Protest gegen US-Raketenabwehr
Pressemitteilung der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs, IPPNW
Berlin, den 12. Juni 2001
Vor den sicherheitspolitischen Folgen der
Raketenabwehrpläne der USA warnen Mitglieder des Europaparlaments,
nationaler Parlamente und Repräsentanten internationaler
Friedensorganisationen. Ein heute zeitgleich in Sydney, Washington und
London vorgestelltes Schreiben an zahlreiche Präsidenten und Minister
fordert, die globale Sicherheit und Stabilität nicht durch ein fragwürdiges
Abwehrsystem zu gefährden sondern alle noch im Alarmzustand gehaltenen
Atomwaffen zu deaktivieren. Zugleich müssten der START-Prozess
vorangetrieben und entschiedenere Maßnahmen gegen die Proliferation
ballistischer Raketen eingeleitet werden.
Für die mehr als 610 unterzeichnenden Personen und Organisationen würde dies
ermöglichen, dass die Atomwaffenstaaten ihren Verpflichtungen aus dem
nuklearen Nichtverbreitungsvertrag gerecht werden und ihre Atomwaffen
vollständig abrüsten. Diese Schritte böten letztendlich jene Sicherheit, die
die USA und ihre Alliierten durch eine Raketenabwehr erhalten wollen.
Es folgt der Brieftext in einer deutschen Übersetzung:
Internationaler Aufruf gegen den "Krieg der Sterne",
gegen die sogenannte Raketenabwehr (Stand der Unterschriften: 610)
An:
PRÄSIDENT GEORGE W. BUSH, VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA;
GENERAL COLIN POWELL, AUSSENMINISTER DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA;
DONALD C. RUMSFELD, VERTEIDIGUNGSMINISTER DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA;
PRÄSIDENT VLADIMIR PUTIN, RUSSISCHE FÖDERATION;
IGOR IVANOV, AUSSENMINISTER DER RUSSISCHEN FÖDERATION;
PREMIERMINISTER TONY BLAIR, VEREINIGTES KÖNIGSREICH;
ROBIN COOK, AUSSENMINISTER DES VEREINIGTEN KÖNIGREICHS;
ALEXANDER DOWNER, AUSSENMINISTER VON AUSTRALIEN;
PETER REITH, VERTEIDIGUNGSMINISTER VON AUSTRALIEN;
PRÄSIDENT JACQUES CHIRAC, FRANKREICH;
PREMIERMINISTER LIONEL JOSPIN, FRANKREICH;
HUBERT VEDRINE, AUSSENMINISTER VON FRANKREICH;
BUNDESPRÄSIDENT JOHANNES RAU, BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND;
BUNDESKANZLER GERHARD SCHROEDER, BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND;
JOSCHKA FISCHER, AUSSENMINISTER DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND;
YOHEI KONO, AUSSENMINISTER VON JAPAN;
PREMIERMINISTER JEAN CHRETIEN, KANADA ;
JOHN MANLEY, AUSSENMINISTER VON KANADA;
PREMIERMINISTER POUL NYRUP RASMUSSEN, DÄNEMARK;
PREMIERMINISTER JENS STOLTENBERG, NORWEGEN;
THORBJORN JAGLAND, AUSSENMINISTER VON NORWEGEN;
BJORN TORE GODAL, VERTEIDIGUNGSMINISTER VON NORWEGEN
Sehr geehrte Präsidenten, Premierminister, Verteidigungs- und Außenminister,
wir, die unterzeichnenden Organisationen, schreiben Ihnen stellvertretend
für die vielen Millionen unserer Mitglieder, um unsere Ablehnung der Pläne
der Vereinigten Staaten von Amerika zum Aufbau eines nationalen
Raketenabwehrsystems National Missile Defense, NMD) deutlich zu machen.
Wir drängen die Vereinigten Staaten, statt dessen das Atomwaffenarsenal
drastisch zu verringern und aus der ständigen Alarmbereitschaft zu nehmen -
was Präsident George W. Bush im Wahlkampf ohnehin versprochen hatte -, und
so einen Schritt zur vollständigen und eindeutigen Abschaffung der nuklearen
Arsenale zu machen, zu der sich die Vereinigten Staaten, Russland und die
anderen Atomwaffenstaaten in völkerrechtlich bindenden Abkommen wiederholt
verpflichtet haben.
