Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wie pazifistisch ist der Kasseler Ratschlag ...

... oder: Welchen Frieden meinen wir, wenn wir ihn als Ratschlag erteilen?

Von Knut Krusewitz*

I. Über pazifistischen Anspruch und friedenspolitische Wirklichkeit des Ratschlages

Die außerparlamentarisch - oder, wie wir heute sagen -, zivilgesellschaftlich engagierte Friedensbewegung benötigt praktische Vorbilder, die ihre Vor-stellungen von einer Welt ohne Gewalt und Krieg verwirklicht. Der Kasseler Ratschlag, den wir 1994 gegründet haben, versteht sich als ein solches Beispiel. Unser Selbstbild lässt sich so charakterisieren:
  • Wir verstehen uns als eine Gruppe von Kompetenzträgern in Sachen Frieden, die das Thema nach Erlangung der staatlichen Vereinigung wieder politikfähig machen wollen. Wir tun dies
  • als "Experten in der Sache" (Wissenschaftler),
  • als "Experten der Vermittlung" (Medienleute, Pädagogen, Künstler) und schließlich
  • als "Experten aus Engagement" (Mitarbeiter in Friedensinitiativen)
Der Ratschlag will ein friedenspolitisches und pazifistisches Bewusstsein fördern; dabei sind all jene Initiativen, Organisationen, aber auch Parteien willkommen, die sich aus besonderem Verantwortungsgefühl oder aus historischer Praxis für die Sache des Friedens engagieren. Dem Ratschlag soll einmal eine Schrittmacherfunktion im Aufdecken von Defiziten und Erfordernissen regierungsamtlicher Friedenspolitik zufallen. Darüber hinaus beansprucht er, friedenskulturellen und pazifistischen Belangen eine dauerhafte öffentliche Resonanz verschaffen.

Peter Strutynski hat unser Selbstverständnis anlässlich des 2. Ratschlages so formuliert: "Wir haben vor einem Jahr uns hier in Kassel zusammen gefunden, um uns nach langer Zeit wieder einmal bundesweit auszutauschen, uns vor allem kennen zu lernen und eine Bestandsaufnahme der vielfältigen friedenspolitischen Ansätze vorzunehmen. Heute und morgen geht es um viel mehr: Wir müssen die vielfältigen Konfliktlinien der Gegenwart, die Ursachen von Krieg und Gewalt analysieren und wir müssen eine Vorstellung darüber gewinnen, welche zivilen, nichtmilitärischen, gewaltlosen Alternativen wir in die Waagschale werfen wollen."

Damit war die programmatische Vorstellung der Protagonisten des Ratschlages treffend charakterisiert. Wir wollen seither also nicht nur
  • den inneren Zusammenhang von Krieg und Frieden erkennen
  • und seine wichtigsten Funktionsbedingungen erklären,
  • sondern auch Wege für eine friedlichere Welt angeben.
Nun ist es eine Sache, dies Expertentum zu beanspruchen, eine andere ist seine Verwirklichung im Ratschlagschlag-Prozess. Nach acht Jahren sollten wir überprüfen, wie sich Anspruch und Realität entwickelt haben. Arbeiten wir tatsächlich nur als "Experten in der Sache und der Vermittlung" und als langjährige "Experten aus Engagement"? Oder trifft möglicherweise auch auf uns zu, was inzwischen für alle möglichen Experten gilt: Das Expertenwesen ist in der Öffentlichkeit längst in eine tiefgreifende Krise geraten.

Experten gelten für viele aufgeklärte Bürger längst nicht mehr als unabhängige Sachverständige, sondern vermitteln bei ihnen eher die Vorstellung des Interessenvertreters, der sich zum Erfüllungsgehilfen bestimmter vorgefasster gesellschaftlicher, ökonomischer oder politischer Zielsetzungen macht. Man denke nur an die Rolle der sogenannten Wirtschaftsweisen bei den jährlichen Tarifverhandlungen. Dabei ist es, zumindest was die Wirkung betrifft, gleichgültig, ob der jeweilige Experte in seinem Denken selbst ideologisch so befangen ist, dass er gegebene Tatsachen nur noch selektiv wahrzunehmen und einzuordnen vermag, oder ob er sich schlichtweg kaufen lässt und damit bereit ist, gegen besseres Wissen zu handeln. In den Ratschlag-Zusammenhang übersetzt, heißt das, wir können nicht wie selbstverständlich davon ausgehen, in der Öffentlichkeit als unbefangene Kompetenzträger in Sachen Frieden oder gar als Experten des pazifistischen Engagements zu gelten.

Für meine Skepsis führe ich zwei Gründe an.

Erstens haben wir unsere friedenspolitischen Themen mit jedem Ratschlag stärker nach Kriterien
  • öffentlich-medialer Wirksamkeit
  • tagespolitischer Aktualität
  • gewerkschaftlicher und parteipolitischer Akzeptanz ausgewählt.
Kurz: Wir haben uns an Menschen orientiert, die wir für friedenspolitische Entscheidungsträger halten, aber sie sich nicht an uns. Es gibt keinen Wechselprozess.

Diese Tendenz war zwar allerdings bereits früh angelegt, worauf das Schlusswort von Horst Trapp anlässlich des zweiten Ratsschlages verweist. Die einschlägige Passage lautete: "Es geht darum, ob wir wieder politische Themen besetzen, in politische Auseinandersetzungen eingreifen, ob wir mit unseren Vorstellungen wahrgenommen werden und letztlich auch wieder Masseneinfluss erreichen können."

