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"Bei der Neuverteilung des Kuchens sich ein möglichst großes Stück zu sichern"

Die Reden von Siegfried Benker (Bündnis90/Die Grünen) und Peter Strutynski in München - und die Grüße des Münchner Oberbürgermeisters

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von Siegfried Benker, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 9i0/Die Grünen im Münchner Stadtparlament, der gleichzeitig die Grüße des Münchener Oberbürgermeisters überbrachte, und von Peter Strutynski, Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, auf der Abschlusskundgebung des Münchner Ostermarsches am 10. April 2004 auf dem Marienplatz.

Siegfried Benker, Fraktionsvorsitzender, Bündnis 90/Die Grünen-rosa Liste

Liebe Münchnerinnen und Münchner,
Liebe Freundinnen und Freunde,

Zunächst möchte ich Ihnen die Grüße des Oberbürgermeisters überbringen.

Seit 1989, seit jetzt 15 Jahren, wird die Welt neu verteilt. Seit dem Ende des Blockdenkens wird weltweit mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln versucht, bei der Neuverteilung des Kuchens sich ein möglichst großes Stück zu sichern. Allen voran sind hier die USA aktiv, aber die Bundesrepublik versucht bei der Verteilung ebenfalls mit am Tisch zu sitzen wo es geht. Sei es alleine, sei es im Rahmen der EU oder sei es im Rahmen der NATO. Die Bundesrepublik hat seit 1989 ihre Rolle völlig neu definiert. Längst will die Bundesregierung ihre Interessen nicht mehr nur durch politische Interventionen sichern. Längst ist die Bundeswehr eine strategische Größe im außenpolitischen Handeln geworden. Wer heute von der Bundeswehr spricht, denkt kaum noch an die Verteidigung der BRD, sondern an weltweite Sicherung angeblich deutscher Interessen.

Eine - sicher unvollständige - Aufzählung der Interventionen der Bundeswehr seit 1989 soll dies zeigen:
  • Nach dem 1. Golfkrieg 1991: Deutsche Minensucher sind im Persischen Golf unterwegs.
  • 1992 gingen deutsche Bundeswehrsoldaten im Rahmen einer UNO-Mission als Sanitätssoldaten nach Kambodscha um bei der Minensuche zu helfen.
  • Ebenfalls 1992 wurden Logistikverbände der Bundeswehr nach Somalia entsandt.
  • Seit 1994 sind Bundeswehrverbände in Bosnien-Herzegowina. Diese über reine Logistikverbände längst hinausgehenden Einheiten tragen für einen Bezirk auch die Hauptverantwortung.
  • Danach kam es zu einem Kurzeinsatz von Sanitätseinheiten in Osttimor.
  • Erstmals zu einem - auch so bezeichneten - Kriegseinsatz kam es 1999 im Rahmen des NATO-Einsatzes im Kosovo. Seitdem steht die Bundeswehr auch im Kosovo.
  • Seit 2002/2003 steht die Bundeswehr auch in Afghanistan.
  • Auch im Rahmen der Anti-Terror-Aktionen hilft die Bundesmarine bei der Minensuche im persischen Golf
  • Während des Irak Krieges 2003 waren Bundeswehreinheiten in Kuwait stationiert um bei evtl. Giftgaseinsätzen tätig zu werden.
  • Ebenfalls 2003 kam es zu einem Kurzeinsatz im Kongo zur Unterstützung französischer Einheiten.
  • Noch immer stehen Sanitätssoldaten in Georgien.
Sicher gab es für jeden Einsatz auch gute Argumente - aber das wirkliche Ausmaß der Interventionen zeigt sich erst in der Gesamtschau. In dieser Gesamtschau zeigt sich, dass die Bundeswehr, die vierzig Jahre als Verteidigungsarmee konzipiert war, in den letzten 15 Jahren in mehr als zehn Ländern, verstreut über den gesamten Globus, im Einsatz war.

