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Alternativen zur neoliberalen Globalisierung

Von Jörg Huffschmid*

Vortrag beim 9. Friedenspolitischen Ratschlag am 7./8. Dezember 2002 in Kassel.
Es handelt sich um ein unkorrigiertes Vortragsmanuskript, das anderweitig nicht veröffentlicht werden darf!


Es geht im folgenden um den Zusammenhang von neoliberaler Globalisierung und Militarisierung. Dieser Zusammenhang ist weder ein zufälliger, noch ein zwangsläufiger: Die aggressive Form der Globalisierung entwickelt sich unter Druck zunehmend in Richtung militärische Aggressivität nach außen und polizeistaatliche Sicherung nach innen. Andererseits kann politischer Druck dazu führen, dass der Krieg verhindert und demokratische Strukturen gesichert und ausgebaut werden. Dies sollen die folgenden fünf Thesen verdeutlichen.

1. Globalisierung als ökonomischer und politischer Prozess

These: Internationale Expansion ist eine Grundtendenz jeder Gesellschaft, in der sich die Produktionsmittel überwiegend in privatem Eigentum befinden, die Koordination der Produktion über den Markt und die Konkurrenz erfolgt und die Triebkraft für die Entscheidungen über den Umfang und die Art der Produktion von Gütern und Dienstleistungen der private Gewinn ist. Gleichzeitig ist Internationalisierung immer in einen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang eingebettet, der durch andere Interessen und ein Mehr oder Weniger an Demokratie gekennzeichnet ist und die ökonomische Grundtendenz stützt, verstärkt oder abschwächt und seine Form bestimmt.

Im Einzelnen:

Die ökonomische Grundthese klingt sehr dinausaurierhaft und dogmatisch, ist aber dennoch wahr und sollte nicht aus den Augen verloren werden.

In einer kapitalistischen Marktwirtschaft müssen sich die Unternehmen auf dem Markt gegen andere Unternehmen behaupten. Das tun sie durch Entwicklung der Produktivität der menschlichen Arbeit, d.h. durch die Entwicklung der Möglichkeiten, mit dem gleichen oder geringerem Arbeitseinsatz mehr und billigere Produkte zu verkaufen. Gleichzeitig bewirken die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, dass die Löhne nicht in gleicher Weise steigen wie die Produktivität. Das führt immer wieder zu der Situation, dass die zunehmende Menge von Gütern nicht verkauft werden kann, und dass deshalb auch keine neue Investitionen zustande kommen. Das Resultat sind konjunkturelle Rezessionen und - da diese nie vollständig bereinigt werden - der Aufbau langfristiger Entwicklungshemmnisse.

Ein wichtiger Ausweg aus diesen Krise- und Blockadetendenzen ist - neben verschärfter Rationalisierung und Konzentration und Zentralisation - die internationale Expansion. Ihr Kern liegt darin, den Teil der Produktion, der im Inland wegen fehlender Nachfrage nicht absetzbar ist, im Ausland zu verkaufen. Gleichzeitig schafft diese Expansion die Möglichkeit, im Ausland die Rohstoffe zu beschaffen, die zur Ausdehnung und Differenzierung der eigenen - energie- und rohstoffintensiven - Produktion benötigt werden. Schließlich besteht eine weitere Perspektive darin, die Gewinne, die im Inland nicht rentabel angelegt werden können, im Ausland zu investieren.

Die internationale Expansion ist also nicht das Resultat irgendeines Drangs nach internationaler Arbeitsteilung zum Nutzen aller Beteiligten. Sie ist das Resultat und die zeitweise Lösung der Eidersprüche und Probleme, die mit dem Funktionsmechanismus einer kapitalistischen Marktwirtschaft verbunden sind. Dies ist eine ökonomische Grundtendenz.

