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Blind

Bildung im Koalitionsvertrag: Auf Kosten der sozialen Gleichheit

Nele Hirsch ist bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Zuvor arbeitete sie beim fzs (freier Zusammenschluss von Stdentinnenschaften). Nele Hirsch hält beim Friedenspolitischen Ratschlag 2005 (2.-4. Dezember) einen Vortrag über "Die Verantwortung von Studierenden für eine kritische friedensorientierte Wissenschaft".



Von Nele Hirsch*

Mit der großen Koalition nimmt die Bildungspolitik verschärft Kurs auf ein System sozialer Ungleichheit. Zwar scheint einiges, was die Koalitionäre ankündigen, auf den ersten Blick fortschrittlich zu sein. So etwa die "Zweite Chance", die alle Jugendlichen und Erwachsenen ohne Berufsabschluss erhalten sollen. Oder aber die Stärkung der individuellen Förderung während der frühkindlichen Erziehung und in der beruflichen Bildung. Nur: Diese Versprechen sind nicht mehr als hohle Phrasen. Denn an keiner Stelle garantieren die Koalitionäre, diese Vorhaben umfassend institutionell zu finanzieren.

Auch bei der individuellen Finanzierung vermisst man schlüssige Konzepte: Schwarz-Rot kündigte lediglich an, am bisherigen Bafög festhalten zu wollen. Sie weiten dieses Förderinstrument jedoch nicht auf den schulischen Bereich aus. Und auch in der Weiterbildung setzen sie lediglich auf so genanntes Bildungssparen und Bildungskredite. Das ist der falsche Weg, um die sozial ungleiche Beteiligung an Bildung zu verringern. Schließlich ist gerade für Menschen aus niedrigen sozialen Schichten ein drohender Schuldenberg abschreckend. Die richtige Antwort wäre deshalb ein umfassendes Bildungs-Bafög für alle Menschen in Schule, Hochschule und Weiterbildung. Schritt für Schritt müsste es zu einer Vollförderung ausgebaut werden.

Doch statt zukunftsweisende Vorschläge für mehr soziale Gleichheit zu entwickeln, geben die Großkoalitionäre lieber Verantwortung ab: Im Zuge der Föderalismusreform sollen wichtige Aufgaben des Bundes an die Länder fallen. Mit gravierenden Folgen: Gerade bei Gebühren- und Zulassungsregelungen im Hochschulbereich wird der Länderwettbewerb auf Kosten der sozialen Gleichheit gehen. Wenn ein Bundesland Gebühren einführt, bleibt den anderen Ländern nicht viel übrig, als ebenfalls Gebühren einzuführen oder die Bewerberflut mit einer Verschärfung der Auswahlkriterien in den Griff zu kriegen. Beides verhindert eine soziale Öffnung des Bildungssystems.

Die Föderalismusreform steht auch im Widerspruch zu europäischen Prozessen: Die laufende Diskussion um einen europäischen Qualifikationsrahmen wird in Deutschland somit wohl kaum zur Entwicklung eines bildungsphasenübergreifenden nationalen Qualifikationsrahmens führen. Das ist bedauerlich. Die Ergebnisse diverser Studien der vergangenen Jahre zeigen schließlich, dass sich Defizite unseres Systems quer durch alle Phasen ziehen. Auf nationaler Ebene einen Rahmen vorzugeben, das ist nicht nur eine spannende Debatte, sondern birgt vor allem ein hohes Potenzial für qualitative Verbesserungen. Hier könnten bundesweit nicht nur Qualitätsstandards entwickelt, sondern auch weitere Reformprozesse auf den Weg gebracht werden - etwa in Richtung eines integrativen Schulsystems oder einer verbesserten schulischen Berufsausbildung. Ziel wäre ein schlüssiges Konzept des lebenslangen Lernens, das alle Bildungsphasen umfasst. Doch anstatt sich auf diese Debatte einzulassen und zu diskutieren, wie sie einen solchen Rahmen ausgestalten könnte, beschränkt sich die Koalition auf die vage Ankündigung, die Weiterbildung zur vierten Säule des Bildungssystems machen zu wollen.

Dieser Verzicht auf politische Gestaltung geschieht bewusst. In allen Bildungsbereichen setzt Schwarz-Rot stattdessen auf Wettbewerb als zentrales Leitbild und Steuerungsinstrument. Wettbewerbsmechanismen sind für eine soziale und demokratische Entwicklung des Bildungssystems jedoch nicht funktional. Statt blind auf den Markt zu vertrauen, sollte die große Koalition deshalb ihre politische Verantwortung wahrnehmen und möglichst bald die ersten dringend erforderlichen bildungspolitischen Maßnahmen angehen: Einen Ausbau des Bafög, mehr Bundeskompetenz statt Länderwettbewerb und die Gewährleistung einer transparenten und demokratischen Diskussion zur Entwicklung eines nationalen Qualifikationsrahmens.

*Aus: Freitag, 47, 25.11.2005


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