Die hohle Zeit
Von Uri Avneri *
EHUD OLMERTS RÜCKTRITTSREDE hörten wir auf dem Heimweg von einer
Demonstration.
Wir hatten wegen des Todes von Ahmad Moussa, eines zehnjährigen Jungen,
protestiert. Er wurde auf einer Demonstration gegen den Trennungszaun im
Dorf Na'ilin getötet. Es ist derselbe Trennungszaun, der das Dorf des
Großteils seiner Ländereien beraubt, um sie der benachbarten Siedlung
hinzu zu fügen. Ein Soldat hatte mit seinem Gewehr gezielt und den
Jungen aus kurzer Entfernung erschossen.
Die Demonstranten standen unter dem Fenster der Wohnung des
Verteidigungsministers in den luxuriösen Akirov-Towers in Tel Aviv und
riefen: "Ehud Barak, Verteidigungsminister, wie viele Kinder hast Du bis
heute getötet?
Kurz darauf sprach Olmert von seinen außerordentlichen Anstrengungen,
Frieden zu erreichen, und versprach, sie bis seinem letzten Moment im
Amt fortzusetzen.
Beide Ereignisse - die Demonstration und die Rücktrittsrede - sind
miteinander verbunden. Zusammen ergeben sie ein getreues Bild dieser
Zeit: Friedensreden schweben durch den Äther und auf dem Boden der
Tatsachen geschehen Abscheulichkeiten.
ICH WERDE MICH NICHT in den Chor der Helden-Danach einreihen, die sich
jetzt auf Olmerts politische Leiche stürzen, um sie zu zerfleddern.
Es ist kein erfreulicher Anblick. Ich habe so etwas schon mehrmals im
Leben gesehen und es ekelt mich jedes Mal aufs Neue.
Dies ist keine besonders israelische Erscheinung. Man kann in der
Geschichte wie in der Literatur dafür Beispiele finden: "Aufstieg und
Fall von..."
Es ist eine alte Geschichte. Die Leute kriechen vor ihrem Helden im
Staub. Die Machtgierigen und Profithungrigen tanzen um ihn herum. Die
Hofdichter und Hofnarren singen zu seinem Ruhm, und ihre modernen
Nachfolger - die Medienleute - übernehmen das Lobpreisen. Und plötzlich
fällt er vom Podest und wird erbarmungslos zertrampelt.
Es ist dieselbe Gemeinde, die Moshe Dayan nach dem Sechs-Tage-Krieg zum
Gott erhob, die nach dem Yom-Kippur-Krieg sein Denkmal in tausend Stücke
schlug. Die Gemeinde, die nach Jahren grenzenloser Schmeichelei und
Unterwürfigkeit David Ben Gurion mit Füßen trat, die Golda Meir fallen
ließ, nachdem sie ihr vorher in blinder Ergebenheit gefolgt war. Sicher,
ich habe alle drei auf dem Höhepunkt ihrer Macht bekämpft, aber das
Über-sie-herfallen des politischen Mobs nach ihrem Abstieg ist einfach
ekelhaft.
So ist es auch diesmal. Ich bin nie dem Charme Ehud Olmerts verfallen.
Ich beobachte ihn, seit er die politische Bühne betrat, bis hin zu
seiner Rücktrittserklärung. Ich habe nichts an ihm gefunden, was meine
Bewunderung erregen könnte. Jetzt aber, wenn ich all die Beschimpfungen
sehe und höre, die sich über ihn ergießen, aus den Mündern derer, die
ihn erst gestern noch in den Himmel hoben, möchte ich lieber anderswo
hinsehen. Das Recht, ihn zu kritisieren haben nur die, die ihn all die
Jahre bekämpft haben.
ER IST EIN KOMPLETTER Politiker und sonst nichts. Kein Staatsmann. Keine
Führungspersönlichkeit. Kein Visionär. Nur ein politischer Techniker.
Intelligent. Ein recht glatter Redner. Ein Freund unter Freunden. Ein
Politiker, für den die Macht das Ziel ist, nicht ein Mittel, um ein Ziel
zu erreichen.
Das erste Mal traf ich ihn in der Knesseth vor fast 40 Jahren. Damals
war er der "Waffenträger" von Shmuel Tamir. Er trug ihm die Aktentasche
hinterher.
