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Neues über den ABM-Vertrag

Am 10. Februar 2000 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung zwei Artikel aus prominenter Feder über die Auseinandersetzung um den ABM-Vertrag. Wir dokumentieren die Beiträge.

Igor Sergejew

Der ABM-Vertrag, den die UdSSR und die USA 1972 in der schärfsten Phase des Kalten Krieges geschlossen haben, machte es möglich, mit der Reduzierung und Begrenzung der strategischen Offensivwaffen zu beginnen. Dieser Vertrag dient nun bereits seit mehr als 25 Jahren als Grundlage des Abrüstungsprozesses. Heute ist er bedroht. Die Umsetzung des vom US-Präsidenten unterzeichneten Gesetzes über das "nationale Raketenabwehrsystem" kann die Destabilisierung der militär-strategischen Lage beschleunigen. Eines der wichtigsten Motive für das US-Projekt ist laut den amerikanischen Politikern die Gefahr, dass einige Staaten einen Schlag mit interkontinentalen ballistischen Raketen (IBM) gegen das Gebiet der USA führen könnten. Diese Bedrohung wird mit den Ergebnissen einer angeblich genauen Analyse der Raketenprogramme Nordkoreas, Irans und des Iraks verknüpft. Grundziel dieser Länder sei es, so wird behauptet, auf die Vereinigten Staaten Druck auszuüben und sie zu erpressen.

Die genannten Staaten besitzen jedoch gar nicht die dafür notwendigen finanziellen, wissenschaftlichen und technologischen Mittel. Sie dürften kaum in der Lage sein, in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine strategische ballistische Rakete zu entwickeln, die das Gebiet der USA erreichen könnte. Sogar die Supermächte - die Sowjetunion und die USA - brauchten seinerzeit im Regelfall zehn bis 15 Jahre, um Raketen dieser Klasse herzustellen. Sie erreichten dieses Ziel nur dadurch, dass sie immense Anstrengungen darauf konzentrierten. Hinzu kommt: Für eine nukleare Erpressung oder für Terrorakte braucht man heute keine strategischen Raketen. Es gibt weit unkompliziertere und kostengünstigere Mittel. Gegen diese wird das nationale Raketenabwehrsystem der USA trotz seiner enormen Kosten unwirksam sein.

Ein anderes Argument Washingtons für das Abwehrsystem ist die Möglichkeit, dass es zu zufälligen oder nicht genehmigten Starts interkontinentaler Raketen kommen könnte. Seit Ende der 50er Jahre, als die ersten Raketensysteme in den Armeen eingeführt wurden, hat es jedoch noch nie derartige Starts gegeben. Dies beweist, dass das derzeitige System zur Verhinderung solcher gefährlicher Situationen wirksam ist.

Letztendlich behaupten die USA, dass das nationale Raketenabwehrsystem die Verbreitung der Raketen und Raketentechnologien eindämmen würde. Washington stellt sich vor, dass die "Drittländer" ihren Plan, eigene Raketen zu entwickeln, aufgeben, wenn sie erfahren, dass die USA einen "Raketenschirm" besitzen. Die Geschichte der ballistischen Raketen in einigen Staaten lehrt jedoch etwas anderes: Diese Waffen wurden nicht etwa deshalb entwickelt, weil die USA kein Abwehrsystem hatten, sondern wegen der Konflikte, die in einigen Regionen bestehen. Das Bestreben, ihren regionalen Status aufzubessern und sich in Streitfragen durchzusetzen, veranlasste die genannten Staaten, Raketensysteme zu schaffen.

In Wirklichkeit neigen viele Spezialisten zu der Schlussfolgerung, dass der Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems nur sinnvoll ist, wenn es der Bekämpfung der strategischen ballistischen Raketen Russlands dient. Diese Schlussfolgerung wird im Grunde auch durch einen Bericht des Geheimdienstausschusses des amerikanischen Kongress bestätigt, der im Internet verbreitet wurde. Er analysiert die Bedrohung der USA durch Raketenschläge für den Zeitraum bis 2015.

