Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ost-Timor: Ein Anfang mit Schrecken

Es sieht so aus, als könnte das Volk in Ost-Timor künftig allein und unbehelligt über sein eigenes Schicksal bestimmen. Dass es so weit kommen würde, hätte vor zwei Jahren wohl niemand prognostizieren können. Doch das Regime in Indonesien, das Ost-Timor 1975 widerrechtlich besetzte und sich einverleibte, geriet in den letzten Monaten innenpolitisch derart unter Druck, dass davon auch die Ost-Timor-Frage wieder virulent wurde. Für den Westen war Ost-Timor 20 Jahre lang kein Thema gewesen. Lediglich wenige Menschenrechtsgruppen (z.B. amnesty international, "Indonesia Watch") kümmerten sich um das Schicksal des besetzten Landes und sorgten zumindest dafür, dass die kritische Öffentlichkeit mit Informationen versorgt wurde. Über 200.000 Menschen wurden in Ost-Timor seit 1975 ermordet, das entspricht etwa einem Viertel der ursprünglich 850.000 Einwohner. Der Anthropologe Shepard Forman sprach angesichts solcher Relationen von der "wohl schrecklichsten Verletzung von Menschenrechten in diesem Jahrhundert." Die Überlebenden existieren in bitterster Armut, 70 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahren sind arbeitslos. 70 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. Die Kindersterblichkeit ist die höchste der Welt.

All dies verschlimmerte sich noch dramatisch im Gefolge der asiatischen Krise 1997/98, die Indonesien mit besonderer Wucht traf. Hier liegt auch die Hauptursache für die Massenproteste gegen das Regime im Frühjahr 1998, die schließlich zum Rücktritt des seit dem Putsch 1965 regierenden Autokraten Suharto im Mai 1998 führten. Sein Nachfolger Habibie entstammt derselben politischen Klasse - der Staatspartei Golkar -, galt aber als gemäßigter und konzilianter als sein Vorgänger. Die Wahlen am 7. Juni 1999 brachten schließlich erdrutschartige Veränderungen in der Zusammensetzung des Parlaments: Wahlsiegerin mit 33,7 Prozent der Stimmen wurde die Partei von Megawati Sukarnoputri (eine Tochter des 1965 gestürzten Staatsgründers Sukarno), während Golkar mit 22,4 Prozent abgeschlagen nur zweite Kraft wurde. Zum Präsidenten gewählt wurde aber im Oktober nicht Megawati, sondern der populäre Muslim-Führer Abrurrahman Wahid (genannt Gus Dur), dessen "Partei des nationalen Erwachens", allerdings nur 12,6 Prozent der Stimmen erreicht hatte. Megawati wurde daraufhin von Wahid zur Vizepräsidentin ernannt.

In die Amtszeit des Übergangspräsidenten Habibie fällt aber noch die Entscheidung, ein von der UNO beaufsichtigtes Referendum in Ost-Timor über das weitere Schicksal des Landes zuzulassen. Für ihn war Ost-Timor zunehmend zu einer Belastung geworden. Immerhin hatte sich das Ausland für Ost-Timor zu interessieren begonnen und drängte zumindest auf ein Ende der Repression. Außerdem wurde auch der Staatshaushalt empfindlich belastet (Truppenpräsenz!), während die Provinz wirtschaftlich wenig zu bieten hatte. Am 5. Mai vereinbarten die Außenminister Indonesiens und Portugals (Ost-Timor war vor der Annexion 1975 portugiesische Kolonie) in New York, der Bevölkerung der Inselhälfte im August die Frage vorzulegen, ob sie - mit gewissen Autonomierechten ausgestattet - weiter im indonesischen Staatsverband bleiben wolle oder die völlige Unabhängigkeit bevorzuge. Das Ergebnis des Referendums, das am 30. August unter Aufsicht der Vereinten Nationen stattfand, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: 78,5 Prozent der Abstimmenden haben sich für die Unabhängigkeit ausgesprochen.

Als hätten sie auf ein Signal gewartet, begannen nun indonesische Milizen unter demonstrativem Gewährenlassen der regulären Streitkräfte ihren Mord- und Vertreibungsfeldzug gegen die ost-timoresische Zivilbevölkerung, die zu Zehntausenden in die Berge oder nach West-Timor flüchtete. Verantwortlich dafür waren jene Kräfte im indonesischen Macht- und Militärapparat, die befürchteten, die Unabhängigkeit Ost-Timors könne ein Fanal für Sezessionsbestrebungen in zahlreichen anderen Teilen des multiethnischen Archipels werden. Aufstandsbewegungen existieren u.a. in Aceh (Nordsumatra), Ambon (eine Insel der Molukken), in Sulawesi und auf Kalimantan (Borneo). Nicht zu vergessen die Widerstandsbewegung OMP in Irian Jaya (West-Neuguinea, 1963 von Indonesien annektiert). Die fortdauernden Exzesse der Milizen riefen die UNO auf den Plan. Am 15. September beschloss der Sicherheitsrat den Einsatz einer Schutztruppe nach Kapitel VII der UN-Charta. Die Truppe erhielt den Auftrag, "den Frieden und die Sicherheit in Ost-Timor wiederherzustellen", die UN-Mission Unamet "bei der Durchführung ihrer Aufgaben" zu "schützen und zu unterstützen" sowie "humanitäre Hilfsmaßnahmen zu erleichtern". Die Entsendung einer multinationalen Truppe wurde auf vier Monate befristet; danach soll eine reguläre friedenserhaltende Operation der UN den Schutz der Bevölkerung übernehmen und den Aufbau des Landes unterstützen.