Es gibt aber keine Ökonomie ohne Politik, und in die Politik gehen neben den ökonomischen Interessen und Triebkräfte auch andere gesellschaftliche Kräfte und Interessen ein. Die tatsächliche Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften hängt davon ab, erstens in welchem Umfang und zweitens in welcher Form sich die Interessen der Privateigentümer in der Gesellschaft durchsetzen. Beides hängt seinerseits wieder von der Stärke und Orientierung anderer gesellschaftlicher Kräfte, insbesondere der Arbeiterbewegung, aber auch der Frauenbewegung, der Umweltbewegung, der Bauern, Intellektuellen etc. ab. Letztlich hängt der Umfang und die Art der Durchsetzung kapitalistischer Interessen davon ab, wieweit die parlamentarische Demokratie entwickelt ist, welchen Einfluss die außerparlamentarische demokratische Bewegungen haben und wie die internationalen Beziehungen zwischen den Ländern gestaltet sind. Hier hat es bekanntlich in den letzten 20 Jahren dramatische Veränderungen gegeben..

2. Was ist das Neoliberale an der Globalisierung heute?

These: Gegenwärtig stehen wir am Ende einer Phase vorwiegend mit ökonomischen und nichtmilitärischen Mitteln durchgeführter konkurrenz- und finanzmarktgetriebener Internationalisierung. Sie hatte ihrerseits eine vornehmlich durch Reformpolitik und - durchaus widersprüchliche und nicht ganz freiwillige - internationale Kooperation getragene Globalisierung der westlichen Welt abgelöst und einen Prozess der Gegenreform auf nationaler und internationaler Ebene vorangetrieben. Die Probleme und Schwierigkeiten dieser finanzmarktgetriebenen Globalisierung haben dazu geführt, dass jetzt die offen gewaltsamen Formen der Entwicklung wieder mehr in den Vordergrund drängen und - sofern dem nicht entschiedener Widerstand und ein alternatives Entwicklungskonzept entgegengesetzt werden - die ökonomische und soziale Aggressivität zunehmend durch militärische Aggressivität nach außen und polizeistaatliche Aggressivität nach innen ergänzt und überlagert wird.

Im Einzelnen geht es um drei Abschnitte der Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg:

Die erste Phase, die oft schematisch und nicht ganz zutreffend das goldene Zeitalter genannt wird, war durch ein für die fortschrittlichen Kräfte günstiges internationales und gesellschaftliches Kräfteverhältnis bestimmt (Sowjetunion, Arbeiterbewegung, Erfahrungen von Krieg und Krise). Die führte zu positiven Entwicklungen:
  • Dekolonisierung und Aufbruch der Entwicklungsländer: Neue internationale Weltwirtschaftsordnung wurde allgemein akzeptiert
  • Vollbeschäftigungspolitik und soziale Reformen in den kapitalistischen Ländern
  • internationale Kooperation unter Führung der (nicht uneigennützig handelnden) USA.
Dabei handelte es sich nicht um eine harmonische und konfliktlose Weltordnung. Sie war weltpolitisch durch den Kalten Krieg, den großen Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA und die atomare Hochrüstung, innenpolitisch in den kapitalistischen Ländern durch militanten Antikommunismus und in den sozialistische Ländern durch zunehmende Entdemokratisierung gekennzeichnet. Und auch die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte wurden nicht am runden Tisch verabredet sondern in harten Auseinandersetzungen erkämpft. Aber sie wurden durchgesetzt .

Seit Beginn der 70er Jahre kam es jedoch zu wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten, auf die eine umfassende Antwort erforderlich wurde. Damals stand die historische Alternative: Weiterführung oder schrittweise Rücknahme der Reformen, also Gegenreform.