Davor war etwas geschehen, das ich als bezeichnend für den gesamten Weg
dieses ehrgeizigen Mannes sehe. Tamir, damals ein junger Abgeordneter
der Herut-Partei (heute Likud), dachte, es biete sich die Gelegenheit,
Menachem Begin zu stürzen und die Macht in der Partei an sich zu reißen.
Er versuchte, ihn während eines Parteitags zu stürzen, und für einen
Moment hatte es den Anschein, dies würde ihm gelingen. Damals war Begin
53 Jahre alt; er wirkte müde und erschöpft nach sechs verlorenen Wahlen
hintereinander. Der 21jährige Olmert nützte die Gelegenheit und hielt
auf dem Parteitag eine leidenschaftliche Rede gegen den legendären
Parteivorsitzenden.
Er hatte sich aber verrechnet. Begin schüttelte alle Müdigkeit von sich
und schlug die Meuterer vernichtend. Sie wurden in Schande aus der
Partei verwiesen. Olmert blieb bei der kleinen Fraktion um Tamir, die
sich als moderate Partei präsentierte. Sie machten sich lustig über die
nationalistischen Parolen der Herut-Partei ("Zwei Ufer hat der Jordan,
beide gehören uns.") und fügten sich so in die Frieden suchende
Stimmung im Land zu der Zeit. Als aber der Sechs-Tage-Krieg ausbrach und
die Stimmung sich um 180 Grad drehte, war es Tamir, der die Parole
prägte: "Befreites Land wird nicht zurück gegeben". Ohne mit der Wimper
zu zucken, wurde Olmert, der Moderate zu Olmert, dem Extremen.
In der kleinen Partei voller Führungspersönlichkeiten aber war sein Weg
auf der Karriereleiter voller Hindernisse. Es verging nicht viel Zeit,
da spaltete er sie und wurde die Nummer Zwei in einer noch kleineren
Partei. Auch die spaltete er, um den greisen Eliezer Shostak an ihrer
Spitze loszuwerden. Die Ereignisse grenzten an eine Farce: Olmert lief
mit dem Partei-Stempel davon.
Vor den Wahlen 1973 kehrte Olmert zum Likud zurück und wurde endlich auf
dem Listenplatz Nr.24 seiner Partei in die Knesseth gewählt. Vorher war
er nicht faul gewesen: Er hatte Jura studiert und war zu Wohlstand
gekommen, nützte seine Verbindungen in der Knesseth und in den
Korridoren der Regierung zum Vorteil seiner Klienten. Damals entwarf und
perfektionierte er das System des Nützens der Verbindungen von Macht und
Geld, das ihn seither begleitete und schließlich zu seinem Fall führte.
In der Knesseth suchte der junge Abgeordnete ein Thema, das
Aufmerksamkeit erregen könnte. In jener Zeit erfand die Presse das
"organisierte Verbrechen", lange bevor es tatsächlich in Erscheinung
trat. (Jemand machte sich damals darüber lustig: "Hier im Land ist gar
nichts organisiert, warum sollte ausgerechnet das Verbrechen organisiert
sein?") Olmert dachte, er könne gut auf dieser Welle reiten. Er hielt
begeisterte Reden, wedelte mit Papieren im Stil von Joe McCarthy,
präsentierte sich als mutiger Verfolger der Verbrecher und bekam viel
öffentliche Aufmerksamkeit. Es war eine Vorstellung mit nichts dahinter.
Auch die höheren Ränge der Polizei sprachen davon, dass die Aktion rein
gar nichts zum Kampf gegen das Verbrechen beigetragen habe. Aber sie war
ein gutes Beispiel für das, was später als "Spin" bekannt wurde.
1977 KAM Menachem Begin an die Regierung. Es wäre ihm im Traum nicht
eingefallen, den, der ihm elf Jahre zuvor sozusagen den Dolch zwischen
die Rippen stoßen wollte, zu befördern. Neben anderen guten
Eigenschaften hatte Begin auch ein gutes Gedächtnis. Als Olmert sah,
dass seine Karriere in der Knesseth blockiert war, entschloss er sich
1993, einen Sprung von olympischen Ausmaßen zu wagen: Er kandidierte zur
Wahl des Bürgermeisters von Jerusalem.
