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Die Antwort auf das Omnipotenz-Gebaren der USA darf nicht in einer Rivalität zwischen Europa und Nordamerika bestehen

Zwei Kommentare zum Bush-Schröder-Gipfel in Mainz

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Kommentare, die sich mit dem Besuch des US-Präsidenten in Europa vom 21. bis 24. Februar 2005 befassen.

Von Hans-Joachim Gießmann*

Nichts blieb dem Zufall überlassen. Jede Minute war ausgeplant, jede potenzielle Störung ausgespäht und prophylaktisch unterbunden. Die hermetische Abschottung des US-Präsidenten vor demokratischer Kritik an seiner Politik war perfekt organisiert, durch mehr als zehntausend Polizisten und Sicherheitskräfte und zu Lasten einer zeitweilig völlig lahm gelegten Region. Selbst der Ort war bewusst gewählt. Noch vor 16 Jahren hatte Vaterpräsident George Bush in Mainz der Bundesrepublik Deutschland eine »Führungspartnerschaft« angetragen.

Vor dem Hintergrund der Spannungen und Konflikte in der jüngeren Zeit sollte nun wohl an den »guten Geist von Mainz« angeknüpft werden. Dass die Bundesregierung im Vorweg und während des Treffens alles unternahm, um dem Präsidenten ausgerechnet jene Vorhaltungen zu ersparen, die ihr noch vor wenigen Jahren den überraschenden Verbleib im Amt bescherten, wundert kaum. George W. Bush ist gerade erst wiedergewählt worden und dadurch politisch gestärkt. Der seinerzeit durch die konsequente Kritik am Irakkrieg entfachte und mobilisierende Rückenwind für die rotgrüne Koalition ist mittlerweile verflogen. Innen-, sozial- und wirtschaftspolitisch mit dem Rücken zur Wand, wären deshalb gerade jetzt neue Erfolge wenigstens in der Außenpolitik hilfreich. Aber auch hier knirscht es, nicht nur wegen der aktuellen Visa-Affäre.

Die Zubilligung eines ständigen Sitzes mit Vetorecht im Sicherheitsrat der UNO ist mehr als ungewiss. Ohne Fürsprache durch die USA wäre das Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Kritischer noch: Die eigene Gestaltungskraft in der europäischen Politik scheint inzwischen, trotz eines engeren deutsch-französischen Schulterschlusses, durch die Spannungen im transatlantischen Verhältnis und das aufbegehrende Selbstbewusstsein kleinerer europäischer Staaten, die sich im jüngsten Streit auf die Seite der USA geschlagen hatten, ernsthaft beeinträchtigt.

Insofern verschleiert den Kern, wenn im politischen Berlin mitunter großmütig unterstellt wurde, man lege jetzt »Differenzen« ad acta, weil sich Partner in schwieriger Zeit helfen und künftige Herausforderungen gemeinsam meistern sollten. Die Bundesregierung geht über Vergangenes jetzt vor allem deshalb hinweg, weil ihr die einstigen »Differenzen« heute, anders als früher, politisch mehr schaden als nutzen. Dabei wird aus pragmatischem Kalkül ignoriert, dass die Bush-Regierung in der Sache bisher keinen Fußbreit von ihrer auf anmaßendes Faustrecht gestützten Politik abgerückt ist. Nur beigelegte Differenzen?

»Alle Optionen« blieben auf dem Tisch, ließ George W. Bush immer wieder wissen. Fakten unterstützen das Bild: Keine Abkehr vom Konzept des Präventivkrieges, kein Verzicht auf die Drohungen gegen den Iran oder Syrien, keine Initiativen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung, keine Anerkennung des Strafgerichtshofes und des Kyoto-Protokolls. In seiner ersten Amtshandlung beantragte der wiedergewählte Präsident stattdessen einen neuen Rekordhaushalt für das Pentagon. Helmut Schmidt hat Recht: Der Wolf, der nur Kreide frisst, bleibt immer ein Wolf.

Wer vor dieser Lektion die Augen verschließt, übernimmt unweigerlich Mitverantwortung für die Folgen. Die Haltung des »Schwamm drüber« gewährt keine wirklich verlässliche Partnerschaft. Sie bietet auch keinen Schutz gegen neue Kriege, wenn dies der Bush-Regierung, nun befreit von der Kritik ihrer Verbündeten, in den kommenden Monaten opportun erschiene. Unter diesen Vorzeichen ist die nächste Krise nur eine Frage der Zeit.

* Prof. Dr. Hans-Joachim Gießmann ist Stellv. Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Aus: Neues Deutschland, 25. Februar 2005 (Rubrik: "Brüsseler Spitzen")



Schaumschläger und Querschläger

Gerhard Schröder sucht die Welt des 21. Jahrhunderts

Von Lutz Herden*


Die NATO ist wahrscheinlich das eindrucksvollste Bündnis in der Geschichte der Menschheit", teilte Donald Rumsfeld jüngst der Münchner Sicherheitskonferenz mit. Der oberste Dienstherr dieses Ministers schien während seiner Europa-Tour peinlich darauf bedacht, den Griff nach dem historischen Superlativ nicht als bedauerlichen Fall von akutem Realitätsverlust zu entschuldigen, sondern mit pathetischen Floskeln zu segnen, wo immer sich Gelegenheit dazu bot. Nie zuvor in der Ära Bush ist die westliche Allianz so hofiert worden wie in den vergangenen Tagen. Sobald der Präsident den Arm hob und sein Weihrauch-Fässchen zu schwenken begann, wurde von einem neuen Zeitalter der transatlantischen Beziehungen schwadroniert, vom sehnlichen Wunsch Amerikas nach einem starken europäischen Partner, von der NATO als einem Glücksfall für die nach Freiheit und Demokratie dürstende Menschheit. Soviel Symbolik war selten, so wenig Substanz auch.