Seit acht Jahren ist keineswegs klar, welche politischen Themen wir besetzen sollen und welche friedenspolitischen und pazifistischen Vorstellungen wir haben. Geht es dabei ums Kerngeschäft eines linken Pazifismus oder um das gesamte Spektrum der herrschenden Sicherheits-, Militär-, Rüstungs- und Kriegspolitik? Und Masseneinfluss? Welche Massen wollen wir beeinflussen? Die in den strukturkonservativen Volksparteien, Gewerkschaften, Massenmedien, Umweltverbänden oder Kirchen, die zur Enttabuisierung des Militärischen seit zehn Jahren schweigen? Schließlich: Wäre Masseneinfluss bereits durch den jährlich erteilten Ratschlag zu erreichen, selbst wenn er publizistisch verbreitet wird?

Der zweite Grund, warum die Rede vom Kasseler Expertentum problematisch erscheint, ist gravierender. Er besagt: Wir können keine zeitgemäße Theorie-Praxis-Konzeption von einer Welt ohne Gewalt und Krieg vorzeigen, die uns im Friedensdiskurs als Experten für Frieden oder gar Pazifismus ausweisen würde. Wer als Mitglied oder Unterstützer des Kasseler Ratschlages gegen Kriege protestierte und den Ratschlag gab, nur zivile Formen der Konfliktbearbeitung anzuwenden, der tat dies selten von einem pazifistischen Standpunkt aus. Die überwiegende Mehrheit machte andere Argumente geltend, nämlich völkerrechtliche, humanitäre, regierungs- und parteipolitische, gewerkschaftliche oder alle zusammen.

Und auf die jüngsten öffentlichen Kontroversen über das was, was Pazifismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts sei (Ludger Volmer) und darüber, ob ein "gerechter Krieg" nicht doch wieder moralisch gerechtfertigt werden müsse (American Values Paper einflussreicher US-Wissenschaftler), könnte sich der Ratschlag nur aus einer friedenspolitisch verkürzten Perspektive einlassen. Verkürzt um seine pazifistische Komponente. Das hat nichts mit bösem Willen oder gar Unfähigkeit zu tun, sondern mit unserer fehlenden friedenskulturellen Praxis. Zwar hat der Ratschlag niemals pazifistische Beiträge unterdrückt oder ausgegrenzt, aber eben auch nicht gefördert.

II. Der Ratschlag hält emanzipatorischen Pazifismus für verzichtbar

Sagen wir es bereits an dieser Stelle unmissverständlich: Der Ratschlag hält emanzipatorischen Pazifismus für verzichtbar. Warum dies so ist, versuche ich zu erklären.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Themenstruktur des Ratschlages, auf das Verhältnis von pazifistischen zu friedenspolitischen Beiträgen. Es beträgt etwa 1 zu 10, das heißt, pazifistische Beiträge machten zwischen 1995 und 2001 nur knapp zehn Prozent aller Beiträge aus. Als pazifistisch bezeichne ich Beiträge, die den Horizont der herrschenden wie kritischen Friedenspolitik überschreiten. Sie tun dies, indem sie Beispiele dafür liefern, wie die verursachenden gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse verändert werden können.

Die Themenstruktur ist aus einem weiteren Grund aufschlussreich. Sie offenbart nämlich unsere selektive Wahrnehmung der globalen Gewaltwirklichkeit. So haben uns die (Bürger-)Kriege in Asien, Afrika oder Lateinamerika bislang kaum den Schlaf geraubt. Unsere Wahrnehmung der globalisierten strukturellen Gewalt bleibt eigentümlich euro-, allenfalls noch bündniszentriert. Ein pazifistisch fundierter Ratschlag hätte diese falsche Realitätsreduktion verhindert, weil sich über Pazifismus spätestens seit Ende des Ersten Weltkrieges sinnvoll nur aus globaler Perspektive reden lässt.

Und aus einem dritten Grund ist eine Durchmusterung der Ratschlag-Publikationen lehrreich. Man findet dort keine Beiträge zum friedenskulturellen Diskurs. Die Ausnahme sind zwei überragende Vorträge von Wolfgang R. Vogt, die aber im Ratschlag-Prozess nicht die nötige Resonanz fanden. Ein erstaunlicher Vorgang, weil Friedenskultur unsere Anliegen reflektiert und vertritt. Sie ist nach Auffassung der UNESCO "die Kultur des Friedens als alltägliche Denkweise, Verhaltensweise und Lebensweise des einzelnen und der Gesellschaft. Sie beruht auf der Achtung der Menschenrechte, auf Partizipation, Dialog und Zusammenarbeit. Die Kultur des Friedens schließt Gewalt grundsätzlich als Mittel der Konfliktlösung aus." Dies Verständnis von Friedenskultur fördert die Herausbildung kritisch-aufklärerischer, ethischer und friedenspolitischer Verhältnisse, innerhalb derer sich emanzipatorischer Pazifismus entfalten kann. Eine Vision, deren faszinierenden Gehalt der Ratschlag erst noch begreifen müsste.

III. Versuch, die pazifistische Zurückhaltung des Ratschlages zu erklären

Versuchen wir zu erklären, warum sich die Mehrheit des Ratschlages als Experten für sicherheits-, außen-, militär- und rüstungspolitische Probleme versteht und engagiert, nicht aber für pazifistische. Oder, als Frage: Warum formuliert sie ihr Expertenwissen in unterschiedliche friedenspolitische Ratschläge um, nicht aber in friedenskulturelle oder pazifistische?

