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Gefahren für Frieden, Völkerrecht und Rechtssicherheit

Thesen von Prof. Dr. Bernhard Graefrath

Die nachfolgenden Thesen trug Bernhard Graefrath auf dem Friedenspolitischen Kongress in Hannover am 31. August 2002 vor.

Der Zusammenbruch des Kolonialsystems und die rasante Entwicklung von Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Kommunikation in den letzten 50 Jahren haben einen großen Einfluß auf die Entwicklung des Völkerrechts ausgeübt. Die Zahl der Mitgliedstaaten der UNO ist auf das mehr als Dreifache gestiegen. Völlig neue Gebiete sind in die Reichweite des Völkerrechts gelangt, wie z.B. das Weltraumrecht, das Luftrecht, das Umweltrecht, die Förderung und der Schutz von Menschenrechten, die Telekommunikation und wichtige Aspekte des Wirtschaftsrechts. Das Netz der internationalen Zusammenarbeit der Staaten ist heute wesentlich umfänglicher, vielfältiger und engmaschiger. Gerade die Vielgestaltigkeit und das schnelle Wachstum der Beziehungen zwischen den Völkern erfordert den Ausbau des völkerrechtlichen Regelwerks und die Stärkung seiner Verbindlichkeit.

Unter diesen Bedingungen wächst die Bedeutung von zwingenden Regeln, an die sich alle Staaten halten müssen. Das sind Regeln, die nicht durch einfachen Vertrag und schon gar nicht durch "andersartige" Praxis verändert, aufgehoben oder "weiterentwickelt" werden können. Immer wichtiger werden Kontroll-und Durchsetzungsmechanismen, die die Einhaltung der zwingenden Normen, wie des Gewaltverbots in den internationalen Beziehungen, aber auch der vertraglichen internationalen Beziehungen gewährleisten. Sie halten das ganze System, das heute durch die UNO charakterisiert wird zusammen. Es beruht auf der Anerkennung der souveränen Gleichheit der Staaten und gewährleistet mit der Erhaltung des Friedens seine Funktionsfähigkeit. Es ist in den internationalen Beziehungen nicht anders als im gewöhnlichen Straßenverkehr. Je dichter der Verkehr, um so wichtiger wird die Straßenverkehrsordnung sowie die Kontrolle und Durchsetzung ihrer Regeln, um die Gleichberechtigung der Teilnehmer zu gewährleisten. Auch in den internationalen Beziehungen bedeutet Deregulierung Ausgrenzung und Unterdrückung der Schwachen und Willkürherrschaft der Starken.

Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit sind es heute die USA, die umfassende Regelungen und die Schaffung effektiver Institutionen hindern. So haben sie das umfassende Inkrafttreten der Seerechtskonvention ebenso wie des Kyotoer Klimaprotokolls verhindert. Bis heute halten sie Vorbehalte gegen den Pakt für politische und Bürgerrechte aufrecht, die seine unmittelbare Anwendung in den USA ausschließen. Den Pakt über wirtschaftliche soziale und kulturelle Rechte haben sie erst gar nicht ratifiziert. Sie verletzen die III. Genfer Rot-Kreuzkonvention mit ihrer Käfighaltung von Gefangenen in Guantánamo. Sie haben das Verbot biologischer Waffen mit der Entwicklung neuer Milzbrandkulturen verletzt und die Vereinbarung eines effektiven Kontrollmechanismus gegen biologische Waffen verhindert. Sie beschneiden den gültigen Kontrollmechanismus der Chemiewaffenkonvention, haben das Landminenverbot und den Atomteststoppvertrag nicht ratifiziert. Sie haben den ABM-Vertrag gekündigt und sind dabei neue Kernwaffen zu entwickeln und verletzen damit den Vertrag über das Verbot der Weiterverbreitung von Kernwaffen. Zugleich bedrohen sie jedes Land, das ihrer Meinung nach den Vertrag verletzt, mit militärischer Intervention, einschließlich der Anwendung von Kernwaffen. Im Zusammenhang mit dem "Krieg gegen den Terrorismus" haben sie für sich das Gewaltverbot der UN-Charta außer Kraft gesetzt, Afghanistan bombardiert und bedrohen nunmehr jedes Land, das sich nicht ihrer Politik beugt, mit militärischen Präventivschlägen.

Die USA, die einst an der Spitze der Bewegung für die "rule of law" in den internationalen Beziehungen standen, haben sich schon 1987 der ständigen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag entzogen, weil sie wegen ihrer militärischen Intervention gegen Nikaragua verurteilt wurden. Neuerlich wehren sie sich vehement gegen die Etablierung eines Internationalen Strafgerichtshofes, nachdem sie seine Schaffung nicht verhindern konnten. Sie verlangen "Rechtssicherheit" für ihre Soldaten. Das bedeutet nicht etwa Schutz ihrer Soldaten durch den Internationalen Strafgerichtshof, sondern Schutz vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Das heißt, sie verlangen für sich eine Ausnahme von der Aufsicht über die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Sie versuchen, den Staaten entsprechende Immunitäts-Verträge zum Schutz ihrer Soldaten vor internationaler Gerichtsbarkeit aufzuzwingen und den Sicherheitsrat zu erpressen. Sie drohen sogar per Gesetz, ihre Soldaten notfalls mit militärischer Intervention aus dem Gerichtssaal in Den Haag zu befreien. Ein ungeheuerlicher Vorgang. Leider aber nur ein Beispiel für die derzeitige Außenpolitik der USA.

Unter Bush verstehen sich die USA als Repräsentant des auserwählten Volkes, als Führer in der "Neuen Weltordnung". Sie treten als Schutzmacht des internationalen Neoliberalismus auf und sind offenbar entschlossen, anstelle eines auf Gewaltverbot und Gleichberechtigung der Staaten beruhenden Völkerrechts eine Vasallenordnung durchzusetzen, die bedingungslosen Gehorsam oder wie das jetzt genannt wird, "uneingeschränkte Solidarität", gegenüber der Führungsmacht verlangt. In dieser Ordnung entscheiden die USA als Sachwalter des "Guten gegen das Böse" allein was Gut oder Böse ist, wann und gegen wen sie militärische Gewalt einsetzen. In einem solchen System stören Regeln, die für alle gleich gelten, weil sie die Handlungsfreiheit auch der Supermacht beschränken, sind demokratische Kontrollfunktionen und Durchsetzungsmechanismen unerwünscht, weil sie der eigenen Machtentfaltung hinderlich sind. Unter solchen Bedingungen wollen einige Staaten keinen Internationalen Strafgerichtshof, weil sie fürchten, er könnte so amerikanisch funktionieren, wie das Jugoslawientribunal und die USA wollen ihn nicht, weil sie befürchten, ihn nicht so unter Kontrolle zu haben wie das Jugoslawientribunal.

* Dr. Bernhard Graefrath war bis 1982 Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität Berlin, von 1982 bis 1991 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Von 1976 bis 1985 Mitglied des Internationalen Menschenrechtsausschusses, von 1986 bis 1991 Mitglied der UN Völkerrechtskommission. Veröffentlichungen u.a.: Die Vereinten Nationen und die Menschenrechte, (Berlin 1956); Völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Staaten (zusammen mit E. Oeser und P.A. Steiniger, Berlin 1977); Menschenrechte und Internationale Kooperation, 10 Jahre Praxis des Internationalen Menschenrechtskomitees, (Berlin 1988).


Zu weiteren Referaten auf dem Friedenskongress in Hannover

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