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Prozesse gegen Friedensbewegte

Interview mit Elke Steven*

Ende Juli 2000 wurde Tobias Pflüger von einem Tübinger Gericht von der Anklage freigesprochen, während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien Soldaten zur Desertion aufgerufen und sich damit strafbar gemacht zu haben. Das war eines der selteneren Urteile in einer ganzen Reihe von Verfahren, die seit Monaten gegen friedensbewegte Menschen in der Bundesrepublik durchgeführt werden. Vor dem Landgericht Berlin gehen einige Prozesse jetzt in die Berufung. Die Zeitung junge welt sprach darüber mit einer prominenten Angeklagten. Wir dokumentieren das Interview:

* Dr. Elke Steven arbeitet im Komitee für Grundrechte und Demokratie und hat selbst Verfahren in Berlin und Bonn

Frage: Am 7. Juli gehen die Prozesse gegen die Unterzeichner des Aufrufs an alle Soldaten der Bundeswehr, ihre Beteiligung am Jugoslawien-Krieg zu verweigern, in die zweite Runde am Landgericht Berlin. Wie sind die Prozesse der ersten Instanz bisher gelaufen?

Elke Steven: 36 Kriegsgegnerinnen und -gegner standen inzwischen vor dem Amtsgericht Berlin, bei fünf weiteren stehen die Verhandlungen noch aus. Sieben wurden verurteilt, weil sie die Soldaten zu einer Straftat, nämlich zu »Fahnenflucht«, aufgerufen hätten. Zwei Richter sahen darüber hinaus - der Staatsanwaltschaft folgend - auch im Aufruf, den Gehorsam zu verweigern, eine Straftat. Ein Verfahren ist straflos eingestellt worden, weil der Angeklagte im Prozeß die Zahlung eines Bußgeldes an eine gemeinnützige Organisation akzeptierte. 28 Angeklagte wurden bisher freigesprochen. Obwohl alle Angeklagten die Richter und Richterinnen drängen, sich mit der Völkerrechts- und Verfassungswidrigkeit des Krieges zu beschäftigen, verweigern sich fast alle dieser Auseinandersetzung. Die meisten sprachen frei, weil sie eine extensive Auslegung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit zugunsten der Angeklagten in einer solch umstrittenen und wichtigen Frage für notwendig halten. Wenige meinten, daß den Angeklagten zumindest ein Verbotsirrtum zugebilligt werden müßte. Nur ein Richter äußerte sich eindeutig zu der Rechtswidrigkeit des Krieges und leitete daraus seinen Freispruch ab. Gegen alle Freisprüche legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein, ebenso wie alle Verurteilten.

F: Wie bewerten Sie die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese Prozesse?

Für alle Angeklagten ist die öffentliche Auseinandersetzung mit diesem konkreten Krieg, aber auch mit der schleichenden Militarisierung dieser Gesellschaft das zentrale Anliegen in diesen Prozessen. Die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber diesen Fragen ist jedoch dürftig, auch, wenn inzwischen sowohl über die Prozesse als auch über die Lügen im NATO- Krieg in manchen Medien berichtet wird. Eine breite Diskussion über diesen Krieg und die für die Zukunft notwendigen Konsequenzen findet allerdings nicht statt. Alle jetzt erst erscheinenden Informationen über den Krieg bestärken uns in unseren damaligen politischen Einschätzungen. Auch die Staatsanwaltschaft gibt inzwischen zu, daß die überwiegende Mehrheit der Völkerrechtler diesen Krieg für völkerrechtswidrig hält, was an der Strafverfolgung jedoch nichts ändert. Schließlich geht es um die Absicherung der Funktionsfähigkeit des Militärs. Ein Ziel, dem auch viele politische Entwicklungen wie die neue NATO-Doktrin der »Selbstmandatierung« für Einsätze out of area und die geplante Umstrukturierung der Bundeswehr zur Interventionsarmee dienen.

F: Nun sind die Prozesse in Berlin das eine, weitere Maßregelungen aber das andere ...

Die meisten Angeklagten haben in Berlin mehrere Verfahren, weil der Aufruf mehrfach verbreitet wurde. In einigen Fällen haben sich die Richter und Richterinnen für die weiteren Verfahren unzuständig erklärt, weil die Verbreitung nicht in Berlin stattgefunden hat, oder sie haben die Verfahren nicht verbunden. Drei der in erster Instanz Freigesprochenen haben nun einen Strafbefehl vom Amtsgericht Bonn erhalten, weil der Aufruf auch dort verbreitet wurde. Damit aber nicht genug. Die Berufung eines Informatikers auf eine Fachhochschulprofessur verzögerte sich aufgrund seines Strafverfahrens. Helmut Kramer, der Verteidiger einer Angeklagten, der als pensionierter Richter vom Amtsgericht als Verteidiger zugelassen wurde, erhielt von einem anderen Gericht die Information, daß gegen ihn wegen unerlaubter Rechtsberatung ermittelt wird.

F: Gibt es Signale dafür, wie die Prozesse in der zweiten Instanz ausgehen?

Die kleine Strafkammer des Landgerichtes Berlin umfaßt 17 Kammern. Also werden wieder viele Richter und Richterinnen mit den Verfahren beschäftigt sein. Jeweils zwei Schöffen werden an der Urteilsbildung ebenfalls beteiligt sein werden. So ist zu erwarten, daß es auch in dieser Instanz zu unterschiedlichen Urteilen kommen wird.

F: Der Richter im Prozeß gegen Volker Mergner soll diesen aber während der Verhandlung in Richtung Annahme eines Bußgeldes auch mit der Aussage unter Druck gesetzt haben, daß er ihn in jedem Fall verurteilen würde und auch das Landgericht schon signalisiert hätte, daß es alle bisherigen Freisprüche aufheben würde?

Das »Angebot« eines Bußgeldes scheint die neue Masche im Amtsgericht zu sein. Im Prozeß gegen Volker Mergner soll der Richter tatsächlich darüber hinaus beiläufig eine Aussage über die zu erwartende Rechtsprechung des Landgerichtes gemacht haben. Eine solche Aussage eines Richters ist prozeßwidrig und widerspricht der Unabhängigkeit der Kammern des Landgerichts. Vor allem verdeutlicht diese Aussage die Befangenheit dieses Richters. Auch wegen solcher Vorkommnisse ist es wichtig, daß möglichst viele Bürger und Bürgerinnen bei diesen Prozessen präsent sind. Öffentlichkeit übt eben auch Kontrolle über das Verhalten der Richter aus und stärkt die Angeklagten.
Interview: Annett Bartl

Eine ausführliche Bilanz und Analyse der Prozesse von Roland Roth

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