Die ersten Interfet-Einheiten (der Großteil der Truppen wird von Australien gestellt) landeten am 20. September in der ost-timoresischen Hauptstadt Dili. Die Gewalttaten und Plünderungen der indonesischen Milizen und regulären Soldaten flauten indessen erst ab, als Regierung und Militärführung in Djakarta den definitiven Rückzug aus Ost-Timor anordneten. Die indonesische Volksversammlung entschied am 19. Oktober nicht nur über den neuen Präsidenten, sondern beschloss definitiv die Unabhängigkeit Ost-Timors. Ende Oktober verließen die letzten Soldaten diesen Teil der Insel. An der improvisierten Abschiedszeremonie am Hafen von Dili nahm auch der Führer der ost-timoresischen Widerstandsbewegung Xanana Gusmao teil. Gusmao war nach siebenjähriger Haft erst am 7. September aus der Haft entlassen worden und dürfte die besten Chancen haben erster Präsident des neuen Staates zu werden. Somit dürfte einem Neuanfang auf Ost-Timor, nach einer schmerzhaften Periode des Schreckens, nichts mehr im Wege stehen.

Auf einem eigenen Blatt steht das Verhalten der Bundesregierung und anderer westlicher Staaten. Deren jahrzehntelange Komplizenschaft mit dem Suharto-Regime kann durch die hektischen "humanitären" Aktivitäten der letzten Monate zugunsten Ost-Timors nicht aus der Welt geschafft werden. Indonesien erfreute sich der besten Beziehungen zu den USA, Großbritannien, Australien und der Bundesrepublik, was sich in Stillschweigen über die Menschenrechtslage in Ost-Timor (Australien hatte die indonesische Annexion Ost-Timors sogar anerkannt!) ebenso ausdrückte wie in den florierenden Waffengeschäften, die mit Djakarta abgewickelt wurden. Nur vorübergehend wurden einige Rüstungslieferungen - mehr wegen des öffentlichen Drucks denn aus tatsächlicher Scham - storniert. Alsbald findet auch auf diesem Feld wieder "business as usual" statt. - Ein wenig Streit gab es innenpolitisch um die Frage, ob die Bundeswehr bei Interfet mitmachen solle oder nicht. Außenminister Fischer setzte das Kabinett mit einer entsprechenden Zusage an die UNO derart unter Druck, dass schließlich Scharping, der sich gegen einen Einsatz ausgesprochen hatte, überstimmt wurde. Der Bundestag billigte am 7. Oktober in gewohnter Einmütigkeit gegen die Stimmen der PDS und vereinzelter Abgeordneter anderer Fraktionen die Entsendung eines Feldlazaretts (MEDEVAC-Einsatz). Militärisch fällt die Entscheidung, eine 100-köpfige Sanitätsabteilung und zwei Flugzeuge nach Ost-Timor respektive in das nordaustralische Darwin zu entsenden, nicht ins Gewicht. Politisch ist der Akt von einer gewissen Brisanz, wird doch damit die Grundüberzeugung der Bundesregierung unterstrichen, wonach das Militär bestens zum Mittel der Außenpolitik taugt. Auch wenn die völkerrechtliche Ausgangsposition und die politische Zielsetzung des Interfet-Einsatzes sich vom NATO-Einsatz gegen Jugoslawien himmelweit unterscheiden: Aus friedenspolitischer Sicht ist die Bundeswehr fehl am Platz. Die von der Bundeswehr wahrgenommenen Aufgaben hätten genausogut von der Deutschen Rettungsflugwacht ausgeführt werden können; sie wären dann aber wesentlich billiger gekommen. Zu fragen ist auch, ob die Sanitätsflüge überhaupt gebraucht wurden. Vom 15. Oktober bis Mitte Dezember flog die Bundeswehr insgesamt 103 Personen aus Ost-Timor nach Australien. Darunter befand sich kein einziger Notfall. Alle Personen hätten auch von den täglichen Versorgungsflügen der INTERFET befördert werden können.

Dass die Mittel, die der Einsatz kostet, besser in direkte humanitäre Hilfe zum Aufbau des zivilen Lebens in Ost-Timor angelegt wären, zeigt folgender Vergleich: Während der MEDEVAC-Einsatz in den ersten zwei Monaten 13,2 Millionen DM verschlang, stellten Außen- und Entwicklungshilfeministerium gerade einmal knapp 6 Millionen DM für die zivile Soforthilfe zur Verfügung.

Im November meldeten sich in den Provinzen Aceh und Irian Jaya wieder verstärkt Menschen zu Wort, die mehr Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit von Indonesien fordern. In Banda (Hauptstadt von Aceh) kam es zu Massendemonstrationen von Hunderttausenden, die Freiheit verlangten und ein Referendum nach dem Beispiel Ost-Timors forderten. Das Regime in Jakarta scheint sich nicht einig zu sein, wie mit solchen Bestrebungen umzugehen ist. Während Präsident Wahid ein Referendum in Aussicht gestellt hat, lehnen führende Armeekreise eine Volksabstimmung ab. Auch der Sprecher der Beratenden Volksversammlung, Amien Rais, warnte vor dem Zerbrechen ganz Indonesiens, falls Aceh unabhängig werde. Zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen Angehörigen indigener Volksgruppen und "indonesischen" Muslimen kam es auf den Molukken Ende des Jahres. Die Kämpfe forderten Hunderte von Todesopfern und offenbarten zum wiederholten Mal die Unfähigkeit des Militärs der Zentralregierung, die Exzesse zu verhindern.
Aus: Friedens-Memorandum 2000
Zurück zur "Memorandums"-Seite

Zurück zur Homepage