Diese Frage wurde auf Grund des mittlerweile ungünstiger gewordenen Kräfteverhältnisses zugunsten der neoliberalen Gegenreform entschieden. Sie setzte Mitte der 70er Jahre ein und beschleunigte sich ab Ende der 80er Jahre durch den Zusammenbruch der sozialistischen Länder noch einmal sehr deutlich. Die Entwicklungsländer wurden dem Washington Konsens unterworfen und auf die Interessen der Industrieländer untergeordnet. In den entwickelten Ländern bedeutete die neoliberale Gegenreform einen frontalen Angriff auf die Errungenschaften der 50er und 60er Jahre: massiver Sozialabbau, Privatisierung öffentlicher Leistungen, Umverteilung zugunsten den Profite. Dabei waren die Liberalisierung der Finanzmärkte und die damit verbundene Destabilisierung und Disziplinierung sehr hilfreich für das Kapital: Das Ergebnis dieser Gegenreform war eine enorme Polarisierung zwischen dem Norden und dem Süden, und im Süden und im Norden. Abstand Pro-Kopf-Einkommen oberes-unteres Fünftel der Länder war 1:30 im Jahre 1960 und wuchs auf 1: 78 in 1998.Arbeitslosigkeit und Armut stiegen auch in den kapitalistischen Kernländern. Krisen, von denen die USA profitierten.

Dem Kapital brachte diese Gegenreform zunächst große Vorteile. Die gewinne boomten, und als sie in der Produktion nicht mehr stiegen, wurden sie eine Zeitlang noch in der Spekulation erzielt.

Aber dieser Boom hielt nicht ewig an, und Ende der 90er Jahre kamen die Probleme wieder deutlich zum Vorschein: Die Entwicklungsländer stecken in einer tiefen Krise und geben immer weniger her. Die Verteilungsverhältnisse blockieren das Wachstum und die Beschäftigung in den Zentren. Dien Spekulationsblase ist geplatzt und in eine tiefe Börsenkrise übergegangen. Der Widerstand internationalisiert sich. Seattle usw. Was nun ?

Von besonderer Bedeutung ist gegenwärtig die Position der USA. Sie stehen einerseits ökonomisch sehr gut da, andererseits ist diese gute Position äußerst verwundbar: Die USA haben ein Leistungsbilanzdefizit, das Jahr für Jahr wächst und durch Verschuldung finanziert wird. Diese Position ist nur solange haltbar, wie es den USA gelingt, die Position des Dollars als unbestrittene Weltwährung Nr. 1 aufrechtzuerhalten. Da dies ökonomisch nicht möglich ist, muss es mit politischen und militärischen Mitteln erfolgen. Dies ist der wichtigste Hintergrund für die zunehmend offene Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik. Sie zielt gleichzeiotig darauf ab, durch die Sicherung des Zugriffs auf den größten Teil der Ölreserven in der Welt die eigene energieintensive produktions- und Lebensweise zu stabilisieren und gleichzeitig die Konkurrenz in Schach zu halten.

Hier stellt sich jetzt erneut die Frage der historischen Alternative: Wird die Gegenreform zur zunehmenden Militarisierung übergehen, oder kann sie gestoppt und durch eine Politik der Demokratisierung und des Ausgleichs abgelöst werden?

Die Haupttendenz geht erneut - wie in den 70er Jahren - in die falsche Richtung. Die reaktionär-aggressive Tendenz des Neoliberalismus tritt immer offensichtlicher zutage und an die Stelle der scheinbar gewaltlosen Marktstrukturen und -prozesse. Die Kriege in den 90er Jahren und der bevorstehende Irak-Krieg sind deutlicher Ausdruck dafür.

3. Progressive Alternativen zur neoliberalen Globalisierung

These: Alle Alternativen beginnen mit dem Widerstand gegenüber der neoliberalen und zunehmend aggressiven und offen gewaltsamen Globalisierung. Die allgemeinen Visionen , die in diesem Widerstand zum Ausdruck kommen, sind zunächst einmal das Gegenteil der konkreten Wirklichkeit, und die Herausforderung besteht darin, durch lang anhaltende konkrete Veränderungen die Brücke vom Widerstand zu den Visionen zu schlagen.