Die Bundesbürger wurden langsam an Einsätze gewöhnt. Es zeigt sich im Nachhinein: die sog. "humanitären Einsätze" waren Einstiegsdrogen, um die Bundesbürger an diese Interventionen zu gewöhnen. Die Einsätze sind Schritt für Schritt eskaliert. Wäre ein Kriegseinsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan vor 1989 noch undenkbar gewesen, ist der Einsatz im Kosovo heute schon fast vergessen angesichts der Kriege, die gefolgt sind.

Diese Einsätze bedeuteten natürlich auch, dass die Verteidigungsarmee Bundeswehr befähigt werden mußte, weltweit intervenieren zu können. Aus der Territorialarmee mußte eine Truppe werden, die auch in der Wüste und im Dschungel einsatzfähig ist.

Deutsche Interessen, das ist nicht mehr die Verteidigung der Heimat. Deutsche Interessen, das sind, auch offizielle benannt, die Sicherung von Rohstoffquellen und die dazugehörigen Verbindungswege, die Bekämpfung von Fluchtursachen um Flüchtlingsströme von der BRD fernzuhalten und natürlich der weltweite Kampf gegen den Terror.

Die Bundeswehr ist ein selbstverständliches Instrument deutscher Außenpolitik geworden - und das soll noch ausgebaut werden.

Bis 2010 soll die Bundeswehr in drei Kategorien unterteilt werden:
  • Die Eingreifkräfte: 35000 Soldaten sollen "schnelle militärische Schläge" - so die Begründung - beispielsweise gegen Terroristen-Ausbildungslager führen. Diese gehören zur "Response Force" der NATO und zur EU-Eingreiftrupppe
  • Die Stabilisierungskräfte: sie sollen "dauerhaft" (wie Afghanistan/auf dem Balkan) bleiben können, zumindest auf unabsehbare Zeit. Vorgesehen hierfür: 70.000 SoldatInnen
  • Die Unterstützungskräfte. Diese sollen logistische Unterstützung für Einsätze im Ausland geben: Beispiel: In Termez in Usbekistan sitzt der Luftwaffenverband, der die Einsätze in Afghanistan koordiniert.; Ziel: 170000 Soldaten.
Die Bundeswehr soll ab 2010 an fünf unterschiedlichen Orten mit Stabilisierungskräften agieren können. Derzeit sind diese im Kosovo, Bosnien, Afghanistan und, mit einem kleinen Kontingent, in Georgien präsent. Weitere Kontingente sind im Rahmen des Anti-Terror-Kampfes "Enduring Freedom" unterwegs.

Es sind also noch Kapazitäten für den nächsten Krieg drinnen. Genauer: Der nächste Krieg kommt bestimmt. Nach dieser Definition und Struktur ist es deutlich, dass die "Interessen" der BRD nach dem selben Einsatzmuster wie bisher irgendwann z. B. auch im Iran, in Afrika oder in anderen Kaukasusrepubliken verteidigt werden müssen.

Strategische Bündnisse mit den Partnern EU/NATO führen dazu, dass Aufgaben geteilt werden: Beispiel: Deutschland hat keinen strategischen Seetransport, übernimmt aber die Aufgabe Europaweit/NATOweit, strategische Lufttransporte durchzuführen. Folge: Im nächsten Krieg könnte man nicht mehr "Nein" sagen, weil sich die Bundeswehr vertraglich und strukturell nicht mehr herausziehen kann. Wie beispielsweise bei den AWACS-Einsätzen über der Türkei im Irak-Krieg bereits geschehen.

Spätestens seit dem 11. 9. 2001 ist auch der "Kampf gegen den Terror" ein Argument, um im Hintergrund auch ganz andere Interessen durchzusetzen. So richtig es ist, mit Polizeiaktionen die Täter von Madrid oder New York zur Verantwortung zu ziehen, so falsch ist es, durch Kriegseinsätze ganze Länder in die Mithaftung zu nehmen. Aber wer sich weltweite Interventionsmaschinen aufbaut, kann nur in den Kategorien von Kriegshandlungen auf terroristische Akte reagieren.