Die Ursachen haben möglicherweise mit unserer friedenspolitischen Denktradition zu tun. Die Gründergeneration des Ratschlages - Christen, Sozialdemokraten, Grüne, Pazifisten, Demokratische Sozialisten - konnte sich bis Ende der achtziger Jahre eher eine sozialistische Weltordnung vorstellen als eine pazifistische. Pazifismus stellte sich die Mehrheit der Ratschlag-Protagonisten allenfalls als willkommenes Nebenprodukt des Sozialismus vor. Der umgekehrte Vorgang - durch Frieden zum Sozialismus - erschien undenkbar.

Dieser Denkstil wurzelt in linkem Friedensverständnis. Ich zitiere beispielhaft aus einem durchaus repräsentativen Dokument, der Abschlussresolution des internationale Sozialisten-Kongress vom August 1907 in Stuttgart. Darin hieß es: "Begünstigt werden die Kriege durch die bei den Kulturvölkern im Interesse der herrschenden Klassen systematisch genährten Vorurteile des einen Volkes gegen das andere, um dadurch die Massen des Proletariats von ihren eigenen Klassenaufgaben sowie von den Pflichten der internationalen Klassensolidarität abzuwenden. Kriege liegen also im Wesen des Kapitalismus; sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militärtechnische Entwicklung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung die Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt.
Daher ist die Arbeiterklasse, die vorzugsweise die Soldaten zu stellen und hauptsächlich die materiellen Opfer zu bringen hat, eine natürliche Gegnerin des Krieges, der im Widerspruch zu ihrem Ziele steht: Schaffung einer auf sozialistischer Grundlage beruhenden Wirtschaftsordnung, die die Solidarität der Völker verwirklicht." (Internationaler Sozialisten-Kongreß Stuttgart 1907, vom 18. bis 24. August, Buchhandlung Vorwärts, Berlin 1907, S.64-65)

Nun, diese Sichtweise ist ja nicht völlig überholt, aber sie ist erstaunlich undialektisch. Spätestens die gewaltfreie Auflösung der bipolaren Weltordnung hätte uns Dialektik einpauken müssen. Zumal uns die KSZE-Charta von Paris vom Dezember 1990, mit der dies epochale Ereignis seine friedensvisionäre Kontur bekam, die Chance bot, über die Dialektik von Frieden, Sozialismus und Pazifismus verbindlich nachzudenken.

Dort hieß es nämlich: "Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht, das für den Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern offen und zum Austausch bereit ist, und das mitwirkt an der Suche nach gemeinsamen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft. [...]. Das nun ungeteilte und freie Europa fordert einen Neubeginn. Wir rufen unsere Völker dazu auf, sich diesem großen Vorhaben anzuschließen." ( Charta, in: KSZE-Dokumente, Beck-Texte im dtv, Bd. 5573, S. 149 ff) Hätten wir dies in der Gründungsphase des Ratschlages getan, wären uns unweigerlich die gegenseitigen Abhängigkeiten von emanzipatorischem Pazifismus, Sozialismus und Friedenskultur ins Blickfeld geraten. Ihre Interdependenzen wären nämlich daraufhin zu befragen, ob sie nicht zwangsläufig sozialistische Implikationen haben. Wenn hier von sozialistischen Implikationen geredet wird, dann in einem theoretischen, nicht parteipolitischen Sinn. Diese Thematik hat übrigens sachliche und methodische Bezüge zur Theorie der "strukturellen Gewalt" von Johan Galtung, die nur deshalb zu Unrecht in Vergessenheit geriet, weil der politische Konservatismus sie von Anfang an unter Sozialismus-Vedacht stellte.

Nun, bereits diese wenigen Hinweise sollten erkennbar machen, dass zeitgemäßes Nachdenken über die Dialektik von Pazifismus und Sozialismus innerhalb des Ratschlag-Prozesses seine Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion bedingt. Und die beginnt mit der Aufforderung, die Arbeit an unserem Theorie-Praxis-Konzept nicht länger hinaus zu schieben. Die Gründe, warum wir dies in der Vergangenheit taten, sind bekannt. Die einschlägigen Stichworte lauten: Unnötiger Aufwand, da organisatorische Funktionsfähigkeit des Friedensratschlages erwiesen sei und seine Ratschläge auf zunehmende öffentliche Resonanz stießen.

Tatsächlich haben wir diese Hausaufgabe nicht gemacht, weil wir - bewusst oder unbewusst -, annehmen, bereits die Gründung des Ratschlages sei Ausdruck eines friedenspolitischen Programms, das theoretischen Ansprüchen genüge. Eine genauere Analyse würde allerdings ergeben, dass es sich dabei um Erfahrungen aus unserer erfolgreich inszenierten Friedensarbeit unter Bedingungen des Kalten Krieges handelt. Ich erinnere beispielhaft an den Krefelder Appell, die großen Friedensdemonstrationen in Bonn, die Gemeinden für den Frieden oder die bundesweite Herbstdemonstration im Fulda Gap, alles Geschehnisse, die Tausende von Friedensinitiativen mittrugen. Unser Verständnis von Frieden war stark geprägt durch die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, weil sie seit ihrer Entstehung nur Konflikt- und Kriegsordnungen hervorbrachte.