Der deutsche Kanzler schien sich dem nicht entziehen und bei seinem Treffen mit Bush verdrängen zu wollen, wie sehr ihn doch gerade erst die Frage umgetrieben hatte, ob die NATO in ihrem jetzigen Zustand nicht eher der Sinnstiftung bedürfe, anstatt sich von Beschwörungen einseifen zu lassen. Der Kernsatz seiner jüngst ebenfalls der Münchner Sicherheitskonferenz gewidmeten Rede lautete: "Die strategischen Herausforderungen liegen heute sämtlich jenseits der alten Beistandszone des Nordatlantik-Paktes. Und sie erfordern primär keine militärischen Antworten." Nennen wir es ruhig einen Lerneffekt. Denn ketzerischer ging es kaum, tut doch der Nordatlantikpakt genau das Gegenteil. Die NATO gibt "jenseits der alten Beistandszone" vorzugsweise oder ausschließlich militärische Antworten auf "strategische Herausforderungen". Sie nimmt es ergeben hin, dabei von den Amerikanern zur reinen Zweckallianz degradiert und nach der Rumsfeld-Formel behandelt zu werden: "Die Mission diktiert die Koalition".

Was also wollte Schröder, wenn er dieser Allianz abverlangte, was sie nicht leisten kann und mehrheitlich auch gar nicht leisten will? Der grüne Außenminister wusste es in München offenkundig nicht, geriet in einen Erklärungsnotstand und wiegelte ab: Der Kanzler habe ein Dialogforum im Blick, das sich über Kyoto ebenso wie den Internationalen Gerichtshof und die Todesstrafe verständigen solle. Das mochte glauben, wer zu vergessen bereit war, dass Schröder sein "Grand Design" für eine andere NATO genau eine Woche vor dem Bush-Besuch in Europa entworfen hatte und damit rechnen musste, von keinerlei Mutmaßungen verschont zu bleiben. Dachte er vielleicht daran, die NATO dem amerikanischen Unilateralismus zu entziehen, um sie stattdessen den multilateral eingestellten Europäern als politisches Instrument anzubieten? Ein solches Bündnis, das auf die berühmten "strategischen Herausforderungen" des Westens vorrangig keine militärischen Antworten geben will, hätte für George Bush den Charme eines versprengten Trupps aus der Heilsarmee und wäre für die Vereingten Staaten somit überflüssig.

Da Schröder Real-Politiker ist und ein populistischer dazu, wird er an eine NATO ohne die USA nicht ernsthaft gedacht haben, auch wenn es ein wenig so klingen sollte. Schließlich war absehbar, dass George Bush bei seinem Europa-Besuch den Vorbeter der atlantischen Eintracht geben würde - warum dann aus lauter Vorfreude nicht ein wenig Zwietracht säen? Warum nicht in Europa das Bewusstsein dafür schärfen, dass eine Rückkehr zum transatlantischen Status quo, wie er vor dem 11. September 2001 bestand, endgültig vom Tisch ist. Warum nicht mit dieser Gewissheit im Nacken, ein transatlantisches Verhältnis anpeilen, in dem sich die Europäische Union als Machtblock etabliert - jenseits der NATO, aber auch mittendrin? Warum nicht den Amerikanern eine Partnerschaft in Aussicht stellen, die einen Gegenpol nicht ausschließt, der zu mehr Interessenausgleich zwingt? Es sei ausdrücklich gesagt, dies sind rein spekulative Erwägungen, um Schröders Münchner Diskurs mit einem Blick in die transatlantische Zukunft anzureichern - einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik unterstellen sie nicht. Ganz im Gegenteil. Auch die EU ist mit dem Aufbau ihrer sogenannten "Verteidigungsidentität" bisher den Beweis schuldig geblieben, auf die "strategischen Herausforderungen" unserer Zeit "primär keine militärischen Antworten" geben zu wollen. Alle Vorkehrungen, sich weltweit als sicherheitspolitischer Akteur in Szene zu setzen, bezeugen das Gegenteil. Sie folgen einem eindeutig interventionistischen Motiv, die Sicherheit Europas notfalls am Hindukusch, in der Sahara oder wo auch immer verfechten zu wollen.

Davon abgesehen kann die Antwort auf das unipolare Omnipotenz-Gebaren der USA nicht in einer bipolaren Rivalität zwischen Europa und Nordamerika bestehen. Eine solche Antwort geben zu wollen, hieße die Welt des 21. Jahrhunderts gründlich verkennen, in der China, vermutlich auch Indien und Brasilien vor geopolitischen Aufbrüchen stehen, die unser heutiges Vorstellungsvermögen sprengen.

Europa jedenfalls wird bald vorführen dürfen, ob es sich vom neuen Glanz im transatlantischen Miteinander blenden lässt oder nicht - der Umgang mit dem Iran wird Anlass genug sein. Wenn Bush während seiner Tour auf das "Regime der Tyrannen" zu sprechen kam, entglitt ihm für zwei, drei Sätze der balsamierende Dinner-Ton seiner Reden - dann wurde er fanatisch und direkt.

* Aus: Freitag 08, 25. Februar 2005


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