Seit 1989 wird die Welt neu verteilt. Die Bundeswehr ist bei der Verteilung dabei. Dabei geht es nicht immer nur um Kriegseinsätze, sondern auch um strategisches Dabeisein. Nicht umsonst ist die Bundeswehr in allen Bündnissen strategisch vertreten, ist in Georgien oder Afghanistan. Wer dabei ist, kann mitverteilen und mitordnen. Beim Irak ist die BRD etwas ins Hintertreffen geraten, aber Deutsche Firmen dürfen schon wieder mitmischen- so wie Siemens hier in München.

Die Deutsche Außenpolitik hat sich die Bundeswehr als ein Standbein im weltweiten Machtspiel aufgebaut. Was fehlt, sind zivile Ansätze, Strategien zur Befriedung von Regionen, die nicht gleich militärische Einsätze nach sich ziehen, eine gerechtere Verteilung des Reichtums auf diesem Planeten. Doch wer auf militärische Intervention setzt, setzt nicht auf gerechte Verteilung.

Ein Jahr nach dem Irak-Krieg ist es deutlich wie noch nie, dass Kriege keine Probleme lösen. Zwar ist Saddam Hussein gestürzt, was zu begrüßen ist, aber der Krieg hat für die Irakis die Büchse der Pandora geöffnet: Der Irak droht ein zweites Jugoslawien zu werden. Ein Jahr nach dem Irak-Krieg ist deutlich, dass gelogen und betrogen wurde, um den Krieg durchführen zu können und dass es keine tragenden Ideen von seiten der Angreifer gibt, wie der Irak befriedet werden könnte.

Doch keine Regierung zieht daraus die Konsequenz, die Strategie weltweiter Interventionen zu überdenken. Die Friedensbewegung hat in allen Punkten recht gehabt, die Kriegsstrategen sind in allen Punkten gescheitert. Das mit langem Atem aufzuzeigen, ist das Verdienst der Friedensbewegung.

Während die Bevölkerung die Umstrukturierung und Militarisierung der deutschen Außenpolitik bestenfalls zur Kenntnis nimmt, stemmt sich die Friedensbewegung dagegen.

Hierfür möchte ich an dieser Stelle den Dank der Stadtspitze aussprechen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren!

Heute vor einem Jahr nahmen die US-amerikanischen und britischen Aggressoren Bagdad ein. Präsident George W. Bush und der britische Premierminister Tony Blair haben sich am 10. April 2003 in Fernsehansprachen an das irakische Volk gewandt. Erinnern wir uns, was sie damals gesagt haben.
Bush stellte in seiner Ansprache unter anderem folgendes in Aussicht:
"In diesem Augenblick wird das Regime von Saddam Hussein von der Macht entfernt, und eine lange Ära von Angst und Grausamkeit geht ihrem Ende entgegen. Die Regierung des Irak und die Zukunft Ihres Landes werden bald Ihnen gehören. Wir werden ein brutales Regime beenden, dessen Aggression und Massenvernichtungswaffen für die Welt eine einzigartige Bedrohung waren. Wir werden bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung helfen. (...) Wir werden Ihnen helfen, eine friedliebende und repräsentative Regierung aufzubauen, die die Rechte aller Bürger wahrt. Und dann werden unsere Streitkräfte abziehen."
Und sein treuester Pudel Tony Blair sagte:
"Eine neue und bessere Zukunft wartet auf das irakische Volk.(...) Wir werden diesen Krieg bis zu Ende führen. (...) Danach werden wir mit Ihnen gemeinsam den friedlichen, wohlhabenden Irak aufbauen, den Sie sich wünschen und den Sie verdienen. Dieser Irak wird nicht von Großbritannien, den USA oder den Vereinten Nationen regiert. Er wird von Ihnen regiert, dem irakischen Volk."