Die Stationierung von Raketenabwehr unterhöhlt entsprechende
Abrüstungsmaßnahmen und macht damit die Einhaltung der eingegangenen
Verpflichtungen noch schwieriger.
Unserer Meinung nach ist die Stationierung einer zweifelhaften Raketenabwehr
rücksichtslos und wird nicht zu mehr sondern zu weniger Sicherheit führen.
Präsident Bush sagt, dass die Vereinigten Staaten den 1972 abgeschlossenen
Raketenabwehrvertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM-Vertrag) so
anpassen wollen, dass ein nationales Raketenabwehrsystem der USA damit
abgedeckt würde. Für den Fall, dass Russland eine Vertragsänderung ablehnt,
hat die Bush-Regierung bereits die einseitige Änderung des ABM-Vertrages
angekündigt. Präsident Bush ordnet möglicherweise noch dieses Jahr an, mit
dem Bau einer Schlüsselkomponente von NMD, einer Radarstation in Alaska, zu
beginnen, wodurch der ABM-Vertrag verletzt würde.
Russland hat bei der Abrüstungskonferenz in Genf klar zum Ausdruck gebracht,
dass es eine drastische Reduzierung der Gefechtsköpfe anbietet, sofern der
ABM-Vertrag nicht angetastet würde. Auch die Ratifizierung des START
II-Abkommens hat Russland unter den Vorbehalt gestellt, daß die USA den
ABM-Vertrag einhalten und folglich keine Raketenabwehrsysteme stationieren.
Wir sind der Ansicht, dass selbst durch den Aufbau sogenannter begrenzter
Raketenabwehrsysteme die Möglichkeit untergraben würde, in den USA und in
Russland zu einer deutlichen Verringerung der Atomwaffenarsenale zu kommen.
Außerdem könnte dadurch die Chance verpasst werden, die US-amerikanischen
und russischen Atomraketen aus der ständigen Alarmbereitschaft zu nehmen, in
der sie nach wie vor gehalten werden.
Militärplaner reagieren eher auf Fähigkeiten denn auf Absichten. Schon die
Stationierung begrenzter Raketenabwehrsysteme könnte die Russen dazu
veranlassen, sowohl taktische Atomwaffen als auch Mehrfachsprengköpfe erneut
zu stationieren. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass China den Ausbau
seines strategischen Atomwaffenarsenals beschleunigt und u.a.
Mehrfachsprengköpfe auf Langstreckenraketen montiert sowie die bislang
kleine Zahl seiner ballistischen Langstreckenraketen deutlich erhöht.
Ein Ausbau der chinesischen Arsenale könnte leicht zur beschleunigten
Stationierung indischer und als Reaktion darauf auch pakistanischer
Atomwaffen führen. Die entsprechende Eskalation offensiver Fähigkeiten birgt
dann wiederum die Gefahr, dass die Nuklearstreitkräfte in einen noch höheren
Alarmzustand versetzt werden.
Abgesehen von den oben erwähnten Argumenten gegen Raketenabwehrsysteme ist
insbesondere das aktuell von der US-Regierung beabsichtigte NMD-System
außerordentlich teuer, und es ist noch keineswegs erwiesen, daß es auch
tatsächlich funktionieren würde.
In den nächsten sechs bis zehn Jahren ist noch nicht einmal die
Stationierung eines begrenzten NMD-Systems möglich. Zwei von bislang drei
Abfangtests der USA gingen schief, ein nationales (oder regionales)
Raketenabwehrsystem müsste anfliegende Atomsprengköpfe aber mit nahezu
hundertprozentiger Sicherheit abfangen, um seinen Zweck zu erfüllen.
Und selbst wenn ein funktionsfähiges NMD-System Gegenmaßnahmen ausschalten
könnte und keinen anderen Staat dazu provozieren würde, sein offensives
Raketenarsenal so zu erhöhen, dass Raketenabwehrsysteme damit überfordert
wären - selbst dann könnten weder nationale noch regionale Abwehrsysteme
verhindern, dass Massenvernichtungswaffen mit einfacheren aber
zuverlässigeren Methoden zum Einsatz gebracht würden.
