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"Deutschland ist immer mehr Teil des schmutzigen Krieges geworden"

Dem Parteitag der LINKEN in Rostock liegt ein Antrag vor, den die Friedensbewegung diktiert haben könnte

Im Folgenden dokumentieren wir einen Antrag, den die Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke und Paul Schäfer an den Parteitag der LINKEN in Rostock gerichtet haben.


Antrag an den 2. Bundesparteitag der Partei DIE LINKE
- Entwurf - 30. März 2010-

Für Frieden und Wiederaufbau in Afghanistan

Friedensvorschläge der Partei DIE LINKE

Die NATO-Militärintervention in Afghanistan hat das Land keinen Schritt näher in Richtung Frieden, Stabilität und Wiederaufbau gebracht. Im Gegenteil: Trotz massiver Aufstockung der NATO-Truppen auf inzwischen knapp 100.000 Soldatinnen und Soldaten und Ausweitung des militärischen Auftrages vom Schutz der Regierung in Kabul zu offensiven Kampfeinsätzen und Terroristenjagd in ganz Afghanistan, sind die aufständischen bewaffneten Gruppen stärker als zuvor, die Sicherheitslage so schlecht wie noch nie. Die Bevölkerung gerät immer stärker zwischen die Fronten, zivile Opfer werden von beiden Seiten in Kauf genommen.

Die Ausrichtung der internationalen Strategie auf den militärischen Sieg über die Aufständischen hat in den letzten neun Jahren dazu geführt,
  • dass sämtliche Initiativen für einen Friedensprozess im Keim erstickt wurden, dass Initiativen für den Wiederaufbau vor allem nach militärischen Erfordernissen ausgerichtet wurden und damit kaum nachhaltige Wirkung entfaltet haben,
  • dass beim Aufbau staatlicher Strukturen vor allem der Aufbau von Hilfstruppen für den Kampf der NATO gegen die Aufständischen im Mittelpunkt stand und deswegen andere dringend benötigte staatlicher Kapazitäten unterentwickelt blieben,
  • dass sich die Korruption der Regierung Karsai ausbreiten konnte und Fortschritte im Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe durch Demokratisierung und Schutz der Menschenrechte verhindert wurden.
Die Beschlüsse der Afghanistan Konferenz in London 2010 haben deutlich gemacht, dass weder die Bundesregierung noch die anderen NATO-Staaten bereit sind, ihr Scheitern in Afghanistan einzugestehen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Stattdessen macht das aktuelle Afghanistan-Konzept der Bundesregierung und die Aufstockung der deutschen Truppen auf 5.350 deutlich, dass weiter auf einen militärischen Sieg gesetzt werden soll. Deutschland ist immer mehr Teil des schmutzigen Krieges geworden. Deutschland wird aber nicht am Hindukusch verteidigt - Deutschland führt Krieg in Afghanistan.

Die Mehrheit der Menschen in unserem Land will, dass die Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen wird. Auch die Mehrheiten im Bundestag für die Fortsetzung des Krieges sind nicht mehr stabil. In den Gewerkschaften, den Kirchen nehmen kritische Stimmen zu. Entwicklungspolitische Gruppen, darunter viele, die in Afghanistan tätig sind, bestehen auf der Trennung von ziviler Hilfe und militärischer Gewalt. Die Politik der Bundesregierung verliert an Rückhalt. Es wächst der Druck auf SPD und Grüne, mit ihrer Zustimmung zu den Truppenentsendungen Schluss zu machen. Im Februar 2011 muss der Bundestag erneut über die Verlängerung des deutschen Mandates entscheiden. Die Entscheidung der niederländischen Sozialdemokraten, auch um den Preis der Aufgabe der Regierungsbeteiligung auf einem Abzug der Soldaten noch in diesem Jahr zu bestehen, ermutigt uns in unserer Position.

DIE LINKE vertritt wie die Friedensbewegung die Auffassung, dass im Interesse der afghanischen Bevölkerung Frieden und Wiederaufbau nicht noch Jahre warten kann. Die Weichen müssen jetzt gestellt werden: Die Afghaninnen und Afghanen brauchen nach über 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg endlich Frieden.

Das erfordert als aller Erstes: Den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Nur wenn die Waffen schweigen, kann das Land aufgebaut werden. Der Abzug sollte sofort beginnen und Ende des Jahres abgeschlossen sein. Und er ist an keine Vorbedingungen zu knüpfen. Damit würde der Druck auf die anderen NATO-Partner erhöht, auch ihre Truppen möglichst rasch zurückzuziehen. Nur durch den Abzug der NATO aus Afghanistan kann der Frieden gewonnen werden. Der Abzug der "fremden Truppen" beendet das Gefühl vieler Afghaninnen und Afghanen, in einem besetzten Land zu leben.

Zweitens kann und darf den Afghanen nicht von außen eine Lösung ihrer Probleme aufgezwungen werden. Alle solche Versuche sind gescheitert. Aber die Bundesrepublik Deutschland sollte zivile, selbstbestimmte Strukturen in Afghanistan unterstützen! Eine maßgebliche Teilhabe der Bevölkerung ist die wichtigste Voraussetzung für einen friedlichen Entwicklungsweg. Dazu gehört, neben dem sofortigen Ende der militärischen Intervention, Nachhaltigkeit im Kampf gegen Hunger, Armut, Gewalt und Unterentwicklung. Dazu gehört vollständiger Schuldenerlass, Selbstbestimmung und die Beendigung der Bevormundung und des Überstülpens westlichen Lebens, westlicher Kultur undWirtschaftsweisen sowie entsprechender Handelsbeziehungen. Notwendig ist die Umwidmung von Geldern weg vom Militärischen hin zum Zivilen, die personelle und finanzielle Unterstützung von sozialen Projekten.