Als ich mir zur Vorbereitung meiner Rede diese Fernsehansprachen ansah, war ich ähnlich schockiert wie vor einem Jahr. Entweder haben die beiden größten Kriegsherren unserer Tage von nichts eine Ahnung, oder sie lügen selbst noch in Situationen, wo es gar nicht mehr von ihnen verlangt wird. Keine einzige Behauptung, die hier aufgestellt wurde, entsprach der Realität - mit Ausnahme der Tatsache, dass das Saddam-Regime beseitigt war. "Ruhe und Ordnung" sind bis heute nicht eingekehrt, eine "repräsentative Regierung" im Irak ist nicht in Sicht und vom Aufbau eines "wohlhabenden Irak" ist das Land noch Lichtjahre entfernt. Schließlich haben 12 Jahre mörderisches Embargo ihre Spuren hinterlassen; und der zerstörerische Luftkrieg vor einem Jahr hat den Irak vollends in ein vorindustrielles Zeitalter zurückgebombt.

Statt der schönen Verheißungen von Bush und Blair herrscht heute Krieg im Irak. Ein grausam geführter Krieg. Und es sind nicht nur - wie lange behauptet wurde - die alten Gefolgsleute von Saddam Hussein, die mit "Racheakten" die Eindringlinge bekämpfen; es sind auch nicht nur die Terroristen von Al Kaida und anderen Banden, die mit Selbstmordattentaten von sich reden machen.

Am Widerstand gegen die Besatzungsmacht beteiligen sich mittlerweile auch jene Schiiten, die früher in Opposition zum Saddam-Regime gestanden haben. Viele von ihnen mögen vor einem Jahr den Krieg sogar noch gutgeheißen haben, weil damit der verhasste Saddam beseitigt wurde. Aber das irakische Volk besitzt etwas, was der George Bush nur für sein eigenes amerikanisches Volk reklamiert: Es besitzt Stolz, Heimatliebe und vor allem den Wunsch, die eigenen Angelegenheiten auch in die eigenen Hände nehmen zu können.

Demokratie, Mr. Bush, ist eben kein Exportartikel, der anderen Völkern zwangsweise verabreicht werden kann! Demokratie ist die Inanspruchnahme von Souveränität und Selbstbestimmung der Völker. Und wer behauptet, die Araber brächten aus eigenen Stücken keine Demokratie zustande, der hat entweder keinen Begriff von Demokratie oder er argumentiert schlicht rassistisch. Wenn es im Nahen und Mittleren Osten mit der Demokratie bisher nicht so recht klappte, dann liegt das nicht an den genetischen Anlagen der Araber. Nein, es hat mit der kolonialen und postkolonialen Geschichte der Region zu tun, in der den Völkern willkürliche Staatsgrenzen und korrupte Alleinherrscher aufgezwungen wurden, in der die Menschen dazu verurteilt wurden oder sich der Einfachheit halber daran gewöhnten, von Stammesfürsten, regiert zu werden.

Ganz abgesehen davon wüsste man gern, welche Demokratie hier exportiert werden soll. Ist das eine Demokratie ŕ la Florida, wo ein Gericht darüber entscheidet, welche Stimmen gezählt werden und welche nicht? Getreu dem von Josef Stalin überlieferten Satz, wonach es nicht darauf ankäme, wer eine Wahl gewinnt, sondern wer die Stimmen auszählt.
Oder ist es eine Demokratie nach dem Muster Haiti, wo ein regulär gewählter Präsidenten - er mag noch so viel Dreck am Stecken haben - nur deswegen von einer von den USA ausgehaltenen Soldateska abgesetzt wird, weil er die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds nicht befolgt.

Demokratie, liebe Freundinnen und Freunde, hat auch eine materielle Basis. Und das ist seit der Entkolonialisierung der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts auch völkerrechtlich verankert. Im "Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte", einem bindenden Vertrag, den mehr als 100 Staaten der Erde ratifiziert haben, heißt es: "Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen..."

