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"Lieber ein Russlandversteher als ein Kriegsflüsterer"

Rede von Peter Strutynski beim Ostermarsch 2014 in Nürnberg *

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Nürnberger Ostermarsch! Liebe Kriegsgegner, liebe Freunde des Friedens!

Nein, nur um wieder zahlreicher zu den diesjährigen Ostermärschen der Friedensbewegung zu kommen, hätten wir die Aufregung um die Ukraine nicht gebraucht! Unser Themen- und Forderungskatalog, unsere Wunschliste, ist vollgefüllt mit Ernst zu nehmenden Vorschlägen. Sie beginnen mit der Grundüberzeugung, dass die vielen Menschheitsprobleme, vor denen wir stehen, niemals mit Krieg, Rüstung und Militär zu lösen sind. Kein Panzer, keine Fregatte, keine Rakete, keine Kampfdrohne kann jemals die drohende Klimakatastrophe bekämpfen, den Hunger aus der Welt schaffen, soziale Ungerechtigkeit beseitigen oder allen Menschen Zugang zu sauberem Wasser und zu Gesundheitsdiensten gewährleisten. Im Gegenteil: Rüstung, Militär und Krieg sind selbst die Ursache vieler Probleme auf dieser Erde und rauben uns die Ressourcen, die wir für ein gutes Leben brauchen.

Ich möchte ein Beispiel nennen:
Im nächsten Jahr sollen die Ziele des UN-Millenniumsgipfels von 2000 erreicht werden, die weltweite Armut zu halbieren. Die Welt ist heute, 14 Jahre nach Beschlussfassung und ein Jahr vor der Ziellinie, himmelweit von dem angestrebten Ergebnis entfernt. Von den sieben Milliarden Menschen auf der Erde ist eine Milliarde permanent unterernährt. Jean Ziegler, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und jetziger Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, prangert diesen Skandal mit der ihm eigenen Leidenschaft immer wieder an:

„Jeden Tag sterben 37.000 Menschen an den Folgen des Hungers. Gleichzeitig sagt die Welternährungsorganisation FAO, dass die weltweite Landwirtschaft problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Es gibt zu Beginn dieses Jahrtausends keinen objektiven Mangel mehr. Ein Kind, das jetzt, während wir reden, an Hunger stirbt, wird ermordet. Das ist die kannibalische Weltordnung.“

Und ich füge hinzu: Die großen Mächte, allen voran die USA, sind in ganz besonderer Weise an dieser kannibalischen Weltordnung beteiligt. Warum? Vor wenigen Tagen gab das Stockholmer Friedensforschungsinstitut die Zahlen der weltweiten Rüstungs- und Militärausgaben für 2013 bekannt. 1,75 Billionen US-Dollar, das sind eintausensiebenhundertfünfzig Milliarden Dollar, wurden für das Militär ausgegeben. Und die USA sind daran mit 37 Prozent beteiligt. Über eine halbe Billion geben die USA für kriegerische Zwecke aus. Darin eingerechnet sind nicht einmal die vielen Milliarden, welche von den US-Geheimdiensten für ihre weltweiten Überwachungs- und Schnüffelaktionen ausgegeben werden.

Ein Bruchteil dieses Geldes würde ausreichen, um die Menschheit von der Malaria und anderen epidemischen Krankheiten zu befreien, um jedem Menschenkind genügend Nahrung und eine ordentliche Bildung zu verschaffen. Auf diesem Feld, liebe Freundinnen und Freunde, wollen wir kämpfen und verlangen wir von den Regierungen, sich ernsthaft zu engagieren. Die Zukunft liegt nicht in den Schützengräben, sondern in einer gerechten Weltwirtschaftsordnung!