Teddy Kollek war ein populärer Bürgermeister, aber schon alt und
erschöpft. Olmert besiegte ihn. Heute ist man sich generell einig, dass
er ein schlechter Bürgermeister war, die Stadt kam herunter, die Armut
in ihr wuchs, junge Leute wanderten ab und die palästinensischen Viertel
wurden auf eine Art und Weise vernachlässigt, die man nur noch kriminell
nennen kann. 1996 drängte Olmert den Ministerpräsidenten Benjamin
Natanyahu, den Tunnel, der von der Klagemauer ins moslemische Viertel
der Stadt führt, zu öffnen, was dann zu gewaltsamen Unruhen führte, in
deren Verlauf 17 Soldaten der israelischen Armee und fast 100
Palästinenser starben. Er hat nie auch nur ein Wort des Bedauerns
darüber geäußert. Er forcierte auch die Gründung der umstrittenen
Siedlung Har Homa zwischen Jerusalem und Bethlehem, die bis heute in der
arabischen Öffentlichkeit für gefährlichen Ärger sorgt. Alle Anschläge
der letzten Zeit wurden von jungen Leuten ausgeführt, die in den
arabischen Vierteln der Nachbarschaft von Har Homa aufgewachsen waren.
Olmert präsentierte sich als Judaisierer Jerualems und nationaler
Kämpfer ohne Furcht und Tadel.
Als er aber 1999 versuchte, die Führung im Likud zu erringen, wurde er
mit Leichtigkeit von Ariel Sharon besiegt und auf den Listenplatz Nr.32
der Partei verbannt (von 38 gewählten Abgeordneten). Die logische
Antwort darauf war, auf Sharons Trittbrett zu springen und ihn zu
drängen, den Likud zu verlassen, um "Kadima" zu gründen.
Die gewagte Aktion gelang dank seiner geschärften politischen Sinne.
Sharon machte ihn zur Nummer Zwei in "Kadima" und setzte ihn zum
Stellvertreter ein (als Trostpflaster dafür, dass er ihm nicht das
Finanzministerium, sondern nur das Industrie- und Handelsministerium
gegeben hatte). Damals schien dieser Titel bedeutungslos, doch als
Sharon einen Schlaganfall erlitt, besetzte Olmert geschwind den Sessel
des Ministerpräsidenten. Ein langer gewundener Weg hatte ihn zum Gipfel
geführt.
SHARONS ERBE war auch sein Gegenteil in fast jeder Hinsicht. Sharon war
ein ziemlich ungeschickter Politiker und ein schlechter Redner, aber
eine entschlossene Führungspersönlichkeit mit klarer politischer
Weltanschauung. Er hatte ein Ziel und verfolgte es kontinuierlich.
Olmert ist Politiker mit Leib und Seele, ein vollständiger Opportunist
und glattzüngiger Redner, ohne jegliches Charisma, ohne Vision.
Stattdessen wiederholt er das abgedroschene Mantra vom demokratischen
jüdischen Staat.
Als er in Folge von Sharons Schlaganfall versehentlich an die Spitze der
Regierung kam, versuchte er anfangs, wie dessen getreuer Nachfolger
auszusehen. Sharon wollte einen starken kompakten Staat, dem er die
Siedlungsblöcke einverleiben wollte, und beabsichtigte, die
verbleibenden arabischen Enklaven als hilflosen "Staat Palästina" übrig
zu lassen. Deshalb hat er die "Trennung" vom Gazastreifen durchgeführt.
Olmert versprach, eine ähnliche Aktion in der Westbank durchzuführen,
ließ aber schnell die Finger davon. Im Laufe seiner
Ministerpräsidentschaft tauchten in Schwindel erregender Geschwindigkeit
grandiose Pläne auf und verschwanden in der Versenkung, jeder davon
diente als etwas Brennstoff, um sein "Spin"-Rad am Laufen zu halten.
Seine Inkompetenz als Führer und Kommandeur bewies er schon kurz nach
seiner Wahl an der Spitze von "Kadima". Der Krieg im Libanon war ein
desaströser Skandal, Die Medien, die ihm begeistert zujubelten, stürzten
sich nach vollbrachter Tat auf ihn wegen "fehlerhafter Führung" des
Krieges, ignorierten aber seinen Haupt-Fehler: Er war ohne klares Ziel,
ohne politische oder militärische Strategie in den Krieg gezogen.
