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Löscht denn hier niemand?

Rede von Friedrich-Martin Balzer beim Osterspaziergang 2014 in Marburg *

Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November die Marburger Synagoge lichterloh in Flammen stand, fragte die 21jährige Geschichtsstudentin Lisa Hörmayer, die spätere Frau von Wolfgang Abendroth, entsetzt: „Löscht denn hier niemand“, um anschließend festzustellen, daß zwar die Feuerwehr vor Ort war, aber mit den Brandstiftern unter einer Decke steckte. Die Schläuche waren nicht angeschlossen. Ein Jahr später war der 2. Weltkrieg im vollen Gange. Diese Begebenheit kam mir in den Sinn, als sich die Krise um die Ukraine in den letzten Monaten zuspitzte.

Die Ursachen für Weltkriege sind seit dem Beginn des imperialistischen Zeitalters bekannt. Für Lenin war der Erste Weltkrieg ein Konflikt der imperialistischen Länder untereinander. Für Lenin und auch für den bürgerlichen Historiker Fritz Fischer war Deutschland mit seinem Griff nach der Weltmacht der zu spät gekommene und deshalb aggressivste Expansionist bei der Neuaufteilung der Welt.

1993, drei Jahre nach dem Ende der DDR, zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR erschien die Schrift von Wolfgang Michal, Deutschland und der nächste Krieg. War zunächst noch der Traum des deutschen Außenministers und des US-amerikanischen Außenministers von der „euroatlantischen Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok“ im Umlauf, so begann alsbald die Rivalität zwischen Rußland und Deutschland im Vordergrund zu stehen. Es begann die sogenannte „pénétration pacifique“, eine wirtschaftliche Durchdringung neugewonnener Einflußzonen. Bis 1993 allein pumpen die Deutschen nach Wolfgang Michal allein mehr als 130 Milliarden Mark in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Die Einkreisung der Sowjetunion mit dem letzendlichen Ziel ihrer Zerstörung ist nicht neu. Ökonomischer Expansionsdrang und ideologischer Antikommunismus führte zu vom Westen angeheizten Interventions- und Bürgerkriegen in der jungen Sowjetunion. Der Antibolschewismus führte 1941 zum deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Es kam entgegen dem Potsdamer Abkommen nach der durch unermeßliche Opfer der Sowjetunion errungenen Befreiung vom Faschismus zur Wiederaufrüstung und Remilitarisierung des Separatstaates Bundesrepublik – entgegen der Buchenwalder Losung „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“ und gegen den Widerstand der Friedensbewegung der 50er Jahre. Die massenhafte Friedensbewegung in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit 5 Millionen Unterschriften unter den Krefelder Appell richtete sich gegen Aufrüstung und Kriegsgefahr und die auf die Sowjetunion gerichtete Stationierung von Atomraketen.

Nach dem Kollaps bzw. dem „Rückzug“ der Sowjetunion, so Eric Hobsbawm, hat sich die Weltkarte enorm verändert. Die Zusage der USA, die Ausdehnung der NATO auf die östlichen Grenzen des durch Anschluß der DDR größer gewordenen Deutschland zu beschränken, wurde alsbald gebrochen. Aus den früheren Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes sind inzwischen Nato-Staaten geworden: Albanien, Bulgarien, DDR, Polen, CSSR, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn. Hinzu kamen die baltischen Staaten mit den Ländern Litauen, Lettland und Estland sowie Kroatien und Slowenien. In Polen werden US-amerikanische Raketen, angeblich gegen einen anderen Schurkenstaat gerichtet, installiert. Zuletzt führte die Nato gemeinsame Manöver mit der Ukraine durch. Wer dies nicht als Provokation ansieht, ist geschichtsblind und übersieht die Sicherheitsinteressen Rußlands. Rußland muß diese Einkreisung als Bedrohung einstufen. Rußland unter Putin leidet unter keinem Verfolgungswahn. Es ist der Westen, der von ungezügelter „Selbstherrlichkeit“ befallen ist.

Schluß mit der expansiven Politik des Westens gegen den Osten, wie sie durch die Nato-Osterweiterung, die EU-Assoziierungs¬abkommen sowie die Stationierung einer Raketenabwehr in Polen zum Ausdruck kommt. Verteidigt die Charta der Vereinten Nationen. Wehrt Euch gegen die Verletzung der Souveränität und die Verletzung des Gebotes der Nichteinmischung überall auf der Welt. Legt den Brandstiftern in den USA das Handwerk, die nach eigenem Bekunden mehr als 5 Milliarden US-Dollar in die Finanzierung der Proteste auf dem Maidan gesteckt haben.

