Grenzerfahrung
Von André Widmer *
Einst lagen ihre Dörfer mitten in Aserbaidschan. Doch seit dem postsowjetischen Krieg um Berg-Karabach und dem Waffenstillstand von
1994 fanden sich Tausende Aserbaidschaner an einer Demarkationslinie
wieder, hinter der die armenischen Separatisten Stellung bezogen
hatten, um das von ihnen eroberte Territorium zu verteidigen. Es ist
ein Leben im Ausnahmezustand, in ständiger Angst, von einer Kugel
getroffen zu werden, und in der vagen Hoffnung, dass die internationale
Gemeinschaft ein Machtwort spricht.
Auf den ersten Blick unterscheidet
sich Tapqaraqoyunlu nicht
von anderen Dörfern in Aserbaidschan.
Gänse watscheln über
die ungeteerten Straßen, in den
Gärten gedeihen Granatäpfel.
Auf dem Dorfplatz stehen einige
Männer beisammen. Doch der
Alltag hier ist bis heute geprägt
von einem Krieg, der formal vor
17 Jahren zu Ende ging.
Tapqaraqoyunlu liegt direkt an
der Waffenstillstandslinie, die
den für die Aserbaidschaner so
verlustreichen Status Quo vorerst
festschrieb. 1991, im Zuge
der Auflösung der Sowjetunion,
hatte die mehrheitlich armenisch
bewohnte, aber als autonomes
Gebiet zu Aserbaidschan gehörende
Provinz Berg-Karabach ihre
Unabhängigkeit ausgerufen. Ein
blutiger Konflikt war die Folge, in
dessen Verlauf nahezu die gesamte
aserbaidschanische Bevölkerung
aus Berg-Karabach floh und die
Separatisten das Territorium ihrer
„Republik“ auf Kosten des Staates
Aserbaidschan mehr als verdoppelten.
Vermittlungen der OSZE
und Russlands führten bisher
zu keinem Friedensabkommen.
Trotz des 1994 geschlossenen
Waffenstillstands sterben entlang
der Demarkationslinie nach wie
vor Soldaten, aber auch Zivilisten.
Dafür geben sich beide Konfliktparteien
gegenseitig die Schuld.
Tapqaraqoyunlu zählt 2 626 Einwohner.
Besonders gefährlich
leben jene Dörfler, deren Häuser
sich direkt gegenüber den armenischen
Positionen befinden. So
wie Kamil Allahverdiyev (34). Zwischen
seinem Anwesen und dem
Wachposten der Armenier liegen
nur etwa 150 Meter Luftlinie. Auf
dem Weg zu Allahverdiyev gibt
der Fahrer Gas, um ungeschützte
Abschnitte möglichst schnell hinter
sich zu bringen. Der Hausherr
zeigt Einschusslöcher an Dach
und Wand; eine Mauer hat er aus
Sicherheitsgründen erhöht. „Jede
Nacht sind wir in Angst“, sagt
er. Dann kommt seine Mutter,
zeigt Rezepte für Medikamente,
die sie nach jedem Beschuss der
Armenier nimmt, um die Nerven
zu beruhigen. Allahverdiyev kennt
kaum ein anderes Leben: zuerst
der Krieg, seitdem ein Waffenstillstand,
der keiner ist. Er ging
noch zur Schule, als sein Ort zum
ersten Mal unter Beschuss geriet.
Warum geschossen wird? „Ich
weiß den Grund nicht.“
Der Bauer pflanzt Birnen, Äpfel,
Weintrauben und Nüsse an. Die
aserbaidschanische Regierung
habe zwar anderes Land angeboten,
dieses sei aber für Landwirtschaft
unbrauchbar, meint er. Ein
Wegzug aus dem Dorf kommt
für ihn nicht in Frage: „Das hier
ist unser Land.“ Man hat sich mit
den Gegebenheiten arrangiert.
Die Kinder kennen einen sicheren
Weg zur Schule, der zwischen
den Häusern hindurch führt. In
den Kellern wurden Schutzräume
eingerichtet. Viele von denen,
die in der Landwirtschaft tätig
sind, bestellen ihre Felder nur
im Schutze der Dunkelheit, bei
Mondlicht.