Die desaströse Lage im Irak ist zuallererst Resultat eines völkerrechtswidrigen und politisch verheerenden Krieges.

Heute verfügen wir über erdrückende Beweise dafür, dass der Irakkrieg aus ganz anderen als den offiziell angegebenen Gründen geführt wurde, dass er bereits im Jahr 2001 geplant wurde, und dass die Geheimdienste verschiedener Länder - BND eingeschlossen - beauftragt waren, das große Lügenmosaik zusammen zu stellen, das dann als Vorwand für den Krieg diente.

Aus dem Irak-Schlamassel gibt es nur einen Ausweg: den sofortigen Stopp des Kriegs und den Rückzug der Besatzungstruppen.
Und denjenigen, die da sagen, dann entstünde eine Sicherheitslücke und es würde vollkommenes Chaos ausbrechen, müssen wir antworten: Das Chaos, das ist die Anwesenheit der Besatzungstruppen, das ist die US-amerikanische Suprematie, das ist die außergesetzliche Willkür des Militärs, das ist die westliche Überheblichkeit, die für immer mehr Menschen im Irak unerträglich wird. .

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde!

Die weltweite Rohstoff- und Energiesicherung zieht sich wie ein roter Faden durch alle strategischen Konzepte der NATO sowie der einzelstaatlichen Sicherheitsdoktrinen der führenden Industriestaaten. Ich nenne drei Beispiele:
  1. Die Römische Erklärung der NATO vom November 1991 enthielt bereits die strategische Neuorientierung des ursprünglich auf Verteidigung ausgelegten Militärbündnisses. Nach dem Ende des Warschauer Pakts wäre es konsequent gewesen, auch die NATO aufzulösen. Doch die NATO erfand neue Sicherheitsrisiken, z.B. die "Verbreitung von Massenvernichtungswaffen", die "Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen" sowie "Terror- und Sabotageakte".
  2. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesregierung vom November 2002 wird diese strategische Orientierung fast wortgleich übernommen. Und die Neuauflage der VPR im Mai 2003 hat dies vollauf bestätigt.
  3. Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002 ist in ihrem militärpolitischen Teil weitgehend bekannt. Weniger bekannt ist der Teil der "Nationalen Sicherheitsstrategie", der sich aus Sicht der USA mit den wirtschaftlichen Herausforderungen befasst. Hier geht es in erster Linie um die weltweite Durchsetzung des freien Handels und offener Märkte. Und es geht um die "Sicherung der Energieversorgung". Wörtlich heißt es in der Doktrin: "Wir werden die Sicherung unserer eigenen Energieversorgung sowie den gemeinsamen Wohlstand der globalen Wirtschaft stärken, indem wir mit unseren Verbündeten, Handelspartnern und Energieversorgern an der Erschließung neuer Quellen und Arten globaler Energie arbeiten, insbesondere in der westlichen Welt, Afrika, Zentralasien und der Kaspischen Region."