Auch die verschiedenen regionalen Raketenabwehrsysteme (Theater Missile
Defense, TMD), die beispielsweise für den Einsatz in Taiwan, Japan, Europa
oder dem Nahen Osten in Diskussion sind, unterliegen den gleichen
technischen Einschränkungen und hätten vergleichbare Auswirkungen wie
NMD-Systeme, d.h. auch sie würden zu einem gefährlichen Kreislauf zum Ausbau
offensiver Raketenkapazitäten beitragen. Dies würde vor allem auf die
Stationierung von TMD-Systemen auf und um Taiwan zutreffen.
Die Probleme im Zusammenhang mit Raketenabwehr legen es geradezu nahe, dass
die internationale Gemeinschaft zusammenarbeitet und Mittel wie Diplomatie,
Handel und Hilfe effektiv einsetzt sowie neue Mechanismen zur Kontrolle und
Verringerung vorhandener und potentieller Proliferation von ballistischen
Raketen einführt. Kurzfristig sollten sich die Bemühungen darauf
konzentrieren, ein tragfähiges und erzwingbares Rahmenabkommen
auszuarbeiten, das Nordkorea zum Einfrieren seines
Raketenentwicklungsprogramms bewegt.
Unbedingt sollten weitere Bemühungen zur Einhaltung und Stärkung des Missile
Technology Control Regime (MTCR) unternommen werden, ebenso zur Kontrolle
und Abrüstung von globalen und regionalen Raketenarsenalen.
Angesichts des oben gesagten,
-
fordern wir die Vereinigten Staaten mit allem Respekt auf, keine
Raketenabwehrsysteme zu stationieren und wirksame Verfahren zur Verhinderung
der Raketenproliferation zu unterstützen,
-
fordern wir die Regierungen der NATO-Staaten und anderer Alliierten der
Vereinigten Staaten auf, den Vereinigten Staaten nicht die für den Aufbau
entsprechender TMD- oder NMD-Systeme erforderliche Modernisierung von
Einrichtungen in Menwith Hill, Fylingdales, Pine Gap, Thule oder anderswo zu
gestatten sowie ihren diplomatischen Einfluss dafür zu nutzen, die
US-Regierung von der weiteren Verfolgung ihrer Raketenabwehrpläne
abzubringen.
Um die unmittelbare und drängende Bedrohung durch ballistische Raketen
einzudämmen,
-
fordern wir die Vereinigten Staaten und Russland auf, die Doktrin, schon
beim Verdacht eines Angriffs einen Vergeltungsschlag auszulösen, aus ihrer
strategischen Kriegsplanung zu streichen und in diesem Zusammenhang alle
Atomwaffen aus der ständigen Alarmbereitschaft zu nehmen. Dieser Schritt
würde die globale Sicherheit und Stabilität unmittelbar erhöhen und das
Risiko eines unbeabsichtigten Angriffs mit Atomwaffen verringern;
-
fordern wie die Vereinigten Staaten und Russland auf, in Zusammenarbeit
mit anderen Staaten sofort Maßnahmen einzuleiten, die zu einer überprüfbaren
und unumkehrbaren Verkleinerung der strategischen und taktischen
Atomwaffenarsenale auf jeweils unter 1.500 Gefechtsköpfe führen, u.a. durch
die Realisierung von START-II und START-III.
Diese Maßnahmen wären der Erfüllung der feierlichen Versprechen dienlich,
die von den Atomwaffenstaaten in der Abschlusserklärung der
Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages 2000 gemacht
wurden, nämlich "unzweideutig Schritte zur vollständigen Abschaffung ihrer
Atomwaffenarsenale zu unternehmen, die zur nuklearen Abrüstung führen, zu
der sich gemäß Artikel VI alle Vertragsstaaten verpflichtet haben".
Die unterzeichnenden Organisationen sind der Überzeugung, dass nur die
genannten Maßnahmen, keinesfalls die Stationierung von Raketenabwehr, den
Weg zur Abschaffung der Atomwaffen frei machen, zu der sich die
Atomwaffenmächte verpflichtet haben und die die überwältigende Mehrheit der
Menschen und Regierungen auf der ganzen Erde auch von ihnen erwartet.
(gezeichnet)
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