Die Ausführungen über den "begrenzten" Charakter des nationalen US-Raketenabwehrsystems verschleiern den Kern des Problems. Dieses System umfasst Kampflenkung, Informationsmittel und Waffen. Damit es alle US-Staaten schützen könnte - und dafür soll es ja gebaut werden -, muss es von seiner Informationsinfrastruktur und seinen Kampflenkungssystemen her so angelegt sein, dass es einen Raketenschlag aus einer beliebigen Richtung gegen einen beliebigen Teil des Landes abwehren kann. Der Aufbau und die Verbindung der genannten Komponenten sind entscheidend für die Entfaltung eines Raketenabwehrsystems eines Landes, unabhängig von dessen Größe. Die beiden Komponenten bestimmen die Möglichkeiten eines solchen Abwehrsystems. Wenn sie erst einmal aufgebaut sind, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Waffenbestand des Abwehrsystems so erhöht wird, dass wesentlich mehr Gefechtsköpfe strategische ballistischer Raketen abgefangen werden können. Die Voraussetzungen hierzu werden bereits heute geschaffen - dem US-Abwehrsystem wird die Fähigkeit zu Grunde gelegt, sein Potential zu erhöhen.

Solche Schritte in Richtung auf eine Konfrontation können aber sehr gefährliche Folgen für die gesamte Weltordnung nach sich ziehen. Wenn eine Seite beginnt, ein eigenes Raketenabwehrsystem zu schaffen und zu entfalten, dann wird die andere gezwungen, ihre Waffen zu verbessern. Und dies betrifft nicht nur die strategischen Offensivwaffen, sondern auch jene Waffen, die zu deren erfolgreichen Anwendung beitragen.

Im Ergebnis wird es notwendig werden, die Verteidigungsmittel auf einen qualitativ neuen Stand zu bringen. Diese wechselseitige Reaktion wird sich hoch schaukeln und das Wettrüsten stimulieren. Wenn man berechnet, dass einige Elemente des US-Abwehrsystems im Weltraum stationiert werden sollen, dann wird das Wettrüsten unvermeidlich auch auf diesen Bereich übergreifen. Der Aufbau des landesweiten Raketenabwehrsystems in den USA und die anschließende Ruinierung des ABM-Vertrags werden die Nichtweitergabe von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln erschweren. In diesem Zusammenhang ist es umso notwendiger, den ABM-Vertrag zu erhalten, weil der US-Senat den Vertrag über das allgemeine Nukleartestverbot nicht ratifiziert hat.

Schon heute ist das Streben der nuklearfreien Staaten erkennbar, Atomwaffen zu besitzen. Die Umsetzung der US-Pläne wird unweigerlich dazu führen, dass die Kontrolle über die Verbreitung der Raketen und Raketentechnologien zusammenbricht. Der "Club" der Raketen- und Nuklearstaaten wird damit größer werden. Und in den Beziehungen zwischen den Großmächten wird sich der Schwerpunkt darauf verlagern, einander entgegenzuwirken. Die Großmächte werden von der Ausrichtung auf die Zusammenarbeit abgehen. Darüber hinaus könnten neue Blockstrukturen unter denjenigen Staaten entstehen, die die Einstellung der USA im Bereich der strategischen Waffensysteme nicht teilen.

Russland wird Gegenmaßnahmen treffen müssen, um seine nationale Sicherheit zu gewährleisten. Heute betreibt es einen festen und konsequenten Kurs zur Bewahrung des ABM-Vertrags. Unsere Haltung beruht auf der überzeugung, dass die erprobten Mittel zur Aufrechterhaltung der strategischen Stabilität bei weitem noch nicht ausgenutzt sind und es keinen Grund gibt, sie abzulehnen. Große Chancen liegen aus unserer Sicht in den internationalen Strukturen, die dazu dienen, die Nichtweitergabe der Massenvernichtungswaffen und deren Trägermittel durchzusetzen.

Ein riesiges positives Potential liegt zweifellos der Idee zu Grunde, ein globales Kontrollsystem für die Nichtweitergabe der Raketen und Raketentechnologien aufzubauen, die der Präsident Russlands, Boris Jelzin, in Köln unterbreitet hat. Die Pläne der Vereinigten Staaten, das durch den ABM-Vertrag verbotene nationale Raketenabwehrsystem aufzubauen, lösen dagegen Besorgnis in vielen Ländern der Welt aus. Diese Besorgnis wird noch verstärkt durch die überprüfung des Entschließungsentwurfs über die Erhaltung und Einhaltung des ABM-Vertrags im Ersten Ausschuss der UN-Generalversammlung. Den Entwurf haben Weißrussland, Russland und China vorgeschlagen. Die Annahme der Entschließung durch eine beeindruckende Anzahl großer und angesehener Staaten zeigt überzeugend, dass die Haltung richtig ist, den ABM-Vertrag zu schützen.