Im Einzelnen zu den drei Ebenen der Alternativen

Alternativen 1: Widerstand

Der Widerstand ist in gewissem Masse immer da. Mit der deutlichern Herausbildung der neoliberalen Polarisierung ist er intensive geworden, obgleich das Kräfteverhältnis sich insgesamt deutlich nach rechts verschoben hat.
Der Widerstand ist heterogen und entwickelt sich in verschiedenen teilen der Welt:
  • Es ist der Widerstand der Zapatistas gegen Landraub, Zerstörung ihrer kulturelle Eigenständigkeit und Eingliederung in den neoliberalen Weltmarktzusammenhang.
  • Es sind die großen Demonstrationen von Seattle, Genua, und Washington am Rande von Gipfeltreffen der G7/8 Regierungen und der internationalen Institutionen des Nordens, bei denen gegen die menschenfeindliche Politik dieser Regierungen protestiert wird, und die zum optischen Beleg dafür werden, dass die ökonomischen und politischen Eliten des Kapitalismus sich von den Menschen durch hohe Barrieren und unter massivem Polizeischutz treffen können
  • Es ist die Gegenwehr der von Sozialabbau betroffenen Menschen in Europa. Allein in diesem Jahr hat es drei gewerkschaftlich organisierte Generalstreiks gegeben, in Spanien und Italien gegen die Demontage des Arbeits- und des Kündigungsschutzes und in Griechenland gegen die Privatisierung des Rentensystems und seine Auslieferung an die Risiken der Finanzmärkte.
  • Es ist der beginnende Widerstand auch in den USA gegen die Kriegspolitik der amerikanischen Regierung, die unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus die Konsolidierung und Festigung ihrer wirtschaftlichen und politischen Vorherrschaft in der Welt betreibt.
Alternativen 2: Visionen

Dien Visionen, die in diesen Bewegungen hervorgebracht werden, sind oft zunächst einfach die Negation dessen, was gerade erfahren wird:
  • Friede, Versöhnung und ziviles Zusammenleben statt militärischer Intervention
  • Demokratie, Partizipation und Öffentlichkeit statt Ohnmacht, Hilflosigkeit, Intransparenz und Unterwerfung
  • Gerechtigkeit statt Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Polarisierung
  • Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Wohlstand und Solidarität statt individueller Konkurrenz, unendliche Standortkonkurrenz und des Wettrennen um internationale Wettbewerbsfähigkeit.
  • Gesunde Luft und Lebensmittel fur uns und unsere Kinder statt Vergiftung und ökologischer Zerstörung.
Alternativen 3: Schritte zur Umsetzung (Alternativen im engeren Sinne)

Dabei kann es nicht darum gehen, einen kompletten Plan am grünen Tisch zu entwerfen und dann nur noch sozusagen Schritt für Schritt umzusetzen. Es reicht aber m.E. auch nicht aus, wie das in jüngster Zeit gelegentlich in der Globalisierungskritischen Bewegung propagiert wird, auf die Ausarbeitung konkreter Alternativen mit der Begründung zu verzichten, dass diese sich erst in der Bewegung herstellen. Sicher ist es wichtig, in den sozialen Bewegungen immer wieder neue Forderungen zu entwickeln und bei Bedarf zu verändern, aber es macht keinen Sinn, auf die Vorstellung plausibler und vernünftiger Alternativen zu verzichten, solange sie nicht Forderungen der Bewegung sind. Wenn die Menschen mit uns gegen die Krieg sind, wollen sie aber doch wissen, wie wir die internationalen Beziehungen friedlich regeln und wie wir dem internationalen Terrorismus begegnen wollen. Wenn wir gegen die Auslieferung der sozialen Sicherungssysteme an die großen Finanzkonzerne protestieren und mobilisieren, wollen die Leute, die das auch so sehen, aber doch wissen, wie wir uns die Sicherung der Renten angesichts einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft vorstellen. Die Entwicklung solcher Alternativen ist notwendig um Glaubwürdigkeit zu gewinnen und um die gesellschaftlichen Bewegungen selbst voranzubringen. Denn wer nicht nur sieht, dass die Dinge sich schlecht entwickeln sondern auch versteht, warum das so ist und das es Alternativen hierzu gibt und wie diese aussehen könnten, wird auch bereit sein, sich hierfür längerfristig zu engagieren.