Diese Kritik hat zwar richtige Erkenntnisse ermöglicht, aber sie hat gleichzeitig einen friedenspolitischen Denkstil gefördert, der theoretische und praktische pazifistische Anstrengungen im Kapitalismus unnötig erscheinen ließ. Von demonstrativen Großmanifestationen in Bonn oder Washington haben wir allemal mehr Frieden erhaltende Wirkung erwartet als von pazifistischen Kleinprojekten im Odenwald, in den Rocky Mountains oder im Ural. Dies unterentwickelte Pazifismus-Verständnis herrscht inzwischen unter uns vor, weshalb wir uns in eine Dilemma-Situation manövriert haben. Einerseits wollen wir die etablierte Außen-, Sicherheits-, Militär-, Rüstungs- und Kriegspolitik als Experten extensiv und intensiv kritisieren, was zur Folge hat, dass wir uns inzwischen fast nur noch an diesen Themenbereichen abarbeiten. Anderseits überwinden wir diesen Kritik-Horizont nicht, weil wir dann friedenskulturell und pazifistisch argumentieren und handeln müssten. Dies verhindert offenbar die Angst, uns dadurch den Zugang zu politischen und gewerkschaftlichen Entscheidungsträgern zu verbauen. Der Ratschlag steht, nachdem sich seine Mitglieder fast einem Jahrzehnt friedenspolitisch engagieren, an einer Wende. Formelhaft umschrieben, heißt die Alternative: Entweder schließt sich die Mehrheit der jeweils attraktivsten sozialen Bewegung der Saison an, was zur Auszehrung des Ratschlages führen würde. Oder der Ratschlag inszeniert sich auch als dauerhaftes pazifistisches Projekt, wodurch er, weil es beispiellos in der Bundesrepublik wäre, selber attraktiver würde.

Lernen wir etwas daraus, und ja, was? Bis auf weiteres sollten wir auf den Anspruch verzichten, pazifistische Ratschläge zu erteilen. Wir sollten dies erst wieder tun, wenn wir über ein einschlägig fundiertes Theorie-Praxis-Konzept verfügen, das solche Ratschläge als Experten-Ratschläge glaubhaft macht.

IV. Elemente eines emanzipatorischen Pazifismus

Zu den Aufgaben des kulturellen Diskurses bei der Befähigung zur Gewaltvermeidung, Konfliktaustragung und Friedensgestaltung gehört das Entwickeln von vorstellbaren attraktiven "Zukünften", die lebbar und wünschenswert erscheinen, die aber auch mit unserer Lebensweise und ihrer Historizität vermittelt sind. Deshalb vollzog der moderne Pazifismus den programmatischen Wandel von einem ausschließlich auf die Vermeidung von Kriegen ausgerichteten Ansatz zu einem multifunktionalen Gesellschaftsprogramm. Es wäre fatal, wenn dies Friedensprojekt erneut den "subjektiven Faktor" vernachlässigen würde. Deshalb fördert emanzipatorischer Pazifismus zuerst den Erwerb ideologiekritischer Kompetenz und den Aufbau friedenskulturellen Subjektvermögens.

Friedenskulturelles Subjektvermögen ist
  • die Selbstverpflichtung zu Güte, Solidarität, Friedfertigkeit,
  • aber auch zur Verteidigung individueller, sozialer, ökonomischer, ökologischer Menschenrechte und deshalb
  • zum lebenslangen Widerstand gegen Rassismus, Gewalt, Ausbeutung und Naturzerstörung.
Emanzipatorisch ist dies Pazifismus-Verständnis, weil es ein widerständiges subjektives Denken fördert, das strukturkonservative Macht- und Herrschaftsinteressen durchschaut und dadurch erst seine Träger dazu befähigt, gesellschafts-, wirtschafts- und friedenspolitische Irrwege der bürgerlichen Globalisierungseliten zu erkennen und auch zu verlassen. Und emanzipatorisch ist dies Pazifismus-Verständnis, weil es die Planbarkeit gesamtgesellschaftlicher Angelegenheiten für unabdingbar hält. Es grenzt ja kaum an Landesverrat, wenn ich sage, dass Marktkräfte und andere blind wirkende Phänomene kein einziges Gewalt- und Friedensproblem gelöst haben. Im Gegenteil.

Wenn die kapitalorientierten Wachstumsökonomien, allesamt Produkte des Kalten Krieges, nicht befriedet werden, müssen ihre verheerenden globalen Folgewirkungen gerade in den demokratisch verfassten NATO-Staaten die gesellschaftliche Gewalt- und Kriegsbereitschaft stetig wachsen lassen. Eine solche Friedensplanung bedarf allerdings einer aufklärerisch-kritischen natur-, gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Grundlagen- und Begleitforschung. Notwendige Bedingung ist, dass der pazifistische Entwicklungsplan sämtlichen sozialen, kulturellen, geistigen und wirtschaftlichen Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht wird und auf einer gesicherten wissenschaftlichen Grundlage beruht. Hinreichende Bedingung wäre, dass die Symmetrie der Entwicklungskomponenten gewährleistet wird, mithin die pazifistische Entwicklung ebenso dauerhaft garantiert bleibt wie die ökologische, soziale, ökonomische und kulturelle.

Emanzipatorischer Pazifismus ist konfliktträchtig. Denn Pazifismus als integrierende Verpflichtung für Gesellschaft, Politik, Verwaltung, Militär und Wirtschaft zwingt alle Beteiligten ihre strukturkonservativen Interessen zu legitimieren. Dass sie die Frage nach den ursächlichen Beziehungen zwischen Herrschaft, Macht, Ausbeutung, Verteilung, Naturaneignung, Hunger, Gewalt und Krieg provozieren, wird man kaum der pazifistische Problemstellung anlasten können.

