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Der Luftkrieg gegen Irak wird fortgesetzt

Seit dem angloamerikanischen 4-Tage-Krieg gegen den Irak im Dezember 1998, für Tony Blair eine "gerechte Sache" und ein "Wunder", weil er dem Gegner schwerste Zerstörungen, dem eigenen Militär aber keinerlei Verluste beigebracht hatte, ist der Irak aus den Schlagzeilen verschwunden. Und doch wird der Krieg fast ununterbrochen fortgesetzt. Dabei handelt es sich nicht, wie es in der Presse gelegentlich und auch im Friedensgutachten 1999 verharmlosend heißt, um "Nadelstiche von beiden Seiten". Der Krieg hat verheerende Folgen für das zivile Leben im Irak. Nach irakischen Angaben starben von Januar bis August bei Luftangriffen 133 Menschen. Immer häufiger sind Zivilisten die Opfer. Die Luftangriffe, die ausschließlich im Schutz der Dunkelheit erfolgen, richten sich nicht mehr nur gegen militärische Ziele in den sog. "Flugverbotszonen" südlich des 33. und nördlich des 36. Breitengrads (diese Flugverbotszonen wurden 1991 ohne UN-Mandat von den Alliierten einseitig als solche proklamiert, angeblich um die drangsalierten Bevölkerungsgruppen der Kurden im Norden und der Schiiten im Süden zu schützen). Angriffe werden auch gegen Ziele des restlichen irakischen Gebiets geflogen und immer häufiger geraten - gewollt oder als "Kollateralschaden" - zivile Objekte ins Feuer der Bombenangriffe. Im Oktober gingen die USA dazu über, die Bombardierung "relevanter" Ziele im Irak mit "Betonbomben" zu bestreiten; das sind zielgenaue lasergesteuerte Behälter, die statt mit Sprengstoff mit Beton gefüllt sind. Auf diese Weise sollen nach Angaben aus dem Pentagon die "Kollateralschäden" verringert, sprich die Zahl der getöteten Zivilisten in Grenzen gehalten werden.

Zugleich entfalten die seit neun Jahren aufrechterhaltenen Embargomaßnahmen gegen den Irak eine verheerende Wirkung. Alljährlich sterben über 40.000 Kinder unter fünf Jahren und rund 50.000 ältere Menschen infolge Mangelernährung. Das im Mai für weitere sechs Monate verlängerte "Öl-für-Nahrung"-Abkommen, das dem Irak den Export von Öl in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar erlaubt, ist allenfalls ein Wassertropfen im heißen Wüstensand. "Fast neun Jahre internationaler Sanktionen haben eines der höchst entwickelten arabischen Völker in das vorindustrielle Zeitalter zurückgestoßen", schreibt das Düsseldorfer Handelsblatt am 20./21. August 1999 und zitiert die irakische Ökonomin und Schriftstellerin Naserah als Saddoun: "Das Embargo ist die stillste, die unauffälligste Methode, ein ganzes Volk auszulöschen. Ich begreife nicht, wie die Welt dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit akzeptieren kann." Indessen wird die Kritik an dem Embargo und dem fortgesetzten Luftkrieg immer lauter. Ende März legte ein Expertenausschuss der Vereinten Nationen einen Bericht vor, in dem er sich für eine Lockerung der Sanktionen aussprach. Vorgeschlagen wurden insbesondere eine Erhöhung der erlaubten Ölexportmengen, eine Senkung der daraus gespeisten Zahlungen an Kuwait (der Irak muss 30 % der Einnahmen aus dem Öl-für-Nahrung-Programm in einen Fonds für kuwaitische Kriegsopfer einzahlen) sowie die Erlaubnis zur Lieferung von Ersatzteilen an die irakische Erdölindustrie und von ausländischen Investitionen in die irakische Landwirtschaft. Außerdem sollte zumindest ein Teil des eingefrorenen irakischen Auslandsvermögens zum Einkauf dringend benötigter Güter freigegeben werden. Anlässlich der Vorlage einer Studie des UN-Kinderhilfswerk Unicef über die dramatisch angestiegene Kindersterblichkeit im Irak appellierte die Unicef-Direktorin Carol Bellamy an die internationale Gemeinschaft, die humanitäre Hilfe für Irak zu intensivieren. Sanktionen, wenn sie denn aus politischen Gründen notwendig seien, sollten "so formuliert und durchgeführt werden, dass sie Kindern nicht schaden", sagte Bellamy (zit. n. FR vom 13.08.99).