Stellt Euch auf die Seite der diskriminierten Russen, Kommunisten und anderer verfolgter Minderheiten in der Ukraine. Helft Ihnen doch. Übt Solidarität mit den vom Putsch und Staatsstreich befallenen oder bedrohten Völkern und Staaten durch gewaltsamen „Regime-Change“ von außen. Wir haben die Nase voll von Krims Märchen, wonach die Bundesregierung angeblich uneigennützig das Demonstrationsrecht und die Menschenrechte auf dem Maidan verteidigt und anschließend vertragsbrüchig eine Junta anerkennt und unterstützt, die mit Faschisten in einem Boot sitzt. Wartet nicht auf die Feuerwehr. Löscht die Fackel des Krieges selbst. Fordert den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO. Raus aus Afghanistan ohne Wenn und Aber. Hände weg von Syrien, Afrika und Venezuela.

Wir brauchen keinen Bundespräsidenten, der schmalzig und heuchlerisch Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Frankreich, Italien und Griechenland zum Nulltarif bedauert und gleichzeitig Deutschland dazu aufruft, sich seiner weltpolitischen und militärischen „Verantwortung“ zu besinnen.

Gehen wir auf die Straßen. Stoppen wir die Brandstifter, die vor lauter Geschichtsvergessenheit und kapitalistischem Expansionsdrang im Begriffe sind, die Welt in den 3. Weltkrieg zu führen: JETZT. Rüstet ab. Verhindert deutsche Waffenexporte in alle Welt. Fallt den verbrecherischen und völkerrechtswidrigen Drohnenkriegern in den Arm. Warum stellt niemand den Antrag, die USA wegen ihres unter Obama verschärften Drohnenkrieges aus den G8-Staaten auszuschließen und die Verantwortlichen vor ein Kriegsverbrechertribunal zu stellen? Verhindert die für 2016 angekündigte Renovierung der immer noch auf deutschem Boden stationierten US-amerikanischen Atomraketen. „Unser Leben“, so Reinhard Kühnl auf dem Marburger Forum 1981, „kann nur gesichert werden, wenn es gelingt, in Europa eine Zone der Entspannung und der Abrüstung zu schaffen, eine Zone, die gänzlich frei von Atomwaffen ist“. Ihr seht, es gibt gute Gründe, die Friedensbewegung in unserem Land stark zu machen. Auf einen will ich hier näher eingehen.

Es war von Anfang an die Absicht des Grundgesetzgebers, eine rechtliche Garantie für einen deutschen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Völker zu geben. Das Grundgesetz der BRD schreibt folglich in Art. 26, Abs. 1 normativ vor: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, [...] sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ In Grundgesetz-Kommentaren werden u.a. folgende Tatbestände genannt: grundsätzliche und systematische Mißachtung völkerrechtlicher Verträge, Ablehnung einer friedlichen Lösung internationaler Streitigkeiten, Verweigerung der Zusammenarbeit mit anderen Nationen auf rechtlichem, wirtschaftlichem und ähnlichem Gebiet, Angriff auf die Eigenständigkeit anderer Staaten, Aufreizung zu Gewaltakten. Als friedensstörende Handlungen werden angesehen: die systematische Stimmungsmache gegen einen bestimmten ausländischen Staat, Unterstützung eines anderen Angreifers, Hervorrufen von Bürgerkriegslagen in einem anderen Staat, [...] Vorbereitung einer psychologischen Kriegführung, insbesondere durch Terrorakte gegen einen anderen Staat, ferner durch Kriegspropaganda, Verbreiten unwahrer Nachrichten oder gefälschter Dokumente.

