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Der Fall Öcalan: Vertane Chance

Im Herbst 1998 wird der Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan von den Machthabern in Syrien des Landes verwiesen. Mit der Absicht in Europa politisches Asyl zu beantragen, landet Öcalan im November 1998 in Rom. Aufgrund eines in der BRD vorliegenden Haftbefehls wird der PKK-Chef von den italienischen Behörden festgenommen. Die rot-grüne Bundesregierung lehnt jedoch eine Auslieferung von Öcalan ab. Zur Begründung verweist sie auf die innenpolitische Situation in der BRD, wonach bei einem Prozeß gegen Öcalan in der BRD Ausschreitungen von PKK-Anhängern zu befürchten wären. Darüber hinaus betonen Regierungsvertreter die Notwendigkeit, dass das Kurdenproblem international gelöst werden müsse. Doch eine derartige Lösung zeichnete sich weder Ende 1998 ab, noch ist diese ein knappes Jahr später in greifbare Nähe gerückt.

Am 17. Januar 1999 verlässt der PKK-Führer Italien und taucht unter. Auf seiner Flucht landet Öcalan Anfang Februar 1999 in Kenia und findet in der Residenz des griechischen Botschafters Zuflucht. Unter dem Vorwand, dass Öcalan und seine Begleiter in die Niederlande ausreisen dürften, werden diese am 15. Februar aus der Residenz gelockt, zum Flughafen gebracht und von dort wird Öcalan direkt in die Türkei verschleppt. Nach der Entführung Öcalans, einer Aktion des türkischen Geheimdienstes, die jeglichen rechtsstaatlichen Prinzipien widerspricht, reagieren Kurden in aller Welt mit massiven Protesten. Diese richten sich nicht nur gegen Griechenland, Kenia und die Türkei, die in unterschiedlicher Weise direkt an dem Vorfall beteiligt waren, sondern auch gegen Israel und die USA, denen eine Mitwirkung an der Entführung Öcalans nachgesagt wird. Die Bundesregierung wollte mit der Ablehnung der Ausweisung Öcalans von Italien in die BRD kurdische Proteste von deutschen Straßen fernhalten, wurde aber durch diese Haltung gleichzeitig zum Ziel kurdischer Proteste nach der Verhaftung Öcalans. Sie richteten sich sowohl gegen Parteibüros von SPD und Bündnis 90/Die Grünen als auch gegen türkische, griechische, amerikanische und israelische Einrichtungen in der BRD. Während einer Protestaktion vor dem israelischen Generalkonsulat in Berlin eskaliert die Situation: Bei dem Versuch in das Gebäude einzudringen werden drei Kurden von israelischen Sicherheitsbeamten erschossen, 14 weitere durch Schüsse zum Teil schwer verletzt. Der genaue Tathergang konnte bis heute noch nicht genau aufgeklärt werden, die Täter blieben, mit dem Verweis auf ihren diplomatischen Status, unbekannt und unbehelligt. Die Bundesregierung reagierte mit scharfer Kritik auf die Kurdenproteste, wobei der sozialdemokratische Bundesinnenminister Otto Schily zumindest verbal mit seinem Amtsvorgänger Manfred Kanther gleichzog.

Mit der Verhaftung Öcalancs in Italien hatte die Chance bestanden die Kurdenfrage international zu lösen. Diese Chance haben die europäischen Staaten vertan. Die Bundesregierung hat es versäumt im Fall Öcalan aktiv zu werden und auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes einzuwirken. Nur ein Prozeß außerhalb der Türkei hätte dazu beitragen können das Kurdenproblem einer Lösung näher zu bringen. Ein Gerichtsverfahren in der BRD wäre durchaus ein Weg gewesen eine derartige Konfliktlösung herbeizuführen. Darüber hinaus hätte die Bundesregierung mit einem derartigen Verfahren ihre Bereitschaft und ihren Willen demonstriert das Kurdenproblem auf internationaler Ebene friedlich zu lösen. Dabei hätte man in den Prozess neben den Verbrechen der PKK auch die Verbrechen des türkischen Staates einbeziehen müssen - ein notwendiger Zusammenhang, der bei dem Öcalan-Prozess in der Türkei natürlich nicht hergestellt wurde. Öcalan hat im Prozessverlauf einer weiteren Eskalation der Gewalt eine Absage erteilt, die Kurden dazu aufgerufen den bewaffneten Kampf zu beenden und sich selbst als Vermittler zwischen Kurden und Türken angeboten. Die türkische Regierung hat dieses Angebot nicht aufgegriffen.

Im Juni wurde Öcalan vom Staatssicherheitsgericht zum Tode verurteilt. Das Kassationsgericht bestätigte das Urteil im November. Die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung der Todesstrafe muss nun das türkische Parlament fällen. Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Türkei ist anhängig. Sie stützt sich im Wesentlichen auf das Gerichtsverfahren, das gegen elementare rechtsstaatlliche Prinzipien verstieß. Beispielswese war Öcalan nach seiner Verschleppung sieben Tage lang in Isolation gehalten und von Militärs verhört worden; Haftrichter oder Rechtsanwälte hatten in dieser Zeit keinen Zutritt zum Gefangenen. Später durften die Anwälte Öcalans ihren Mandanten nur stundenweise und unter Aufsicht vermummter Bewacher sprechen. Auch die Beweisaufnahme sprach jeder demokratischen Gerichtspraxis Hohn. Die Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof hat gute Chancen, kann aber bis zu zwei Jahre dauern.

Spekulationen darüber, ob die Türkei im Fall Öcalan nachgibt, um im Gegenzug die angestrebte Aufnahme in der Anwärterkreis der Kandidaten für einen EU-Betritt zu erhalten, sind gewiss noch verfrüht. Denkbar wäre auch ein Deal Öcalan gegen die Lieferung der gewünschten 1.000 Leopard-2-Panzer aus der Bundesrepublik. Oder war es wirklich nur reiner Zufall, dass am selben Tag, als das Todesurteil vom Kassationsgericht bestätigt wurde, das Regierungsmitglied, Ex-Premier und Vorsitzender der Mutterlandspartei, Mesut Yilmaz, in einem Welt-Interview verkündete, die Panzerlieferung sei bereits beschlossene Sache? Auf absehbare Zeit bleibt nicht nur das Schicksal von Öcalan im Ungewissen, auch die Zukunft der Kurdenfrage in der Türkei ist völlig offen.
Aus: Friedens-Memorandum 2000
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