So groß seine Unfähigkeit als Staatsmann und Kommandeur ist, so groß ist
sein Talent als Politiker und Überlebenskünstler. Die Tatsache, dass er
sich noch zwei Jahre nach solch einem monumentalen Bankrott an der
Regierung gehalten hat, zeigt sein politisches Talent, aber auch, wie
armselig das politische System in Israel ist.
Nach dem Krieg brauchte er dringend ein neues Pferd, um weiter zu
kommen. Er nahm den "politischen Prozess" - die Verhandlungen mit den
Palästinensern, dann auch mit den Syrern.
Diese Wahl ist von Bedeutung: Seine feine politische Nase roch, dass
dies jetzt die wirklich populäre Sache ist: Nicht das Größere Israel,
nicht die Siedlungen, sondern Friedensverhandlungen und "zwei Staaten
für zwei Völker" - außerdem ist es auch in den USA und Europa populär.
Diese Woche beklagten arabische Führungspersönlichkeiten, "der
politische Prozess wird wieder vom ersten Mosaiksteinchen beginnen". Das
ist ein Irrtum. Der Prozess ist nie über das erste Mosaiksteinchen
hinaus gekommen. Er war hohl, leer, ohne Inhalt, alles nur ein "Spin".
Olmert hat im Traum nicht daran gedacht, einen wirklichen Schritt in
Richtung Frieden zu tun. "Der Prozess" kam an Stelle des Friedens. Die
Idee der "Übereinkunft in der Schublade" kam anstatt eines wirklichen
Friedensabkommens. Es gab nie auch nur die geringste Chance, dass Olmert
es gewagt hätte, sich mit den Siedlern anzulegen.
Die Ära Olmert zusammengefasst: Es wurde nicht auch nur der kleinste
wirkliche Schritt in Richtung Frieden getan. Das historische arabische
Friedensangebot wurde begraben. Die säkulare friedensbereite
palästinensische Führung wurde zerstört, so wurde der Weg für die
Herrschaft der Hamas im Gazastreifen bereitet, vielleicht auch in der
Westbank. Von den Siedlungen wurde nicht eine Hütte abgebaut, die
Siedlungen sind überall erweitert worden.
In einer Sache ähnelt Olmert Sharon: Beide lieben das Geld fast so sehr
wie die Macht (wie auch Natanyahu und Barak es tun). Beide pflegten ihre
Verbindungen zu Milliardären. Hinter beiden politischen Karren zieht
sich ein schlammiger Klumpen von Korruption den ganzen Weg entlang.
Sharon hat das nicht geschadet. Er strahlte Führerschaft aus, und die
Skandale konnten ihm nicht wirklich schaden. Er war stark genug, sein
breiter Rücken hat es ausgehalten. Den zerbrechlicheren Olmert hat es
umgeworfen.
Am Ende ist er gefallen - nicht wegen des kriminellen Krieges, nicht
wegen mangelnder Ernsthaftigkeit im Streben nach Frieden, nicht wegen
der Ernennung eines Mannes zum Justizminister, der beabsichtigt, die
Rechtsprechung im Land zu zerstören, sondern wegen geldgefüllter
Umschläge und Gratisreisen.
WENN IN FERNER ZUKUNFT Historiker die Ära Olmert in der Geschichte
dieses Staates zu bewerten versuchen, - werden sie nur ein Wort finden,
das diese Zeit treffend zusammenfasst. Es ist das Wort, das der
Schriftsteller David Grossmann in ähnlichem Zusammenhang wählte: Hohl.
Es war eine hohle Zeit. Ein Loch in der Zeit. Eine Ära ohne Bedeutung,
ohne Inhalt, leer (außer für all diejenigen, die dafür mit dem Leben,
mit Zerstörung und Ruin bezahlt haben).
Und es ist auch die Eigenschaft des Mannes Olmert selbst. Ein hohler
Politiker. Ohne Vision.
Wer die Schlagzeilen der letzten zwei Jahre durchgeht, findet dort zum
großen Teil Dramatisches. Viele Initiativen, viele Schlagwörter, viele
"Spins", viel heiße Luft. Und am Ende kommt das heraus: nichts.
Ein hohler Führer einer hohlen Partei in einem hohlen politischen System.
2. August 2008
Übersetzung aus dem Englischen: G. Weichenhan-Mer, vom Verfasser autorisiert.
* Quelle: Website von Uri Avnery: www.uri-avnery.de
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