William Cohen

Militärs bereiteten sich lieber auf vergangene Schlachten vor, so lautet ein oft zu hörender Vorwurf, als sich herauf ziehenden Gefahren zu stellen. Aber heute sind wir neuen Bedrohungen ausgesetzt, die tatsächlich neue Ansätze erfordern. Deshalb entwickeln die Vereinigten Staaten ein begrenztes nationales Raketenabwehrprogramm, das Sicherheit und Stabilität erhöhen soll.

Das vorgeschlagene System richtet sich nicht gegen Russland. Der Kalte Krieg ist vorbei. Jahrzehntelang standen sich amerikanische und sowjetische Soldaten im geteilten Berlin gegenüber, heute schaffen amerikanische und russische Soldaten in Bosnien und im Kosovo Seite an Seite Frieden. Als sie noch Gegner waren, haben die USA und die UdSSR jeweils mehr als 10 000 strategische Nuklearwaffen hergestellt; nun arbeiten sie zusammen daran, ihre Arsenale weiter zu verkleinern. Die USA sahen in der Sowjetunion ihre größte militärische Bedrohung; heute gilt unsere Sorge Rüstungsprogrammen im Irak, in Iran, Nordkorea und anderen Schurkenstaaten, die weltweit Frieden und Sicherheit gefährden. Sie sind darauf aus, nukleare, chemische und biologische Waffen herzustellen oder zu kaufen - ebenso wie Raketen, die diese dann ans Ziel bringen sollen.

Für Amerika und Europa zeichnet sich eine eindeutige und ernsthafte Bedrohung durch Raketen in den Händen von Schurkenregimen ab. Nordkorea baut - und verkauft - ballistische Raketen. Es hat ein Arsenal von chemischen und biologischen Waffen angelegt und hat Anstrengungen unternommen, nukleares Potential zu entwickeln. Nordkorea hat die Taepo-Dong-2-Rakete entwickelt. Diese kann das Territorium der USA erreichen und zwar jederzeit.

Iran kauft - und entwickelt - ballistische Raketen. Er hat eine Kurzstreckenrakete vom Typ Sharab-3 getestet; innerhalb eines Jahrzehnts könnte Teheran eine Rakete testen, die in der Lage ist, alle wichtigen Städte Europas zu erreichen. Iran besitzt Chemiewaffen, und er beabsichtigt, ein nukleares und biologisches Potential aufbauen.

Waffeninspekteuren der Vereinten Nationen zufolge hat der Irak vor dem Golfkrieg Raketensprengköpfe mit chemischen und biologischen Waffen bestückt. Zudem war er kurz davor, ein Nuklearpotential zu schaffen. Die UN-Sanktionen haben die irakische Entschlossenheit verlangsamt, Massenvernichtungswaffen herzustellen. Gestoppt haben sie diese aber vermutlich nicht.

Unsere traditionelle Abschreckung basiert auf der Fähigkeit , einen verheerenden Schlag gegen jedes Land zu starten, das Massenvernichtungswaffen gegen die USA, ihre Verbündeten oder ihre im Ausland stationierten Truppen einsetzt. Eine solche Abschreckung hat gegen die Sowjetunion funktioniert, deren Führer rational dachten und risikoscheu waren. Gegen Schurkenstaaten, deren Führern das Wohlergehen ihrer Völker einerlei ist, muss dies nicht der Fall sein.

Irak, Iran und Nordkorea benötigen keine Langstreckenraketen, um ihre Nachbarn einzuschüchtern. Sie wollen sie , um weiter entfernte Staaten in Nordamerika und Europa zu nötigen und zu bedrohen. Sie gehen offenbar davon aus, dass schon eine kleine Zahl von Raketen, gegen die wir uns nicht wehren können, genügt, um unser Handeln in einer Krise zu beeinflussen.

Um dieser Bedrohung entgegen zu treten, haben sich die Vereinigten Staaten für ein vielschichtiges Vorgehen entschieden. Führer von Schurkenstaaten sollen nicht glauben dürfen, dass sie die USA durch Erpressung davon abhalten können, ihre Interessen zu wahren. Das schließt die Verpflichtungen gegenüber unseren Verbündeten ein. Unsere erste Verteidigungslinie gegen diese Bedrohungen ist der Erhalt einer robusten konventionellen und atomaren Abschreckung. Die USA verfolgen außerdem aktiv eine kompromisslose Politik der Nichtverbreitung (von Nuklearwaffen) und der Rüstungskontrolle. Und wir entwickeln ein begrenztes Raketenabwehrprogramm, das, sobald es voll einsatzfähig ist, alle 50 US-Bundesstaaten vor kleinen Angriffen durch vielleicht zwei Dutzend Sprengköpfe schützt.