Drittens könnte der Abschluss eines Waffenstillstandsabkommens ein Auftakt für einen nationalen Friedens- und Aussöhnungsprozess sein. Wir sehen das als eine wesentliche Bedingung für eine friedliche Entwicklung des Landes. Statt der Afghanisierung des Krieges muss es um eine Afghanisierung des Friedens gehen. Es liegt in der Verantwortung der afghanischen Konfliktparteien, ein solches Abkommen zu verhandeln. Der Verhandlungsprozess bedarf der internationalen Förderung, aber keiner Einmischung von außen. Gleichzeitig sehen wir jede Einmischung von außen in diesen Prozess als eine Gefahr an, da sowohl Anrainerstaaten als auch Großmächte ihre eigene Agenda haben und versuchen werden, sie zu Lasten der Afghaninnen und Afghanen einzubringen.

Viertens soll der Friedensprozess auch mit den Nachbarn Afghanistans durch den Aufbau regionaler Sicherheitsstrukturen international abgesichert werden. Dazu gehört neben der Verpflichtung auf das Nichtinterventionsgebot und regionaler vertrauensbildender Maßnahmen auch eine engere Zusammenarbeit mit der Organisation der Islamischen Konferenz.

Fünftens werden die Afghaninnen und Afghanen Mittel und Methoden zur Initiierung eines umfassenden Friedens- und Aussöhnungsprozesses selbst herausbilden. Wir sind zuversichtlich, dass die afghanische Kultur und Tradition Instrumente hervorgebracht hat, die einen Friedens- und Aussöhnungsprozess ermöglichen, zum Beispiel die Ratsversammlungen (Shuras und Jirgas). Wir sind jedoch der Überzeugung, entsprechend auch vieler Gespräche, die wir mit Afghaninnen und Afghanen geführt haben, dass die Ahndung der Kriegsverbrechen unabdingbar ist.

Sechstens geht es um die Stärkung der afghanischen Selbstbestimmung und Intensivierung des wirtschaftlichen und zivilen Aufbaus. Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sind kein Gegenstand militärischer Intervention. Frauenrechte, humanitäre Hilfe, Demokratie dürfen nicht zur Begründung des Krieges missbraucht werden. Die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland, die Dominanz militärischer Ziele bei der Hilfe für Afghanistan in den letzten neun Jahren sowie die Duldung von Korruption haben den Wiederaufbau gebremst. Armut, Unterentwicklung und unzureichend funktionierende staatliche Strukturen haben die innergesellschaftlichen Konflikte verschärft. Auch für die Entwicklungszusammenarbeit muss gelten: Entscheiden müssen die Afghaninnen und Afghanen selbst. Eine weitreichende Entschuldung, neue Mechanismen zum Schutz der afghanischen Wirtschaft, eine Landreform und mehr direkte finanzielle Unterstützung sind wichtige Voraussetzungen für eine nachhaltige positive Entwicklung des Landes.

Siebentens ist der Wiederaufbau finanziell zu unterstützen; die Gelder sind vom Krieg in die Förderung des Friedens umzuleiten. Weltweit wurden bisher ca. 85 Milliarden US-Dollar für den Militäreinsatz, aber nur 7 Milliarden für den Aufbau des Landes ausgegeben. Der zivile Aufbau darf nicht länger als Teil des Krieges missbraucht werden. Nicht das Militär schafft ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau, sondern der zivile Aufbau inclusive des Polizeiaufbaus soll die Kriegführung effektiver machen. Eine strikte Trennung von Militär und zivilen Aufbaumaßnahmen ist unverzichtbar. Die zivil-militärische Zusammenarbeit muss eingestellt werden. Nicht der Krieg, der zivile Aufbau ist die Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft. Die Erfahrungen ziviler Konfliktbewältigung können auch in Afghanistan helfen.

Achtens ist eine Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen in Afghanistan erforderlich, um den Abzug der ausländischen Truppen zu überwachen und die internationale Unterstützung für den Friedensprozess und den Wiederaufbau zu koordinieren. Die UNO ist in Afghanistan ihrer Verantwortung für den Weltfrieden nicht gerecht geworden. Eine neue Resolution des Weltsicherheitsrates muss den Weg für Frieden und internationale Sicherheit öffnen.

DIE LINKE hat Vorschläge für Frieden und Gerechtigkeit in Afghanistan. Wir haben gute Argumente gegen den Krieg und gegen die deutsche Beteiligung an diesem Krieg. Der Parteitag der LINKEN stellt diese Vorschläge zur öffentlichen Diskussion, in den Parlamenten und in der Gesellschaft. Die Vorschläge widerspiegeln unsere Erfahrungen aus vielen Diskussionen, aus der Friedensbewegung, aus Besuchen in Afghanistan, von internationalen Konferenzen und Kongressen, von Demonstrationen und Kundgebungen. DIE LINKE hat dem Krieg ein Gesicht gegeben, den Opfern ihre Namen. Jeder Tag, den dieser Krieg dauert, kostet Menschen Leben und Gesundheit. Deutschland wird nicht am Hindukusch Verteidigt - die Bundeswehr muss aus Afghanistan abgezogen werden, damit der Frieden eine Chance hat.

Quelle: Newsletter der BAG FiP (Frieden und internationale Politik) der LINKEN, 27. April 2010;
der Antrag geht auf Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke und Paul Schäfer (alle drei MdB) zurück.



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