In eine problematische Richtung hat sich auch die Europäische Union entwickelt. Der EU-Gipfel im Dezember letzten Jahres, der sonst überhaupt nichts Gescheites zustande gebracht hat, verabschiedete eine "Europäische Sicherheitsstrategie". Die starken Anklänge an die Nationale Sicherheitsstrategie der USA sind unübersehbar.
  1. Dieselbe Bedrohungsanalyse: 1) internationaler Terrorismus, 2) Massenvernichtungswaffen und 3) das Problem der "gescheiterten Staaten,
  2. und dieselbe Therapie: zum "Handeln bereit sein", wenn irgendjemand gegen die "Regeln" der internationalen Beziehungen verstößt. "Daher müssen wir bereit sein", heißt es wörtlich, "vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden." Das ist nichts anderes als die Präventivkriegstrategie ŕ la Bush. Denn wenn hier von "Vorbeugen" die Rede ist, wird an militärische Mittel gedacht.
Auch der Entwurf zur EU-Verfassung atmet den Geist des Militarismus. Europa solle sich aus einer erfolgreichen Wirtschaftsgemeinschaft in ein Militärbündnis mit weltweiten Ambitionen verwandeln. Mit der Verabschiedung der Verfassung würden zwei unheilvolle Entwicklungen sanktioniert:
  1. Krieg als Mittel der Politik wird weiter enttabuisiert, ja als ggf. unausweichliches Mittel zur Interessenwahrung des neu-formierten EU-Staatengefüges legitimiert. "Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert." Das ist, ich sage es noch einmal, die europäische Variante des Präventivkriegskonzepts der Bush-Doktrin.
  2. Weitere Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung erhalten mit dieser EU-Verfassung für alle EU- Mitgliedstaaten Verfassungsrang. Der zentrale Artikel 40 lautet: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern"
Und der Gipfel des Ganzen ist, dass die vorgesehenen Entscheidungen über Krieg und Frieden ohne jede parlamentarische Kontrolle erfolgen sollen. Über militärische Einsätze der EU entscheidet allein der Ministerrat. Das EU-Parlaments wird lediglich "informiert".
Nein, liebe Freunde, zu so einer Verfassung sagen wir Nein! Wir sagen Ja zu einem zivilen Europa, das in Frieden mit der Welt lebt. Wir sagen Nein zu einem neuen Militärbündnis.

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde!

Lasst mich nun noch ein paar Worte zu unserem Land sagen. Damit es nicht so aussieht, als wäre Deutschland an all den Dingen nicht beteiligt.

Und ob wir beteiligt sind!
Wir haben eine Bundesregierung,
  • die den völkerrechtswidrigen Einsatzbefehl zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 gegeben hat,
  • die sich im Bundestag ein Mandat hat geben lassen für eine aktive Beteiligung des Bundeswehr-Kommandos Spezialkräfte (KSK) am Kampfeinsatz in Afghanistan,
  • die der Kriegsallianz beim Krieg gegen den Irak vor einem Jahr aktive Beihilfe geleistet hat
Vor sechs Wochen hat Verteidigungsminister Struck sein neues Bundeswehrkonzept vorgestellt. Landesverteidigung gibt es darin nicht mehr. Die neue Bundeswehr soll aus drei Streitkräftekategorien bestehen:
  1. den so genannten Eingreifkräften mit 35.000 Soldaten; das sind die Soldaten für Kampfeinsätze in aller Welt.
  2. den "Stabilisierungskräften" mit 70.000 Soldaten; sie sind für "friedensstabilisierende" Einsätze vorgesehen.
  3. schließlich den "Unterstützungskräften" mit 147.500 Soldaten; sie sind vorgesehen für die "Unterstützung der Eingreif- und Stabilisierungskräfte..."
Damit sollen weltweite Kriegseinsätze abgesichert werden. Die Bundeswehr wird zu einer Interventionsarmee, die am Hindukusch und anderswo zu verteidigen sucht, was hierzulande als Bedrohung nicht mehr vorhanden zu sein scheint.

Diese Bundeswehr wird teurer. Vor zehn Tagen (30. März) gab sich Struck großkotzig, als er auf einer Pressekonferenz Auskunft über die neuen Beschaffungsmaßnahmen gab. "Wir beschaffen das, was die neue Bundeswehr braucht", sagte er. Und das ist nicht wenig. Ab 2007 sind Struck - oder seinem Nachfolger - für den Militäretat 800 Mio. EUR zusätzlich zu den gut 24 Mrd. EUR zugesagt worden.
Alles, was das Herz eines modernen Offensivkriegers begehrt, wird angeschafft: vom Transportflugzeug vom Typ Airbus 400 M, über neue Aufklärungssatelliten bis zum bis dato teuersten Rüstungsprojekt, dem Eurofighter.