Präsident Clinton wird im Verlauf des Jahres eine Einsatzentscheidung fällen müssen. Zuvor wird er folgende Punkte bedenken: die Bedrohung, die technische und finanzielle Machbarkeit, das allgemeines strategische Umfeld, einschließlich der Zielsetzungen in der Waffenkontrolle. Er wird auch die Positionen unserer Alliierten und die russische Bereitschaft abwägen, den ABM-Vertrag zu modifizieren. Eines sollte klar sein: Die von den USA angedachte begrenzte Verteidigung richtet sich nicht gegen russische Kräfte, berührt nicht das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland und würde Russland nukleare Abschreckung nicht schwächen. Drei Aspekte unseres Plans demonstrieren dies:
  • Erstens wäre das von uns vorgeschlagene System zu klein, um die nukleare Streitmacht Russlands zu besiegen oder seine strategische Abschreckung zu unterminieren. Russland hat heute etwa 6000 strategische Atomwaffen. Selbst nach den russischen Vorschlägen für eine zukünftige strategische Reduzierung würden ihm 1500 bleiben, mehr als genug, um das kleine System zu überwältigen, das wir vorbereiten. Solch ein System gäbe Moskau keinen Anlass, seine nuklearen Streitkräfte auszubauen, oder eine weitere Abrüstung im Rahmen des START-Abkommens zu behindern.
  • Zweitens haben wir den Russen klar gemacht, dass wir mit ihnen bei der Anpassung des ABM-Vertrages von 1972 eng zusammenarbeiten wollen. So möchten wir der russischen Sorge entgegen treten, dass wir die Raketenverteidigung in Zukunft drastisch erhöhen könnten. Der Vertrag erlaubt begrenzte Verteidigung. In der Tat verfügt Russland über ein solches System, das um Moskau herum gruppiert ist. In dem Vertrag ist auch die Möglichkeit vorgesehen, neuen strategischen Realitäten durch Zusätze Rechnung zu tragen, wenn beide Seiten damit einverstanden sind. Wir haben vorgeschlagen, den Vertrag anzupassen, um uns in die Lage zu versetzen, ein begrenztes System zu stationieren. Es soll sich in den Rahmen der Rüstungskontrollstruktur fügen, auf den sich Washington und Moskau verständigt haben. Unser Vorschlag ist weit davon entfernt, den ABM-Vertrag zu unterminieren. Im Gegenteil: Er würde seine weitere Lebensfähigkeit garantieren und den ABM-Vertrag als einen Grundpfeiler der strategischen Stabilität erhalten.
  • Drittens haben wir den Russen gesagt, dass wir mit ihnen in einer Reihe von Projekten kooperieren wollen - mit spürbarem Nutzen für die Sicherheit unserer beiden Länder. Wir glauben, dass Massenvernichtungswaffen in Nordkorea, Irak und Iran potentiell Russland genau so bedrohen wie uns. Die USA und Russland haben sich darauf verständigt, Frühwarninformationen über Raketenstarts auszutauschen. Wir haben gemeinsame Forschung zur Entwicklung einer neuen Generation von Satelliten vorgeschlagen, die den Start von Raketen melden, und wir helfen Russland bei der Finanzierung eines großen Frühwarnradars in Sibirien.

Die USA bemühen sich außerdem um Stabilitätssicherung, indem sie versuchen, die Verbreitung von Raketentechnologie und Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Es liegt eher im Interesse Russlands und Chinas mit uns bei dieser Anstrengung zusammenzuarbeiten als gefährliche Waffentechnologie zu exportieren und ein begrenztes nationales Verteidigungssystem abzulehnen. Angesichts der neuen Bedrohungen würde ein begrenztes Raketenabwehrsystem Abschreckung und Stabilität fördern. Ein Amerika, das sich seiner eigenen Verteidigung gewiss ist, wird in der besten Position sein, auch seine Verbündeten zu verteidigen. Ein kooperatives Herangehen an die nationale Raketenverteidigung und den ABM-Vertrag wird bleibenden Nutzen für die globale Sicherheit bringen.
(Aus dem Amerikanischen von Daniel Brössler)

Siehe hierzu Presseerklärung und Stellungnahme der Naturwissenschaftler-Initiative

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