Bereits im Juni war Bewegung in die Sanktions-Diskussion gekommen, nachdem sowohl von britisch-niederländischer Seite als auch von Russland und China Resolutionsentwürfe im UN-Sicherheitsrat eingebracht worden waren, die eine Änderung der starren Embargopolitik vorsahen. Während der Entwurf Großbritanniens und der Niederlande vorschlug, das Ölembargo unter der Bedingung auszusetzen, dass vorher alle offenen Fragen bezüglich der in irakischem Besitz vermuteten Massenvernichtungswaffen geklärt würden und dass zudem eine strikte UN-Kontrolle der Verwendung der Öl-Einkünfte stattfände, verlangten Russland und China als Gegenleistung für eine vollständige Aufhebung aller Sanktionen die konstruktive Zusammenarbeit Iraks in einer neuen Überwachungskommission der Vereinten Nationen. Die USA stellten sich hinter den britisch-niederländischen Entwurf, den Bagdad rundheraus zurückwies, weil seine Realisierung "Irak in eine Kolonie verwandeln" würde. Die Vermittlungsversuche Frankreichs im Sicherheitsrat zwischen beiden Positionen blieben bislang ohne positives Ergebnis. Im Herbst wurde der Ton sogar rauer. Hinter den Kulissen begann eine Kampagne gegen den derzeitigen Koordinator des Öl-für-Nahrung-Programms, den deutsche Hans von Sponeck, weil er sich für eine Beendigung des Embargos ausgesprochen hatte. Ende Oktober erklärte er im UNO-Hauptquartier in New York zum Ärger der USA und Großbritanniens: "Man sollte versuchen die humanitäre Diskussion von der Abrüstungsdiskussion zu trennen. Erst dann kann man vielleicht eine langfristige Perspektive ("vision") darüber entwickeln, wie 23 Millionen Iraker behandelt werden sollen." Kofi Annan hielt dem diplomatischen Druck stand und beauftragte von Sponeck für ein weiteres Jahr mit der Aufgabe. Alle Versuche Russlands, Frankreichs und Chinas im UN-Sicherheitsrat, eine generelle Lockerung der Sanktionen zu erreichen, scheiterten indessen am Widerstand der US-Regierung. Erfolglos blieb auch eine Vermittlungsinitiative des jungen jordanischen Königs Abdallah II. Nach verschiedenen Zeitungsberichten brachte er im Oktober einen Brief Saddams an Präsident Clinton nach Washington, in dem der irakische Diktator weitgehende Zugeständnisse hinsichtlich demokratischer Reformen (Mehrparteiensystem, Verfassungsreform, Achtung von Menschenrechten usw.) anbot, um im Gegenzug die Aufhebung der Sanktionen und die Beendigung des Abnutzungskrieges gegen sein Land zu erhalten.

Unterdessen haben der ehemalige Koordinator des Öl-für-Nahrung-Programms, Dennis Halliday - er gab 1998 sein Amt aus Protest gegen die Unmenschlichkeit der Sanktionen zurück - und der Franzose Alain Michel, Gründer der Hilfsorganisation "Equilibre - Artisan de paix", eine internationale Kampagne zur Aufhebung des Embargos ins Leben gerufen.

Neben den ständigen Militäreinsätzen gegen Irak und dem andauernden Sanktionsregime setzten die Vereinigten Staaten seit 1998 als dritte Säule ihrer Strategie gegen den "Schurkenstaat" Irak auf die Unterstützung der irakischen Opposition. Hierzu wurde im August 1998 ein Gesetz ("Iraq Liberation Act") im US-Senat eingebracht - und am 31. Oktober 1998 von Präsident Clinton unterschrieben -, das 97 Millionen Dollar zur Unterstützung irakischer Oppositionsgruppen, die den Sturz Saddams betreiben, bereitstellte. Außer dem Friedensabkommen zwischen den nordirakischen Kurdenführern Barzani und Talabani, beide stramme Gegner der PKK, brachten die Bemühungen Washingtons keine Ergebnisse zustande. Die Republikaner im Senat verlangen inzwischen eine noch härtere Gangart gegenüber dem Irak: Trent Lott, der im Oktober 1999 auch die Ratifizierung des Atomteststopp-Vertrags hintertrieb, forderte Bill Clinton auf, die Angriffsziele im Irak auszuweiten und die irakische Opposition zu bewaffnen. Nahostexperten sind von einem Scheitern dieser Strategie überzeugt. Die Meldungen von unterdrückten gewaltsamen schiitischen Unruhen und einem fehlgeschlagenen Putschversuch irakischer Teilstreitkräfte im Februar und März sprechen in der Tat dafür, dass das Regime Saddam Husseins trotz - oder vielleicht wegen - des Embargos, des Dauerkrieges und des Schürens bewaffneter Aufstände fester im Sattel sitzt, als es die Missstände im Land erwarten ließen.

Aus: Friedens-Memorandum 2000
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