4. Demokratische Wirtschaftspolitik als Kern der Alternativen zu neoliberaler Globalisierung

These: Der Kern einer mittelfristig angelegten Alternative zum Neoliberalismus ist eine demokratische Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in den kapitalistischen Zentren. Sie muss zum einen den Ländern der Dritten Welt helfen, eine eigenständige Entwicklung in Gang zu setzen. Zum anderen muss sie durch eine auf Stärkung der Binnenmärkte angelegte Politik den internationalen Expansionsdruck mildern und beseitigen. Die wesentlichen Hebel hierzu sind Umverteilung von oben nach unten und eine beschäftigungsfördernde Wirtschaftspolitik. Beides kann kurzfristig durch öffentliche Beschäftigungsprogramme, Arbeitszeitverkürzungen und eine den öffentlichen Sektor stärkende Steuerpolitik angegangen werden, erfordert mittelfristig aber weitergehende institutionelle Veränderungen in Richtung auf mehr Demokratie auch in der Wirtschaft.

Im Einzelnen:

Die Strategie zielt nicht darauf ab, internationalen Handel, internationalen Kapitalverkehr und internationale Investitionsströme zu verhindern.
Sie zielt aber darauf ab, zu verhindern, dass die Internationalisierung als Lösung für Probleme der großen Konzerne in den Zentren und auf Kosten der Entwicklungsländer und durch rücksichtslose Zerstörung der Natur betrieben wird. Internationale Handel, Investitionen und anderer Kapitalverkehr müssen vielmehr so betrieben werden, dass beide Seiten davon Nutzen haben und die Natur intakt bleibt. Dies ist durch eine bloße Öffnung der Märkte ebenso wenig möglich wie durch politische und militärische Unterwerfung.

Hinsichtlich des weltwirtschaftlichen Ausgleichs erfordert eine solche Strategie zum einen die Unterstützung für eine selbständige Entwicklung der Länder der dritten Welt und zum anderen eine Veränderung der Weichenstellungen für die Entwicklung in den Zentren selbst.

Die Entwicklung der Länder der Dritten Welt ist nach Jahrhunderten Kolonialismus und nachkolonialer Ausbeutung nicht nur eine Angelegenheit dieser Länder selbst, weil sie ohne Unterstützung vielfach auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein werden, ihre schweren wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu überwinden. Die Zentren stehen hier zumindest in vierfacher Hinsicht in der Pflicht:
  • Von der finanziellen Seite sollten die - ohnehin zum überwiegenden Teil nicht eintreibbaren - Schulden für die meisten Länder gestrichen werden. Die öffentliche Entwicklungshilfe sollte auf mindestens die lange versprochene Höhe von 0,7% des BIP der Industrieländer angehoben werden (gegenwärtig liegt sie bei weniger als der Hälfte dieses Satzes) und um die Einnahmen aus einer Steuer auf Devisenumsätze (der berühmten Tobinsteuer) ergänzt werden.
  • zweitens sollten die Industrieländer endlich ihre Märkte für die Produkte der Entwicklungsländer im Rahmen einer weiter zu entwickelnden internationalen Arbeitsteilung öffnen, wofür freilich auch eine gezielte strukturpolitische Anpassungs- und Umstellungspolitik in den Industrieländern erforderlich ist.
  • drittens sollten die Länder der dritten Welt die Möglichkeit erhalten, sich in regionalen Bündnissen zu entwickeln und diese Regionen gegen alle Arten von Freihandelsregeln und spekulative Attacken zu schützen. Die entsprechenden Möglichkeiten der WTO sollten in vollem Umfang genutzt werden.
  • viertens schließlich sollten die großen internationalen Institutionen hinsichtlich des Stimmrechtes und der Aufgabenbestimmung so reformiert werden, dass erstens der Einfluss der Entwicklungsländer sehr viel größer wird und zweitens die eigenständige Entwicklung Vorrang vor der Bedienung der Schulden erhält.
Letztlich entscheidend für die Frage, welche Richtung die Entwicklung in der Welt nehmen wird, ist die ökonomische Strategie in den Zentren und für die Zentren. Technisch gesprochen handelt es sich darum, die aggressive weltmarktorientierte durch eine binnenmarktorientierte Strategie abzulösen, und den Druck zur internationalen Expansion um jeden Preis abgebaut wird und einer regulierten internationalen Arbeitsteilung weicht. Dabei handelt es sich nicht um ein technisches sondern um ein eminent politisches Problem, in dessen Zentrum die Umverteilung von Einkommen u d die Demokratisierung wirtschaftlicher Steuerung und Entscheidung stehen.