A propos Schützengräben!
Der Erste Weltkrieg, der vor 100 Jahren begann, war das erste industrielle Massenabschlachten in der Geschichte der Menschheit. Unter Einsatz von Giftgas, Panzern, Kanonen und Maschinengewehren starben 17 Millionen Menschen, verreckten buchstäblich in den Schützengräben, durchstachen sich gegenseitig mit ihren Bajonetten oder wurden von Granatsplittern getroffen. Es war eine zweifache Katastrophe: Einmal weil die herrschenden Kreise der imperialistischen Mächte mit ihrem Willen zum Krieg alle Gesetze der Menschlichkeit mit Füßen traten und die europäischen Zivilgesellschaften zerstörten. Zum anderen, weil die Antikriegshaltung der wenigen bürgerlichen Pazifisten und der vielen sozialistischen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht ausgereicht hat, diesen Krieg zu verhindern.

Mit Lügen und falschen Versprechungen, mit einer kriegsbegeisterten und –geifernden Presse wurde der deutschen Bevölkerung eingeredet, es handle sich um einen Verteidigungskrieg; das zivilisierte Deutschland müsse sich gegen den barbarischen russischen Zarismus zur Wehr setzen. Die damalige Sozialdemokratie ist dieser Propaganda auf den leim gegangen; sie hat die bis dahin schwerste politische Prüfung leider nicht bestanden. Ich trage ihr das heute nicht nach. Aber ich wünschte mir, dass sie daraus die richtigen Lehren ziehen würde. Wir haben es in Kassel als kleinen politischen Erfolg verbucht – man ist ja bescheiden geworden -, dass der SPD-Unterbezirk Kassel den diesjährigen Ostermarschaufruf mitunterschrieben hat. Zur Nachahmung empfohlen! 2014 ist nicht 1914.

Und die Ukraine ist nicht das Serbien von damals.
Aber eines ist wieder verdammt gegenwärtig: Die von Politik und Medien geschürte Russenangst. Putin in der Rolle des Zaren, Putin in der Rolle Stalins, und Russland als aggressive imperiale Macht, die das Völkerrecht und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt, die jeglichen politischen Anstand verloren hat und sich außerhalb der Weltgemeinschaft gestellt hat. Das alles, liebe Freundinnen und Freunde, ist übelste Stimmungsmache. Man muss Putin nicht für einen Demokraten, und schon gar nicht für einen Friedensengel halten. Im Vergleich zu den USA mit ihren über 30 völkerrechtswidrigen Interventionen der letzten Jahrzehnte, mit ihrem irregulären sog. Krieg gegen den Terror, mit ihrer weltweiten Überwachungsorgie und mit den Folter-Schandflecken Abu Graib und Guantanamo, ist Russland aber nachgerade ein Waisenknabe.

Und die Vorgänge in der Ukraine sind viel zu komplex, um sie auf eine einfache Formel zu bringen oder gar in das simple Gut-Böse- oder Freund-Feind-Schema zu pressen.