Dies umrisshaft benannte Theorie-Praxis-Konzept eines emanzipatorischen Pazifismus verweist auf seine politische Brisanz. Während seine Protagonisten zivilisatorisch notwendige Strukturreformen mit ihren enormen menschheitlichen und individuellen Anpassungsleistungen fordern müssen, dürften ihre Antagonisten sie mit (fast) allen Mitteln bekämpfen. Wer auch jetzt noch die Auffassung vertritt, ein solches Pazifismus-Konzept gehöre auch dann nicht zum Kerngeschäft des Ratschlages, wenn es sich offenkundig um ein aufklärerisches Friedensprojekt handle, der wird immerhin erklären müssen, warum der Ratschlag-Prozess jede Diskussion darüber für verzichtbar hält.

Wir kommen nun endlich zur Auflösung unseres Rätsels.
Auf die Frage, wie pazifistisch der Kasseler Ratschlag sei, gibt es zwei richtige Antworten, eine quantitative und eine qualitative. Die quantitative laut: Er ist pazifistisch, rechnen wir großzügig, zu einem Zehntel. Die qualitative lautet: Von Pazifismus als integrierender Perspektive des Ratschlages kann keine Rede sein. Die richtige Antwort auf die vergleichsweise schwierigere Frage, welchen Frieden wir meinen, wenn wir ihn als Ratschlag erteilen, lautet: Es ist ein Friedensverständnis, das sich in kritischer Absicht auf das herrschende bezieht, aber dessen Horizont auch nicht überschreitet. Das Friedensverständnis des Ratschlages könnte aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem emanzipatorischen Pazifismus sein.

V. Empfehlung

Ich empfehle die Gründung einer AG "Emanzipatorischer Pazifismus innerhalb des Kasseler Ratschlages". Ziel ihrer Arbeit sollte der Gegenentwurf zum triadischen (europäisch-japanisch-nordamerikanischen) Wachstumsprogramm, das säkular darauf angelegt ist, seine kapitalorientierten Globalisierungsinteressen durch Herrschaft, Gewalt und Kriege durchzusetzen. Dass eine solche Arbeit ihren historischen Kontext rekonstruieren sollte, empfiehlt sich. Aus dieser universellen Perspektive könnte sich die Freude über das Ende der sozialistisch beeinflussten Menschheitsgeschichte als verfrüht erweisen. Da es keine zweite Institution geben dürfte (die Ausnahme von der Regel ist das Österreichische Studienzentrum für Frieden und Konfliktforschung) die aus pazifistischem Erkenntnisinteresse über die Grundlagen einer Welt ohne Gewalt, Krieg, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Naturzerstörung arbeitet, dürfte ein solches Vorhaben dem Ratschlag einen beachtlichen Bedeutungszuwachs verschaffen.

VI. Was aus der Geschichte zu lernen wäre
Ein historischer Exkurs in selbstbelehrender Absicht


Politische Linke und ihr Verhältnis zum Pazifismus

In Deutschland fanden die aufklärerischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten und Pazifisten zuletzt in der Weimarer Republik statt. Viele grundlegende Dokumente finden sich einmal im "Handbuch der Weltfriedensströmungen der Gegenwart", das zwanzigjährige Student Walter Fabian und sein einundzwanziger Kommilitone Kurt Lenz im März 1922 herausgaben. Ein Reprint veröffentlichte Walter Fabian 1985 im Bund-Verlag. Dies Handbuch hat aus mehreren Gründen seine Aktualität bis heute kaum eingebüßt.

Hier genüge der Hinweis auf zwei.
Einmal finden sich dort die sehr lehrreiche kontroverse Debatte über Sozialismus und Pazifismus. Und zum andern tauchen dort bereits alle Konzepte auf, die Inhalte, Mittel und Praxisbereiche des Pazifismus bis heute geprägt haben.
Wege zum Pazifismus: Geschichte des Pazifismus, Wissenschaften, Religionen, Ethik, Demokratie, Sozialismus, Revolution.
Verwirklichung des Pazifismus: Abrüstung, KDV, Ethik, Wissenschaften, Demokratie, Völkerrecht, Weltarbeitsrecht, Weltgerichtshof.
Wirkungsgebiete des Pazifismus: Innere Politik, Auswärtige Politik, Weltwirtschaft.

Eine andere aufschlussreiche Quelle sind SPD-Parteitage, beispielsweise die in Magdeburg und Kiel (1927). Aus diesem Handbuch habe ich den Beitrag von Heinrich Ströbel ausgewählt, dem einflussreichsten Pazifisten in der damaligen SPD. Ich werde seinen Essay über die Beziehung zwischen Sozialismus und Pazifismus ergänzen um Stellungnahmen damaliger SPD-Linker.