Noch einmal technisch gesprochen: es geht darum, die Entstehung und die anschließende aggressive Verwendung der ökonomischen Überschüsse zu verhindern, die von den Unternehmen zwar als Gewinn angeeignet, aber dann wegen unzureichender Nachfrage nicht mehr als produktive, beschäftigungswirksame und wohlstandssteigernde Investition verausgabt werden und deshalb als zwanghafter Export oder Spekulationskapital auf ausländische Güter und Finanzmärkte gelenkt werden. Weniger technisch gesprochen: Es handelt sich darum, die enorme Umverteilung, die im letzten Vierteljahrhundert zu Lasten der Löhne und Gehälter und zugunsten der Gewinne stattgefunden hat, zu korrigieren. Diese Umverteilung ist die Ursache der Wachstumsschwäche, der hohen Arbeitslosigkeit und der Explosion der Finanzmärkte in den letzten 25 Jahren. Es geht darum, die Verteilungsverhältnisse soweit zu korrigieren, dass Gewinne wieder dazu verwendet werden, wozu sie nach der ökonomischen Theorie da sein sollten, nämlich Investitionen zu finanzieren und die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Dabei sollten die Finanzmärkte wieder auf ihre ursprüngliche Funktion der Finanzierung von Investitionen zurückgeführt werden.

Eine solche Korrektur kann über höhere Lohnsteigerungen oder über höhere Gewinn- und Vermögenssteuern erfolgen. Beides ist sinnvoll und nützlich weil es die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ankurbelt: höher Löhne führen zu höherem Konsum und höhere Gewinn- und Vermögenssteuern erlauben den Staaten höhere Ausgaben, die allerdings nicht automatisch zum Nutzen der Menschen verwendet werden. Daher ist es wichtig, dass Umverteilung durch mehr demokratische Einflussnahme auf die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik ergänzt wird - zugunsten der öffentlichen Infrastruktur, von Bildung, Gesundheit und sozialer Sicherheit und den ökologischen Umbau unserer Industriegesellschaft und - und nicht für mehr Rüstung und Konzernsubventionen. Eine wirtschaftspolitische Neuorientierung in diesem Sinne würde erstmals den Druck zu internationaler Expansion mildern und eine faire internationale Arbeitsteilung ermöglichen.

Einen derartigen Kurswechsel in der Politik vollziehen Regierungen nicht aus freien Stücken, sondern nur unter massivem politischen Druck der sozialen Bewegungen. Wie sehen die Chancen hierfür in Europa aus.

5. Die Perspektiven in Europa

These: Die EU ist dabei, das ökonomische und gesellschaftliche Modell der USA zu übernehmen und sich gleichzeitig als ökonomischer, politischer und langfristig auch militärischer Konkurrent der USA aufzubauen. Einem schnellen Erfolg dieser Strategie stehen jedoch einerseits die historischen - und immer noch zu einem Teil erhaltenen - sozialen Strukturen und Errungenschaften des europäischen Sozialmodells und zu nehmender Widerstand gegen die militarisierte Fortsetzung der neoliberalen Globalisierung entgegen. Beides verbessert die Chancen, dass in Europa unter dem Druck sozialer Bewegungen ein soziales und politisches Alternativmodell zu den USA herausgebildet werden kann, das dann wieder Ausstrahlungskraft und Attraktivität für andere Teile der Welt entwickeln kann.

