Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Krieg als Totalangriff auf das Völkerrecht

Kurzfassung des Referats von Norman Paech auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag

Was Beobachter weltweit eint, ist die Überzeugung von der Kriegsträchtigkeit dessen, was allgemein als Globalisierung bezeichnet wird. Dieser Begriff steht allmählich nicht nur für die Verheißungen der ökonomischen und sozialen Entwicklung weltweit, sondern auch für die Erwartung, ja Unvermeidlichkeit kommender Kriege. Diese Erwartung wird nicht nur durch die tägliche Kriegsberichterstattung untermauert, sondern auch durch die ausdrückliche Programmatik der Militärstrategien von NATO und USA bestätigt. Selbst die Europäische Union hat sich einen mächtigen militärischen Arm zugelegt, der laut „Europäischer Sicherheitsstrategie“ von 2003 in Zukunft weltweite militärische „Verteidigungs“aufgaben übernehmen soll:

„Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. .... Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“

Es geht um die Erweiterung des Legitimationsrahmens für den Krieg als Mittel der Politik. Dies geschieht zunächst dadurch, dass der Blick auf die neuen Formen der Gewalt und des Kriegsgeschehens gerichtet wird: „internationaler Terrorismus“, „Staatszerfallkriege“, „asymmetrische Kriege“ „Bandenkriege/warlords“, „low intensity warfare“, „ethnische Säuberungen“. Sie werden heute allgemein unter dem Begriff der „neuen Kriege“ gefasst und vor allem als neue Herausforderung des Westens gesehen, die seine militärische Antwort notwendig machen.

Das lenkt zunächst davon ab, dass fast alle Formen aus den klassischen Staatenkriegen weitgehend bekannt sind: Partisanenkrieg, Geiselerschießungen, Guerilla-Befreiungskampf, ethnische Säuberungen, Genozid und Söldnereinsatz. Nur die Unmittelbarkeit und mediale Präsens eines Terroraktes wie die Zerstörung des World Trade Centers durch zivile Flugzeuge lässt uns die Ungeheuerlichkeit und Barbarei von Terrorakten wie die Abwürfe der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki vergessen, und die Massaker an der Zivilbevölkerung in Zentralafrika überlagern die Barbarei der Massaker in Zentraleuropa im zweiten Weltkrieg wie die von Oradour, Lidice und Distomo.

Es spricht vieles dafür, dass auch in Zukunft kaum ein lokaler Krieg ohne direkte oder indirekte Beteiligung der großen NATO-Mächte stattfinden wird. Darüber hinaus geben die modernen Strategiepapiere der USA, NATO und der EU deutliche Hinweise auf militärische Interventionen in jenen Regionen, in denen die Staaten ihre zentralen ökonomischen und politischen Interessen gefährdet sehen. In den Worten ihrer akademischen Apologeten handelt es sich dabei um die „Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern.“ Entsprechend der militärische Prägung jeder imperialen Ordnung wird der Krieg als unvermeidbares Mittel der Absicherung eingeplant.

Sicherheitsstrategien zur Kriegs-Legitimierung

Eine zentrale Rolle bei der Legitimierung des Krieges spielen die für die Öffentlichkeit bestimmten Erklärungen zur Militär- und Sicherheitsstrategie, aus denen sich die jeweiligen „Doktrinen“ ableiten. Sie sind das Ergebnis langjähriger zwischen Politik und Militär abgestimmter Planungen, die schließlich der Öffentlichkeit zu ihrer Einstimmung und Orientierung übergeben werden. So hatte die feierliche Unterzeichnung der neuen NATO-Strategie im April 1999 in Washington durch die Staats- und Regierungschefs aller aktuellen und zukünftigen Mitgliedstaaten lediglich den Zweck, die längst beschlossene militärische Neuorientierung abzusegnen. Eine derartige strategische Neuausrichtung der NATO von einer ursprünglichen Verteidigungsgemeinschaft in ein offensives weltweit operierendes Krisenregulierungsinstrument hätte allerdings eine ausdrückliche Veränderung des NATOVertrages erfordert mit einer Ratifizierung in jedem Mitgliedsstaat. Da sich die politischen Führungen auf die Verbindlichkeit der neuen Strategie für alle unterzeichnenden Regierungen verlassen konnten, verzichteten sie auf die unsichere demokratische Legitimierung durch Parlament und Volk. Diese Legitimierung wurde der NATO am 11. September 2001 in New York nachgeliefert und durch die National Security Strategy der USA ein Jahr später noch einmal bestätigt. Der Schock des Terroranschlages erlaubte es der USRegierung, nicht nur die eigene Bevölkerung sondern den ganzen Globus in den Zustand eines permanenten Ausnahmezustandes unter der weltweiten Gefahr des internationalen Terrorismus zu versetzen.

Gewaltverbot der UNO-Charta

Alle politischen und moralischen Begründungsversuche leiden jedoch unter dem Mangel einer universellen Anerkennung und dem zumeist nicht unbegründeten Verdacht, hinter ihrer Fassade andere strategische und ökonomische Interessen zu verfolgen.

Deshalb bedarf es einer Referenz, die außerhalb der nationalen Interessen und mit dem Ausweis der Universalität die Ansprüche an eine allgemein anerkannte Legitimation erfüllt. Dieses trifft nach dem Verlust allgemeiner moralischer Standards allein noch das internationale Recht, das Völkerrecht, welches in der UN-Charta die Forderung nach universeller Anerkennung einlösen kann. Deshalb fehlt in keiner Militärstrategie und keiner politischen wie wissenschaftlichen Abhandlung der Bezug auf das Völkerrecht und die UNCharta. Selbst in den Fällen geplanter und offener Verletzung des Völkerrechts, wie in den beiden Kriegen gegen Jugoslawien und den Irak, spielte der „Kampf um das Völkerrecht“ sowohl in der Vorbereitung des Angriffs wie in der Folgediskussion um die Rechtfertigung eine zentrale Rolle.