Der Beschuss findet sporadisch
statt, es gibt kein klares Zeitmuster,
was die Lage für die Bevölkerung
umso unberechenbarer
macht. Allahverdiyevs Nachbar
wurde 2009 tödlich getroffen. Die
Stelle liegt am Ende eines engen
Durchgangs, der vorne ins Freie
führt. „Wir hatten sogar Schwierigkeiten,
seinen Leichnam zu
bergen“, erzählt Kamil Allahverdiyev.
Der letzte Zivilist, der durch
armenischen Beschuss starb,
wurde in Tapqaraqoyunlu am
25. April 2011 registriert. Sein
Name steht nun neben all den
anderen Dorfbewohnern, die im
Krieg oder nachher fielen, an
einer Gedenkwand. Dorfvorsteher
Abbas Allahverdiyev erzählt, dass
die Beerdigungen – entgegen dem
muslimischen Ritus, dass der Tote
noch vor dem Sonnenuntergang
seine letzte Ruhe finden soll – nur
nachts stattfinden können. Größere
Menschenansammlungen
sind gefährlich und könnten als
Provokation ausgelegt werden.
Gelegentlich statten Beobachter
der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa
(OSZE) dem Dorf im Rahmen
der Überwachung der „Line of
Contact“ – wie die Waffenstillstandslinie
auch genannt wird –
Besuch ab. Auch die armenischen
Besatzer auf der Gegenseite werden
darüber informiert, woraufhin
während der Visite natürlich
kein Schuss fällt. „Nachdem die
Beobachter gegangen sind, ist
dann der Beschuss umso heftiger“,
berichtet Kamil Allahverdiyev.
Die OSZE hat die Hoffnungen
der Dörfler auf eine Verbesserung
ihrer Lage bisher enttäuscht.
„Zivilisten sollten doch nicht
getötet werden“, sagt der Lehrer
Muhardiz Ismailov (59), während
er selbstgemachten Wein
aus einem großen Plastikbehälter
serviert. „Wir haben es schließlich
auch nicht auf armenisches
Territorium abgesehen, sondern
wollen nur auf unserem Land in
Frieden leben.“
Tags darauf in Gapanli, einer
Siedlung beim Dorf Hüseyinli im
Bezirk Terter. Sie ist zum Schutz
vor Beschuss von einem etwa fünf
Kilometer langen und drei Meter
hohen Wall aus Humus umgeben,
der noch zu Kriegszeiten gebaut
wurde. Trotzdem schlugen Kugeln
in das Haus von Elchan Tariverdiyev
(49) ein. 2003 starb sein Vater
durch den Schuss eines Scharfschützen.
Nun ist Tariverdiyev
dabei, eine zusätzliche Mauer vor
seinem Haus zu errichten.
Der aserbaidschanische Beobachtungsposten
im Wall ist selten
besetzt. Nur gelegentlich sind Soldaten
zu sehen. Die Präsenz ist
bewusst unauffällig: Man will den
Armeniern keinen Vorwand zum
Waffengebrauch liefern und die
Dorfbewohner nicht noch zusätzlich
gefährden. „Wir hoffen, die
Welt hört von unseren Lebensumständen
und löst das Problem“,
sagt Tariverdiyevs Nachbar Ali
Aliyev (81).
Die Fahrt durch die aserbaidschanischen
Frontdörfer führt
weiter zur unterbrochenen Hauptverbindungsstraße
von Berde nach
Agdam im armenisch besetzten
Teil Aserbaidschans. Die einst
blühende Provinzkapitale mit 50 000 Einwohnern liegt seit 1993
in Schutt und Asche. Der Bahnhof
Kücerli in der Provinz Terter ist
die letzte noch betriebene Station
der aserbaidschanischen Eisenbahngesellschaft
vor der Demarkationslinie.
Das Leben an diesem
Außenposten ist fast zum Stillstand
gekommen. Zwei Kilometer
weiter befindet sich außerhalb
von Hüseyinli eine Polizeisperre,
die man noch passieren darf. Kurz
dahinter folgen ein Armeeposten
und ein Stoppschild. Jenseits des
Schlagbaums ist – völkerrechtlich
gesehen – ebenfalls Aserbaidschan.
Doch ein Erdwall versperrt
die Weiterfahrt in jene Gebiete,
die von den armenischen Separatisten
gehalten werden.
* Dieser Artikel erschien am 3. November in der "Moskauer Deutschen Zeitung" und wurde uns freundlicherweise vom Autor, einem Schweizer Journalisten, zur Wiederveröffentlichung zur Verfügung gestellt.
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