Den Kriegstrommlern von Washington bis Berlin hält die Friedensbewegung entgegen:
  1. Unsere Sympathie galt den gewaltlosen sozialen und politischen Protesten der ukrainischen Bevölkerung gegen die Herrschaft der Oligarchen. Genauso entschieden haben wir die massiven Einmischungsaktivitäten äußerer Mächte kritisiert.
  2. Wir setzen auf Gewaltfreiheit und verurteilen daher sowohl den bewaffneten Putsch in Kiew als auch die bewaffneten separatistischen Bewegungen in der Ostukraine. Auch das militärische Eingreifen der Kiewer „Zentralregierung“ ist nicht zu rechtfertigen. Wir fordern alle Seiten auf: Die Waffen nieder!
  3. Die Friedensbewegung ist auch eine antifaschistische Bewegung. Daher kritisierte sie von Anfang an den Einfluss rechtsradikaler und faschistischer Formationen auf die Proteste auf dem Maidan. Deren Beteiligung an der ukrainischen Übergangsregierung darf nicht hingenommen werden.
  4. Die Friedensbewegung achtet das Völkerrecht. Die unverhohlene Mithilfe des Westens am „Regime Change“ in Kiew widerspricht eklatant dem Nichteinmischungsprinzip nach Art. 2 Ziff. 7 der UN-Charta. Die Sezession der Krim verstößt gegen die ukrainische Verfassung und der nachfolgende Anschluss an Russland ist völkerrechtlich umstritten.
  5. Die Friedensbewegung setzt auf das Prinzip der „gemeinsamen Sicherheit“. Im gemeinsamen „Haus Europa“ kann es Sicherheit nur miteinander und nicht gegeneinander geben. Die Ausdehnung der NATO bis nahe an die Grenzen Russlands widerspricht diesem Prinzip und ist eine wesentliche Ursache für den gegenwärtigen Konflikt.
Die Friedensbewegung fordert daher die Rücknahme der Sanktionen gegen Russland, den Stopp des Aufbaus des sog. NATO-Raketenschirms in Europa, den Stopp sämtlicher Rüstungsexporte in die Ukraine und nach Russland und die Distanzierung von der rechtsradikal durchsetzten ukrainischen Übergangsregierung. Und, liebe Medien: Rüstet endlich rhetorisch ab! Wenn es nach mir ginge: Ja, ich bin lieber ein Russlandversteher als ein Kriegsflüsterer!

Am letzten Donnerstag haben Vierer-Verhandlungen zwischen USA, EU, Russland und der ukrainischen Übergangsregierung in Genf stattgefunden und eine Vereinbarung zur Deeskalation der Lage in der Ukraine getroffen.

Das war eine gute Botschaft. Insbesondere der Appell an die ukrainischen Konfliktparteien, „jegliche Gewaltanwendung, Einschüchterungen und Provokationen (zu) unterlassen“, entspricht den Wünschen und Forderungen der Friedensbewegung. Hierzu gehört auch die Entwaffnung aller „illegalen bewaffneten Gruppen“. Wir begrüßen auch, dass Russland in die beschlossene Beobachtermission in der Ukraine eingebunden ist. Es entspricht unserer Überzeugung, dass ohne die Berücksichtigung der russischen Interessen der Konflikt in der und um die Ukraine nicht beigelegt werden kann.

Meine Skepsis richtet sich vor allem auf die Tatsache, dass die USA weiter mit Sanktionen gegen Russland droht und dass die NATO daran festhält, ihre militärische Präsenz in Osteuropa zu verstärken. Mit Verteidigung hat das nichts mehr zu tun. Wir brauchen keine NATO! Die NATO hätte schon 1991 aufgelöst werden müssen, als der Warschauer Pakt sich aus der Geschichte verabschiedet hatte. – Und die Zusage der Bundesregierung, Eurofighter für den Luftraum an der Grenze zu Russland zu stationieren, ist – 73 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion – eine einzige Provokation und muss schleunigst zurückgezogen werden.

Ich frage mich manchmal, wer in Berlin eigentlich Außenpolitik macht. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen oder der dafür zuständige Außenminister? Eines ist jedenfalls sicher: Frau Merkel macht gar keine Politik; sie wartet ab und telefoniert lieber mit Obama. Sie sollte lieber auf die eigene Bevölkerung hören, die keine Eskalation und keine Konfrontation mit Russland will.

Doch Berlin geht seine eigenen Wege.
Deutschland, so scheint es, will aus der Rolle des Juniorpartners in der NATO heraustreten und – sowohl im Militärbündnis NATO als auch im Militärbündnis EU – seine größere „Verantwortung“ und Eigenständigkeit reklamieren. Dies ist Anfang Februar bei der Münchner Sicherheitskonferenz in den Reden von Bundespräsident Gauck, Bundesaußenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen deutlich geworden.