UNO-Charta Art. 2
(4) Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

UNO-Charta Art 42:
Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, daß die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. […]

UNO-Charta Art. 51:
Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. […]

Quelle: Charta der Vereinten Nationen



Überlegungen zur politischen bzw. moralischen Rechtfertigung eindeutiger Rechtsverstöße spielen in der völkerrechtlichen Literatur seit langem eine Rolle. Der Überfall auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 war unter klarem Verstoß gegen das Gewaltverbot des Art. 2. Z. 4 UNO-Charta erfolgt und konnte keine der anerkannten Rechtfertigungen der Selbstverteidigung gem. Art. 51 oder des Mandats durch den Sicherheitsrat gem. Art. 39/42 UNO-Charta aufweisen. Dieser Befund war nicht zu leugnen, führte aber zu der Frage: Wie kann ein Verstoß gegen das Gewaltverbot dennoch gerechtfertigt werden, wenn die Gewaltanwendung schwerste Verbrechen beenden soll, ihre Notwendigkeit offenkundig und ihre humanitäre Absicht klar ist?

Völkerrechts-Jongleure: „Krieg illegal aber legitim“

Lassen wir einmal beiseite, dass die faktische Basis des “humanitären Impulses” gerade beim Kosovo-Konflikt nach wie vor mehr als umstritten ist. Die Konkurrenz zwischen Recht und Moral, Legalität und Legitimität endet immer wieder in der Sackgasse, wenn die Autoren Moral und Legitimität über das Recht stellen. Zwei US-amerikanische Autoren erklären das Recht lediglich als Unterfutter der Legitimität und schreiben:

„Letztendlich ist Legitimität freilich in einer allgemeinen Vorstellung von Rechtmäßigkeit verwurzelt. Daher kann staatliches Handeln, auch wenn es in dem einen oder anderen Sinne gegen Gesetze verstößt, von der öffentlichen Meinung dennoch als legitim angesehen werden.“

Diejenigen, die den subversiven Strategien der Rechts-Jongleure misstrauen, aber dennoch einen juristischen Weg zur Legalisierung der unilateralen Kriege suchen, knüpfen an die Dynamik des Völkerrechts, an die gewohnheitsrechtliche Fortentwicklung durch die Praxis der Staaten. Diese Form der Rechtsentwicklung vollzieht sich ohne vertragliche Änderung der großen Konventionen, wie z.B. der UNO-Charta, allein durch das Handeln der Staaten im Bewusstsein eigener Rechtsverpflichtung. Sie bedarf allerdings der Unterstützung der überzeugenden Mehrheit der Staaten.

In der Zeit nach 1945 hat sich die Kodifizierung durch vertragliche Übereinkunft immer mehr als Mittel der Rechtsentwicklung durchgesetzt. Insbesondere die Durchbrechung und Veränderung zwingenden Rechts wie das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UNOCharta ist nur durch Entwicklung einer dritten Ausnahme neben Art. 51 und 42 UNO-Charta als neues zwingendes Recht möglich. So hat es auch bisher nur vereinzelte Stimmen gegeben, die bereits im Frühjahr 1999 zu Beginn der Bombardierung Jugoslawiens die humanitäre Intervention als gewohnheitsrechtliche Ausnahme vom Gewaltverbot ausgegeben hätten. Doch der Druck auf eine „solide“ völkerrechtliche Grundlage für humanitäre und größere Katastrophen vorbeugende Interventionen wächst. Als Reaktion auf das Scheitern des UN-Sicherheitsrats angesichts der Kosovo-Krise und des Ruanda- Völkermords forderte UN-Generalsekretär Kofin Annan die Völkergemeinschaft mehrfach auf, die Probleme der völkerrechtlichen Instrumente angesichts derartiger Katastrophen zu überprüfen und neue Prinzipien zu entwickeln.

Zauberformel: „Responsibility to protect“

Die kanadische Regierung nahm die Anregung auf und bildete die „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS). Sie schlug in ihrem Bericht vom Dezember 2001 eine neue Doktrin „The responsibility to protect“ vor, die von der Verpflichtung der UN-Mitgliedstaaten ausgeht, das Leben, die Freiheit und die fundamentalen Menschenrechte ihrer Bürger zu schützen. Sollten sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen können oder wollen, so habe die internationale Völkergemeinschaft die Verpflichtung einzugreifen.

Die unverblümte Ankündigung kommender Kriege bedarf starker Antikriegskräfte, um ihnen zu begegnen. Die landläufige Theorie allerdings, dass demokratische Staaten zumindest nicht gegeneinander Krieg führen werden, geht von zweifelhaften Prämissen aus und verbreitet eine trügerische Sicherheit. Bis auf wenige Ausnahmen liefert die herrschende politische und juristische Theorie keine Grundlagen, die den Widerstand gegen die Rehabilitierung des Krieges stärken könnten. Sie steuert den Angriff auf das Völkerrecht selbst. Mögen die Regeln des Völkerrechts und der UNO-Charta noch so klar und eindeutig den Krieg verurteilen und den Frieden propagieren, ihre Interpreten, die Völkerrechtler folgen lieber den Trommeln und Töpfen ihrer Regierungen, sie sind die wahren Spin- Doktoren des Krieges. Die akademische Welt lässt die Friedensbewegung allein – das wäre nicht das erste Mal. Sorgen wir dafür, dass die Friedensbewegung die akademische Welt nicht den Regierungen überlässt.

Der volle Wortlaut des Beitrages kann abgerufen werden unter: www.norman-paech.de


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 1, Januar/Februar 2013

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