitere Spaltungen innerhalb der Moslembruderschaft und der anderen religiösen Gruppen geben.

Wie steht es um die Linke?

Da gibt es verschiedene Fraktionen: Die Sozialistische Volksallianz als politische Dachorganisation für mehrere linke Gruppen; uns als Revolutionäre Sozialisten, die Demokratische Arbeiterpartei, in der wir mitarbeiten; die Ägyptische Kommunistische Partei, die einen großen Auftritt mit roten Fahnen am 1. Mai vor einem Jahr hatte; die Ägyptische Sozialistische Partei, die von einigen Köpfen der Studentenbewegung der 70er Jahre ins Leben gerufen wurde, sowie die Sozialdemokratische Partei.

Damit ist die Linke zwar etwas mosaikartig, aber ich finde das nicht schlimm. Im Gegenteil: Es ist eher normal, daß Leute, wenn der Deckel der Diktatur runter ist, herauskommen und Gruppen bilden. Warum soll man bei 85 Millionen Menschen nicht zunächst mal zwölf verschiedene sozialistische Parteien haben? Ich denke, da wird es in Zukunft auch Fusionen zu etwas Größerem geben.

In den vergangenen Monaten entstanden in Europa und Nord­amerika Bewegungen – wie die spanischen indignados oder die US-amerikanische occupy, die in starkem Maße von den Ereignissen in Ägypten und anderen Teilen der arabischen Welt inspiriert waren. Was sind für Sie die wichtigsten Lehren – positiv wie negativ – die man aus den Erfahrungen der ägyptischen Revolu­tion ziehen sollte?

Das Wichtigste ist: Wenn deine Bewegung auf den Platz oder die Straße beschränkt bleibt, wirst du keinen Erfolg haben. Du mußt diese Bewegung von der Straße in die Betriebe und auf die Universitätscampusse bringen. Wir haben Mubarak nicht auf dem Tahrir-Platz gestürzt. Ja, Tahrir war eine heldenhafte Schlacht, eine heroische Kundgebung und Besetzung, die gewiß als einer der phantastischsten Kämpfe, die in diesem Jahrhundert stattfanden, in die Geschichte eingehen wird. Aber gleichzeitig hätte das Regime das aushalten können. Mubarak hätte noch sehr viel länger an der Macht bleiben können, wenn die Arbeiterstreiks nicht ausgebrochen wären.

Welche Perspektiven sehen Sie für Ägypten?

Das war nicht der letzte Aufstand. Ich würde sagen, wir haben drei bis sechs Jahre Ebbe und Flut vor uns. Kämpfe, die gewonnen werden, und andere, die verlorengehen. Aber im Allgemeinen bin ich optimistisch, was das anbelangt.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Dienstag, 22. Mai 2012


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