"Der Sozialismus ist in seinem innersten Wesen pazifistisch. Sein Ziel ist nicht nur die Aufhebung der auf den Privatbesitz an Produktionsmitteln gegründeten Klassenvorrechte und Klassengegensätze, die wirtschaftliche Befreiung und kulturelle Erlösung aller Gesellschaftsmitglieder, sondern auch die Beseitigung aller nationalen Schranken und Gegensätze, die bisher die Völker untereinander zerklüftet haben. [...]. Es ist klar, dass der Sozialismus bei solchen Grundsätzen auch grundsätzlicher Gegner des Krieges sein muss.
Wenn sich der Sozialismus trotzdem nicht mit Entschiedenheit und Konsequenz für den Pazifismus eingesetzt hatte, so erklärt sich das aus verschiedenen Umständen. Zunächst war der Pazifismus den Sozialisten zu "bürgerlich", zu einseitig ethisch und ideologisch eingestellt. Er vertrat nach sozialistischer Auffassung für das Zusammenleben der Völker internationale Rechtsgrundsätze, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die kapitalistische Gesell-schaftsordnung unausgesetzt jene Kräfte der Völkerzwietracht und des nationalistisch maskierten Klassenegoismus entwickelte, deren Gesamtheit man als Imperialismus bezeichnet hat. Das Streben des Pazifismus sei zwar an sich überaus löblich, aber leider ein illusionäres Unterfangen, weil der Pazifismus ver-kenne, dass Imperialismus, Völkerfeindschaft und Krieg erst mit dem kapitalistischen System selbst verschwinden könnten. Deshalb diene man dem Ideal der Völkeraussöhnung und zwischenstaatlichen Kulturverflechtung einzig und allein durch Verbreitung des Sozialismus selbst.

So berechtigt diese sozialistische Kritik an dem rein bürgerlichen, ideologischen Pazifismus auch war, so litt doch auch sie selbst an ideologischer Überspannung. Denn der Kapitalismus war - auch nach sozialistischer Auffassung - nicht von heute auf morgen zu stürzen, sondern nur durch einen langwierigen politischen und ökonomischen Entwicklungsprozess zu überwinden. In der Zwischen- und Übergangszeit aber wirkten die gefährlichen Tendenzen des Imperialismus fort, also galt es, ihnen ein äußerstes an Kräften des Friedens entgegenzusetzen. Und da die sozialistisch-proletarischen Kräfte in ihrer bisherigen Form, wie ja der Weltkrieg so tragisch bewiesen hat, bei weitem nicht ausreichten, um, Imperialismus und Militarismus unschädlich zu machen, wäre es eine erfreuliche Selbsterkenntnis gewesen, wenn der Sozialismus sich rechtzeitig mit allen ehrlichen und tatkräftigen Elementen des Pazi-fismus zur geistigen Niederkämpfung jener leider nur allzu-verbreiteten Weltanschauung zusammengeschlossen hätte, für die der Krieg ein notwendiges Übel, ja sogar der Erwecker der höchsten Bürgertugenden ist.

Aber noch ein anderes historisches und psychologisches Moment muss festgestellt werden. Der Sozialismus der Vergangenheit war wohl in seinen Zielen pazifistisch, nicht aber auch in seinen Mitteln. Da ihm die Geschichtsanalyse gezeigt hatte, dass in der Vergangenheit die Gewalt der Hebel so manches Gesellschaftsfortschrittes gewesen war - das ungeheuerliche Zerstörungswerk der Gewalt fand leider bei dieser Art der Geschichtsbetrachtung nicht die gebührende Würdigung -, so glaubte man auch für die Zukunft an die fortschrittszeugende Kraft der Gewalt. Mit der Darstellung der Notwendigkeit der bisherigen Revolutionen vermischte sich eine Verherrlichung der Revolutionen und der revolutionären Gewaltmittel schlechthin, deren verhängnisvolle, revolutionsromantische Wirkung sich bis in die neueste Zeit nicht nur in Rußland offenbart hat. Auch dass noch heute manche Sozialisten den durch die Klassenscheidung und die Klasseninteressen bedingten Klassenkampf mit Gewaltanwendung und diktatorischen Maßnahmen identifizieren, ist ein Ausfluss dieser Revolutionsromantik. Und nicht nur die Revolution betrachtete man als Hebel des historischen Fortschritts, sondern unter Umständen auch den Krieg. [...].

Darum ist es an der Zeit, dass der Sozialismus sich seines innersten Wesens völlig klar bewusst wird und sich vorbehaltlos zum Pazifismus bekennt. Zu jenem Pazifismus, der die ökonomisch-psychologischen Wurzeln der Völkerzerklüftung genau erkennt und deshalb für die Ablösung des kapitalistischen durch das sozialistische Wirtschaftssystem mit aller Energie eintritt, der sich aber zugleich für die Verbreitung der sittlichen Ideen des Pazifismus und den Aufbau des neuen Völkerrechts und der großen lückenlosen Völkergemeinschaft mit der gleichen Leidenschaft einsetzt! Pflicht und vornehmste Aufgabe des Sozialismus muss es fortan sein, alle, aus welchen seelischen, politischen oder ökonomischen Quellen immer stammenden pazifistischen Strömungen zu fördern und zu sammeln, die Idee des Völker- und Weltfriedens zu vertiefen und in die breitesten Massen zu tragen, und jeden Ansatz einer zwischenstaatlichen Abrüstungs-, Schiedsgerichts- und Völkerbundsorganisation zu einem starken und tragfähigen Gebäude entwickeln zu helfen!"


Positionen sozialdemokratischer Linker

Die linke Parteiopposition hatte nach der Wiedervereinigung mit der USPD im Jahre 1922 wieder größeres Gewicht bekommen. Sie wurde dominiert vom Rechtsanwalt Paul Levi und war nachhaltig vom Austromarxismus Max Adlers beeinflusst. Im Unterschied zur Mehrheitsposition hielt sie daran fest, dass der Imperialismus und Kapitalismus Krieg bedeuteten und der Sozialismus Friede. Ein gewaltfreies Zusammenleben der Menschen schon unter den Bedingungen des Kapitalismus war für die Linke nicht vorstellbar. Diese alte Auffassung, so ein linksorientierter Delegierter auf dem Kieler Parteitag von 1927, habe heute noch genauso Geltung wie vor 20 Jahren. "Indem wir für den Sozialismus kämpfen und dem internationalen Proletariat internationale Aufgaben stellen, kämp-fen wir für den Frieden." Denn: "Will der Weltkapitalismus sich nicht selbst aufheben, so muss er neue Kriege vorbereiten."