Im Einzelnen:

Natürlich liegt die von mir skizzierte Alternative zur neoliberalen Globalisierung nicht im Trend der Zeit. Das ist offensichtlich für die USA, deren Regierung auf die offene militärischen Gewalt nach außen zur Konsolidierung ihrer Vormacht und auf zunehmend autoritäre Disziplinierung nach innen setzt, wie das dem klassischen Muster einer imperialistischen Macht entspricht, die unter Druck geraten ist. Aber auch Europa bewegt sich nicht in eine vernünftige Richtung. Die Europäische Union verhält sich bislang vielmehr überwiegend als Juniorpartner der USA, versucht allerdings dabei gleichzeitig ihre Position als Konkurrent der USA aufzubauen und zu stärkten. Ersteres schlägt sich in einer unkritischen "Modernisierung" der europäischen Sozialversicherungssysteme in Richtung auf Privatisierung und Auslieferung an die Finanzmärkte bei gleichzeitigem Aufbau eines großen europäischen Finanzmarktes nach amerikanischem Muster sowie in den zahlreichen Versuchen zur Deregulierung der Arbeitsmärkte nieder. Die Konkurrenzoption kommt in den seit Jahren unternommenen Versuchen zum Ausdruck, eine eigenständige europäische Großmacht- und Militärposition mit eigenen Streitkräften aufzubauen, deren Einsatz weder an ein Mandat der UNO noch an eins der NATO gebunden wäre.

Von Europa als einer Alternative zum amerikanischen aggressiven Entwicklungsmodell ist zwar gelegentlich in offiziellen Erklärungen die Rede, in der Praxis europäischer Politik ist davon aber kaum etwas zu sehen. Auf der anderen Seite nehmen gerade in Europa die Kritik an und der Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung zu. Das europäische Sozialforum in Florenz vor einem Monat hat gezeigt, dass der Kampf gegen die Kriegsvorbereitungen der USA und der Widerstand gegen die Privatisierung und Auslieferung der sozialen Sicherheit an die Finanzmärkte sowie gegen den Abbau demokratischer Schutz- und Beteiligungsrechte zusammengehen. Diesen Kampf zu unterstützen, weiterzuführen und Konzeptionen für eine andere Strategie der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auszuarbeiten, öffentlich zu diskutieren und zu propagieren, halte ich für die mittelfristig vordringliche Aufgabe der fortschrittlichen Kräfte in Deutschland und Europa.

Die unmittelbar vordringliche Herausforderung ist allerdings die Verhinderung des drohenden Kriegs, der, wenn er geführt würde, ein weiterer gefährlicher Schritt auf dem Weg zu einer nur durch militärische Stärke und Unterwerfung strukturierten Welt wäre.

Die Tatsache, dass die rot-grüne Koalition in Deutschland die Wahl im September wegen der damals relativ eindeutigen Ablehnung einer deutschen Beteiligung an dem amerikanischen Krieg gewonnen hat, ist ermutigend. Nicht in dem Sinne, dass wir darauf vertrauen können, dass die Bundesregierung entschlossen ist, diese Position beizubehalten und sich entsprechend ablehnend zu verhalten. In dieser Hinsicht sind die Rückzieher und Aufweichungen empörend unübersehbar. Aber es ist doch ermutigend in dem Sinne, dass es eine Grundstimmung in Deutschland gibt, die den Krieg als Mittel der Politik ablehnt. Auf diese Grundstimmung können und sollen wir aufbauen. Dabei werden unsere Chancen auf einen nachhaltigen Erfolg umso mehr wachsen je deutlicher wir machen können, dass die Politik des Sozialabbaus und der Militarisierung etwas miteinander zu tun haben, und dass deshalb auch der Widerstand gegen die Militarisierung und gegen den Sozialabbau, oder der Kampf gegen den Krieg und für die Einführung der Vermögensteuer zusammengehören.

* Prof. Dr. Jörg Huffschmid ist Hochschullehrer an der Bremer Universität und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Außerdem gehört er seit vielen Jahren der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik an. Beim 6. Friedensratschlag (1999) referierte Huffschmid zum Thema "Rüstung, Ökonomie, soziale Frage und Bewegung" (erschienen in: R.-M. Luedtke/P. Strutynski, Nach dem Jahrhundert der Kriege. Alternativen der Friedensbewegung, Kassel 2000, S. 233-241)


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