Doch wer nun in verbohrter vulgärmarxistischer Weise an ein gigantisches Wirtschaftsförderungsprogramm zur Belebung der Profite einiger Rüstungsindustrieller denkt - nun der hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Struck selbst hat auf der Pressekonferenz vor 10 Tagen die Karten auf den Tisch gelegt:
"Diese Planungen wurden in mehreren Gesprächen mit Unternehmen der deutschen wehrtechnischen Industrie und dem Bundesverband der Deutschen Industrie besprochen. Zuletzt wurde der Themenkomplex am 26. März 2004 (...) im Rahmen des sog. Rüstungswirtschaftlichen Arbeitskreises erörtert. Das Echo war ausnahmslos positiv. (...)
Ebenso wie bei der Material- und Ausrüstungsplanung ist auch die Zusammenarbeit zwischen dem BDI und dem Ministerium zur Festlegung industrieller Kernfähigkeiten(...) bisher sehr konstruktiv verlaufen."


Der Bundesverband der deutschen Industrie hat im Herbst vergangenen Jahres eine Denkschrift veröffentlicht, in der die Anforderungen der Industrie an das Verteidigungsministerium detailliert formuliert waren. Sie werden von Struck eins zu eins umgesetzt.

Das Papier des BDI heißt übrigens: "Streitkräfte und Industrie 2010", sozusagen das militärische Gegenstück zur Agenda 2010 des Kanzlers. Gegen diese Agenda sind vor einer Woche rund 500.000 Menschen in Berlin, Köln und Stuttgart auf die Straße gegangen..

Dieser Protest hat eine neue Qualität, liebe Freunde. Bemerkenswert ist doch, dass die Politik der Regierungen in der EU - aber auch außerhalb der EU - sich nicht mehr unterscheidet. Es ist gleichgültig, ob Sozialdemokraten, Grüne oder Christdemokraten und Liberale, Konservative und Nationalisten an der Macht sind: Sie betreiben alle dieselbe Politik. Und die ist gekennzeichnet durch Privatisierung, Steuergeschenke an die Reichen, Deregulierung der Arbeitsbeziehungen und des Arbeitsmarktes, Absenkung von Mindeststandards in den Sozialversicherungen. All das soll angeblich dem Wohl des Ganzen, genauer: dem Wirtschaftsstandort Deutschland dienen.

Und die Aufrüstung ist da nur die andere Seite ein und derselben Medaille. Mit dem Euro ist es doch auch nicht anders als früher mit der D-Mark: Er kann nur ein Mal ausgegeben werden.

Vor vier Wochen hat Verteidigungsminister Struck im Bundestag die Bundeswehr als die "größte Friedensbewegung" bezeichnet. Er erhielt dafür den ungeteilten Beifall aller Fraktionen. Als vor zwanzig Jahren Helmut Kohl dasselbe von der NATO behauptete, da flogen ihm noch rote und grüne Brocken um die Ohren. Wenn Herrn Struck wirklich so viel daran gelegen ist, als friedensbewegt zu gelten, dann soll er doch auf seine Soldaten und Waffen ganz verzichten.

Das käme uns erstens billiger, zweitens könnte niemand mehr in Versuchung geraten, fremde Länder anzugreifen, und drittens könnten wir uns stärker auf die wirklichen Probleme dieser Welt und bei uns im Land konzentrieren.
Und die Demonstrationen vor einer Woche gegen den Sozialabbau haben auf eine Menge solcher Probleme aufmerksam gemacht.
Deshalb ist auch der Appell der Friedensbewegung so wichtig: "Abrüstung statt Sozialabbau".

Frieden ist zwar nicht alles, aber, wie Willy Brandt seiner Zeit sagte, "ohne Frieden ist alles nichts". Und eine drastische Reduzierung der Militärausgaben wird nicht ausreichen, die sozialen Probleme dieses Landes zu lösen, aber es wäre ein kleiner Beitrag dazu und darüber hinaus ein wichtiges politisches Signal für die Zivilisierung der Außen- und Sicherheitspolitik.

Wir bleiben dabei:
Stoppt den Krieg - beendet die Besatzung - rüstet endlich ab!


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