Den Pazifismus tolerierte die Linke mit mitleidigem Lä-cheln, denn dieser Pazifismus verfolge zwar edle Absichten, habe sich aber noch nicht mit den "ehernen Gesetzen der Ge-schichte" vertraut gemacht. Er verkenne, "dass die Welt kein Bau ist, der von der Vernunft, einer überirdischen, als Gottheit auf den Thron gesetzten Vernunft, regiert wird, sondern von wirtschaft-lichen und sozialen Tatsachen". Der Pazifismus sei noch nicht zum ökonomischen Materialismus durchgedrungen: "Diese Wechselwirkung zwischen Bewusstsein der Menschen und ihrer Abhängigkeit von ihrer ökonomischen Basis nicht zu erkennen bildet den Trennungsstrich zwischen dem reinen Pazifismus und der Sozialdemokratie."

Anhang

Knut Krusewitz: Pazifistische Kritik am grenzenlosen Wachstum des Militärsektors

Die vom Nachhaltigkeits-Diskurs geforderte Verabschiedung vorherrschender Wachstums- und Fortschrittsvorstellungen hielt auch der regierungsnahe deutsche Rat von Sachverständigen für Umweltfragen in seinem Umweltgutachten von 1994 für unabweisbar. Begründung: Ihre Grundannahme, stetiges Wirtschaftswachstum, erweist sich ökologisch "nicht länger als tragfähig". Das erinnert an die Problemsicht im Weißbuch der Europäischen Kommission (1993).

Dennoch dürften die europäischen oder atlantischen Militärs in absehbarer Zeit kaum bereit sein, dies Thema zum Gegenstand selbstkritischer Reflexion zu machen. Im Gegenteil. Auch nach Ende des Kalten Krieges halten die Entscheidungsträger im militär-industriellen Komplex der NATO- und EU-Länder an ihrem schier grenzenlosen budgetären, waffentechnologischen und geographischen Wachstumsinteresse fest.

Den sinnfälligen Anschauungsunterricht bietet die aktuelle Debatte über "Ausrüstungsdefizite" der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP). Weil Europas Entscheidungsträger zukünftig sowohl gemeinsam mit den USA Kriege führen wollen als auch unabhängig von ihnen, fehlen den europäischen Streitkräften noch jene Fähigkeiten, die für Kampfeinsätze jenseits der EU-Grenzen benötigt werden (geographisches Wachstumsinteresse). Defizite weisen sie in den Bereichen Allwetteraufklärung (z.B. Radarsatelliten und luftgestützte Zielerfassungssysteme) Kommunikation, Luft- und Seetransport, Luftbetankung, verlegbare Truppen mit hoher Kampfkraft, allwetterfähige Kampfflugzeuge und Abstandswaffen auf (waffentechnologisches Wachstumsinteresse).

Der Militärsektor gehörte und gehört nicht zu den tragfähigen Strukturen in Produktion und Verbrauch. Seine Aktivitäten haben vielmehr "einen extrem oligarchischen Charakter". (Harborth) Außerdem ist er unproduktiv. Darauf machte bereits Adam Smith aufmerksam: "So sind z.B. der Monarch und alle seine Civil- und Militärbeamten mit der ganzen Armee und Flotte, unproduktive Arbeiter. Sie sind die Diener des Volkes und empfangen ihren Unterhalt durch einen Teil vom Jahresprodukt des Fleißes anderer Leute." Weil er unproduktiv ist, bleibt der Militärsektor zur Aufrechterhaltung seiner Funktionsfähigkeit auf stetiges Wirtschaftswachstum angewiesen, aus dem er sich durch Umverteilung, Steuern und Staatshaushalt alimentieren lässt. Für ihn träte der finanzielle worst case ein, wenn die Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts stetig sinken würden, weil dann sein eigenes Wachstum entweder aus Steuererhöhungen oder zivilen Haushalten finanziert werden müsste.

Der militärisch-industrielle Komplex hat folglich ein überragendes Interesse an der Fortdauer unseres kapitalorientierten Wachstums- und Fortschrittsmodells, wodurch er zu einem mächtigen Hindernis für den erforderlichen Sustainability-Wandel wird. Aus diesem Grund verteidigt er das überholte Verständnis von "Fortschritt als Kultivierung der menschlichen Lebenswelt", das "ohne jede Rücksicht auf die umfassenden Zusammenhänge der diese Lebenswelt tragenden Natur" (Rat von Sachverständigen für Umweltfragen) auskam. Der unproduktive militärisch-industrielle Komplex verlängert also mit seinem Interesse an stetigem Rüstungswachstum eine Form des Wirtschaftens, die zivilisatorisch nicht mehr dauerhaft aufrecht zu erhalten ist, obwohl er damit sogar seinem eigenen Interesse zuwider handelt, denn er zerstört das, wovon (nicht nur) er lebt.