Als Täter der inkriminierten Handlungen kommen sowohl „Staatsorganträger als auch Einzelpersonen“ in Betracht. Werden derartige inkriminierte Handlungen von Staatsorganen begangen, sind sie wegen ihrer Verfassungswidrigkeit nichtig. Mit dem Kreis der Privatpersonen ist auch die Presse einschließlich Rundfunk und Fernsehen angesprochen. Im Übrigen unterliegen der Verpflichtung zum völkerfriedensrechtsfreundlichen Verhalten nicht nur die Bürger der BRD, sondern alle Personen, die sich als Ausländer oder Staatenlose in der BRD aufhalten; denn Art. 26 GG will jedes friedensstörende Verhalten vom Gebiet der BRD aus verhindern. Für die von der Bundesregierung gehätschelte Oligarchin Julia Timoschenko, die nach eigener Aussage alle „Russen abknallen“ und eigenhändig mit der „Kalaschnikow Putin in den Kopf schießen“ will, wäre die Bundesrepublik kein Aufenthaltsort ohne Strafverfolgung, um nur ein Beispiel zu nennen. Art. 26 GG verbietet der Presse, „die systematische Stimmungsmache gegen einen bestimmten ausländischen Staat“. Die gesetzliche Verabschiedung von Strafnormen steht 65 (!) Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes im Wesentlichen immer noch aus. Sorgen wir dafür, daß nach dem Scheitern einer entsprechenden Petition der VVN an den Bundestag in den 70er Jahren Die Linke im Bundestag endlich einen Gesetzentwurf für ein Friedensgesetz einbringt, um diesem grundgesetzwidrigen Zustand gesetzlich und faktisch ein Ende zu bereiten.

Wir sehen, wir müssen die „Friedensbewegung“ weder abschreiben noch neu definieren. Was wir brauchen, ist eine genaue Analyse der gegenwärtigen Situation und massenhafte Aktionen. Lassen wir uns von der alltäglichen Propaganda in den Mainstream Medien nicht verunsichern. Ja, schlagen wir Alarm. Solange wir selbständig denken, sind wir keine „fellow travellers“ einer der Weltmächte, weder Deutschlands noch Rußlands.

Wir wissen, wer die finanziellen Verpflichtungen, die Deutschland und die EU etwa in der Ukraine eingegangen ist, am Ende bezahlen soll. Es sind die ohnehin sozial Benachteiligten, nicht die Reichen und Superreichen, die Steuer- und Kapitalflüchtigen. Mit Oligarchen haben wir nichts gemein, seien es lokal, regional, landesweit oder international agierende Oligarchen, seien es Oligarchen in der Ukraine, in Rußland oder in Deutschland, auch wenn die „deutsche Wirtschaft“, wie es so schön heißt, sich aus Eigeninteresse gegen wirtschaftliche Sanktionen gegen Rußland ausspricht und russische Oligarchen ein paar Fußballvereine in Europa finanzieren. Wenn ein Oligarch jemand ist, der auf Grund seiner wirtschaftlichen Machtstellung bestrebt und fähig ist, seine Interessen unmittelbar gegenüber der Regierung durchzusetzen, dann gibt es in Deutschland nicht wenige Oligarchen.

„Marschieren wir gegen den Osten? Nein? Marschieren wir gegen den Westen? Nein“. Auch auf diesem Ostermarsch marschieren wir mit Fasia Jansen „für eine Welt, die von Waffen nichts mehr hält, denn das ist für uns das Beste“. Frieden ist ohne Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Länder – auch Rußlands – undenkbar.

Nach Meinungsumfragen haben trotz der antirussischen Stimmungsmache 55% der Deutschen „Verständnis für Rußlands Haltung“. Nutzen wir diese Chancen. Wir sind nicht allein. Vertrauen wir nicht den Merkels und Steinmeiers, den heuchlerischen „Diplomaten“ und Brandstiftern, den grünen „Bellizisten“ und ethischen Imperialisten. Tun wir es in Bälde und massenhaft. Reißen wir uns heraus aus unserem individualisierten Nischendasein. Rücken wir zusammen. Halten wir uns an das arabische Sprichwort „Die Ernte ist wie die Saat. Drum was ihr sät seht. Ein Tor, wer früh versäumt hat und zu spät späht“. Löschen wir den hauptsächlich vom Westen entfachten Brand selbst – durch Kampf für Abrüstung und Wahrung des Völkerrechts überall auf der Welt. Sonst wird uns etwas passieren, was wir seit dem 8. Mai 1945 nicht für möglich gehalten haben.

* Friedrich-Martin Balzer, Historiker, Mitbegründer des Marburger Forums. Osterspaziergang am 21. April 2014 in Marburg.


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