Anders als vor 100 Jahren hängt aber der „Platz an der Sonne“ nicht mehr vom Erwerb von Kolonien oder der physischen Unterwerfung fremder Bevölkerungen ab. Vielmehr geht es um die Aneignung exklusiver Besitztitel an strategischen Ressourcen und um die geopolitische Kontrolle von Warenströmen und Seewegen. Dazu transformiert die Bundesregierung die Bundeswehr zu einer „Armee im Einsatz“ und verschafft ihr die nötige Rüstungshard- und –software. Überwachungs-, Spionage- und Kampfdrohnen spielen dabei eine herausragende Rolle.

In dem Buch „Töten per Fernbedienung. Kampfdrohnen im weltweiten Schattenkrieg“ werden die Trends der künftigen Kriegführung und die Hauptargumente der Friedensforschung und Friedensbewegung genannt. Es sind die folgenden:
  1. Das, was „gezielte Tötung“ genannt wird, ist nicht so zielsicher. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die Todesrate beim Einsatz von Kampfdrohnen unter der Zivilbevölkerung wesentlich höher ist als unter den anvisierten Zielen.
  2. Gezieltes Töten (targeted killing) verstößt außerhalb von Kriegszeiten gegen die Menschenrechtskonventionen und das Völkerrecht. Die Regierungen, die sich der Kampfdrohnen bedienen, handeln zugleich als Ankläger, Ermittler, Richter und Henker. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun.
  3. Kampfdrohnen senken die Schwelle für Kriegseinsätze.
  4. Die permanente Bedrohung der Zivilbevölkerung durch Kampfdrohnen führt zu unerträglichen psychischen Belastungen. Es gibt Studien, wonach sich z.B. Kinder in betroffenen Gebieten aus Angst nicht mehr auf die Straße oder in die Schule trauen. (Studie: „Living under drones“.)
  5. Die Produktion und der Einsatz von Kampfdrohnen entziehen sich bestehenden Rüstungskontrollmechanismen. Zu befürchten ist also eine neue Aufrüstungsspirale.
Schließlich erlaubt der Einsatz von Spionagedrohnen eine lückenlose Überwachung von Territorien und menschlichen Aktivitäten.

Zu all dem sagen wir NEIN.
Wir brauchen keine Drohnen – weder zur Überwachung, noch zum Töten. Wir wenden uns gegen Rüstungsexporte – nicht nur nach Saudi-Arabien, nein: Nirgendwohin!

Deutschland ist die Nr. 3 im weltweiten Waffenhandel. Das ist kein Ruhmesblatt, sondern eine Schande! Und da nützt es auch nicht, wenn Wirtschaftsminister Gabriel und Innenminister de Maizière mehr Transparenz beim Rüstungsexport versprechen. Denn deren Transparenz bedeutet nur: Der Bundestag und die Öffentlichkeit erfahren künftig schon nach 14 Tagen, wohin die Waffen geliefert werden. Aber geliefert werden sie.

Wir wollen vorher wissen, was Sache ist. Und der Bundestag muss vorher entscheiden können, ob geliefert wird oder nicht. Und wir sagen: Es soll nicht geliefert werden! Denn Waffen führen zum Rüstungswettlauf, Waffen sind zur Kriegführung da, Waffen töten.

An deutschen Waffen wird die Welt nicht genesen, liebe Freundinnen und Freunde!

Was wir brauchen und fordern, ist eine radikale Umkehr in der Außen-und Sicherheitspolitik.

Die Friedensbewegung hält es heute, 100 Jahre nach dem 1. Weltkrieg, immer noch mit den großen Pazifistinnen und Antimilitaristen, Bertha von Suttner und August Bebel: „Die Waffen nieder!“, hieß es bei Bertha von Suttner. „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“, war eine ständige Redensart von Bebel, wenn er im Reichstag gegen den Militäretat sprach.
Recht hatten sie! Keinen Euro und keinen Mann und keine Frau für die Bundeswehr und für deren Auslandseinsätze! Abrüstung ist das Gebot der Stunde.

* Dr. Peter Strutynski, Kassel, Politikwissenschaftler und Friedensforscher; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag. Am Ostermontag, 21. April 2014, vor der Lorenzkirche in Nürnberg. <


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