Immunisierung gegen Kritik: Bedrohungsanalytisch verzerrte Realitätswahrnehmung

Die Entscheidungsträger im militärisch-industriellen Komplex nahmen also den öffentlichen Sustainability-Diskurses nicht als Reformchance, sondern als Systembedrohung wahr. Beispielhaft findet sich dies Perzeptionsmuster in den deutschen Verteidigungspolitischen Richtlinien wieder. Das dort behauptete Bedrohungsspektrum reicht von
  • "der innerstaatlichen Dimension sozialer, ethnischer, religiöser und ökonomischer Krisen
  • über die regionale Dimension, die auch machtpolitische Faktoren, territoriale Ansprüche und Verteilungskämpfe umfasst, bis hin
  • zur globalen Dimension des Wohlstands- und Entwicklungsgefälles [sic!]
  • sowie demographischer, ökonomischer und ökologischer Fehlentwicklungen."
Während die UNESCO oder der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen den Sustainability-Wandel fordern, weil das Rio-Vertragswerk dazu verpflichte, halten ihn deutsche Militärs anscheinend für eine spezifische "Form internationaler Destabilisierung". Und für die gilt: "Jede Form internationaler Destabilisierung beeinträchtigt den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt, zerstört Entwicklungschancen, vernichtet Ressourcen, begünstigt Radikalisierungsprozesse und fördert Gewaltbereitschaft. [Bei] insgesamt negativem Entwicklungsverlauf kann dieser Zusammenhang auch militärische Dimension gewinnen." (VPR)

In diesem Wahrnehmungs- und Bewertungsgefüge verwandeln sich genau die vested interests, diese angeblich unaufgebbaren Interessen, deren Fortdauer sich aus Sustainability-Gründen nicht mehr rechtfertigen lässt, in strukturkonservative Interessen, die fortan zu wachstumsökonomischen und machtpolitischen Essentials deutscher Globalpolitik erklärt und somit als Stabilitätsfaktoren des westlich dominierten internationalen Beziehungssystems (VPR) behauptet werden.

Die Determinanten solcher Vorstellungen "von den anderen" wären zwar bei den Personen zu suchen, die sie entwickeln, vor allem aber aus den gesellschaftlichen Funktionsbedingungen des militärisch-industriellen Komplexes zu erklären. Anscheinend glauben dessen Bedrohungsanalytiker, er ließe sich nur auf diese Weise gegen die Kritik immunisieren, er sei selbst eines der Probleme, das er vorgibt, lösen zu wollen. Indem sie das stetige Wachstum des unproduktiven militärisch-industriellen Komplexes bedrohungspolitisch verteidigen, können sie sich zugleich als Retter anbieten vor dessen Begleiterscheinungen - Gewalt, Aggression und Krieg. "In Hinblick auf das Ziel, den Weltfrieden zu sichern, wären dann bestimmte Produktionen unter Umständen als unproduktiv einzustufen, weil sie der Zielerreichung zuwiderlaufen." (Zinn)

Emanzipatorischer Pazifismus kann da nur als Bedrohung militärischer Interessen erscheinen:
  • Als ökonomische Bedrohung, weil er die Notwendig exponentiellen Wirtschaftswachstum bestreitet, und damit die materielle Existenzbedingung des Militärs;
  • als politische Bedrohung, weil er dazu beiträgt, Zusammenhänge zwischen Verteilungsstrukturen und dem Weltfrieden aufzudecken und daraus Handlungsempfehlungen herzuleiten und
  • als friedenskulturelle Bedrohung, weil er kein materiell begründbares Interesse mehr an Feindbildern hat, eine wesentliche ideologische Existenzbedingung des militärisch-industriellen Komplexes.
Menschen, die eine pazifistische Welt aufbauen, wollen ja gerade menschenwürdige Lebens-, Arbeits-, Verteilungsformen erproben und fördern, die, weil sie ihren oligarchischen Charakter eingebüßt haben, auch entwicklungsplanerisch verallgemeinert werden können. Die Befriedigung materieller Bedürfnisse soll nicht mehr "die Schaffung neuer materieller Bedürfnisse zum Ziel haben, sondern die Befriedigung der obersten Bedürfnisse des Menschen: Glück, Wissen, die Fähigkeit, die Schönheit der Welt zu genießen, eine bessere Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen." (Bresso)

Menschen, die Frieden entwickeln, handeln offenkundig auch ökonomisch vernünftig, weil sie erhalten, wovon alle leben. Ihnen dürfte deshalb leichter fallen, die tatsächlichen Ursachen für die "internationale Destabilisierung" zu erkennen. Sie bestehen "in Entwicklungen, die im Zuge weiterer Verelendung der Dritten Welt zu einer Intensivierung militärischer und terroristischer Auseinandersetzungen führen können. Je infamer die Verteilungsstrukturen auf der Erde werden, desto gefährdeter ist der Weltfriede. Da die weltwirtschaftlichen Mechanismen äußerst sensibel auf politische, erst recht militärische Konflikte reagieren und die hieraus resultierenden Wirtschaftskrisen offenkundig Verluste und Wohlstandseinbußen nach sich ziehen, müssen Interessen, die einem Abbau der weltweiten Verteilungsdiskrepanzen entgegenstehen, als unvernünftig gelten. Die auf solche Interessen bezogenen Produktion sind somit unproduktiv in dem sehr konkreten Sinn, dass sie zerstörend wirken." (Zinn)

* Referat auf einem Wochenendseminar, das der Deutsche Friedensrat e.V. und der Bundesausschuss Friedensratschlag zusammen mit der Thüringischen Stiftung für Wissenschaft und Bildung am 12.-14. April 2002 in Elgersburg veranstalteten.
Prof. Dr. Knut Krusewitz war Hochschulllehrer für Umwelt- und Friedensforscher und leitet seit 1995 die Rhöner Friedenswerkstatt im UNESCO-Biosphärenreservat.



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