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Demokratie in Amerika

Eine frühzeitige Warnung. Tocquevilles Gutachten für die Weltversammlung zur Erneuerung der Demokratie

Von Werner Rügemer*

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Westdeutschland ein Buch verbreitet, das weltweit als Lob der US-Demokratie angesehen wurde. Sein Autor galt seit über einem Jahrhundert als Klassiker der Demokratie. Das Buch wurde in immer neuen Ausgaben herausgebracht und dem Unterricht an Schulen und Universitäten zugrunde gelegt. Offensichtlich genügte für das gute Image der US-Demokratie, daß die US-Army als großer Befreier auftrat und von den herrschenden Kreisen auch lieber als Befreier betrachtet wurde als die anderen Befreier Frankreich, Großbritannien und insbesondere die Sowjetunion. Diese Sicht hat sich auf wundersame Weise bis heute erhalten.

Tatsächlich ist das Buch eine ebenso hellsichtige wie gnadenlose Abrechnung mit der Demokratie nach US-amerikanischem Muster. Sein Verfasser ist der junge französische Adlige Alexis de Tocqueville. Im Auftrag der französischen Regierung bereiste er 1832 die Vereinigten Staaten. 1835 erschien sein Bericht »Über die Demokratie in Amerika«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und ein Welterfolg wurde. In den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution herrschte in vielen Ländern eine große Sehnsucht danach, sich von den verschiedensten Formen der Unterdrückung zu befreien und sich der Demokratie zuzuwenden. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika selbst wurde die Kritik am politischen System des eigenen Landes begierig aufgegriffen.

Chancengleichheit

Tocqueville beschrieb die Demokratie der Vereinigten Staaten als die fortgeschrittenste der damaligen Zeit. Zugleich ging es ihm um die Zukunft der Demokratie überhaupt und auf der ganzen Welt. »Ich wollte erfahren«, schrieb er, »was wir von der Demokratie zu erhoffen oder zu befürchten haben«. In Europa, so Tocqueville, war die Demokratie immer noch durch Monarchie und alten Reichtum gefesselt. Nicht so in Amerika. »Die Auswanderer, die sich Anfang des 17. Jahrhunderts in Amerika niederließen, entkleideten gewissermaßen das demokratische Prinzip von all dem, wogegen es in den alten europäischen Staaten gekämpft hatte, und verpflanzten es in reiner Gestalt an die Küsten der neuen Welt. Dort konnte es in Freiheit gedeihen.«

Und so sah Tocqueville erfreut, wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen verwirklicht wird. »Fast alle Amerikaner müssen einen Beruf ausüben«, beobachtete er, »die Menschen haben dort die Gleichheit des Vermögens und der Geistesbildung«. Einige Menschen werden zwar reich, aber »die meisten Reichen sind zunächst arm gewesen«. Er konstatiert also das, was wir seitdem, richtig verstanden, als Leistungsgesellschaft bezeichnen und als ein Prinzip der Demokratie verstehen.

Tocqueville bewunderte die »Volkssouveränität«: Alle Männer haben das Wahlrecht, unabhängig von ihrem Grundbesitz und ihrem Vermögen. Daß er das fehlende Wahlrecht der Frauen nicht erwähnte und auch auf die Ausrottung der Ureinwohner nicht einging, kann hier nur konstatiert werden, mindert aber keineswegs die Kritik, die auch für uns heute noch bedeutsam ist. So stellte er also fest: Die Männer wählen nicht nur wie in Europa die gesetzgebende Versammlung, sondern in offenen town meetings, Stadtversammlungen, wählen sie ihre Verwaltung. Jeder Beamte wird für eine bestimmte Aufgabe für ein Jahr gewählt, der Polizist, der Steuereintreiber, der Schulaufseher. Tocqueville lobte die Bundesstaatlichkeit ebenso wie die Gemeindefreiheit und das, was wir heute die kommunale Selbstverwaltung nennen. Er beobachtete mit Freude die Vereinigungsfreiheit und spontane Versammlungen, also das, war wir heute etwa als Bürgerinitiativen und andere assoziative Vereinigungsformen kennen.

»Despotie der Mehrheit«

Aber der Beobachter aus Frankreich, der für die Erneuerung der Demokratie nach der Julirevolution von 1830 im Auftrag des »Bürgerkönigs« Louis-Philippe nach Vorbildern suchte, verlor sich nicht in Lobpreisungen. Er konstatierte eine neue »Despotie der Mehrheit«. Die Mehrheit, die sich einmal bei den Wahlen durchgesetzt habe, lasse keine andere Gruppe oder Partei mehr hochkommen, und sei diese noch so groß. Daraus resultiere ein »legaler Despotismus des Gesetzgebers«. Die Gewalt der Fürsten in Europa richte sich gegen Körper und Leben der Kritiker; in Amerika sage die Mehrheit einfach: »Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie wir; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nichts mehr nützen. Wir lassen dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod.«

Diese »Despotie der Mehrheit« zeigte sich von Anfang an im Zweiparteiensystem. Keine dritte Partei konnte und kann sich auf Dauer etablieren. Und die zwei Parteien sind seit langer Zeit kaum noch zu unterscheiden. Man kann sie höchstens verschiedenen Kapitalgruppen und Milliardärsclans zuordnen. So wie etwa heute eine renommierte deutsche Zeitung wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung routiniert und cool feststellt, der republikanische Präsidentschaftskandidat stehe eben der Pharma- und Waffenindustrie nahe, der demokratische Kandidat der Immobilienbranche und Biotechnikindustrie. »This is the best democracy you can buy for money«, schreibt der US-amerikanische Publizist Gregory Palast heute: »Das ist die beste Demokratie, die man für Geld kaufen kann.«

Unter der Flagge der »Volkssouveränität« wird die Mehrheit der Bürger zur stillgestellten, entwürdigten Masse, beobachtete schon Tocqueville: »Über diesen Bürgern erhebt sich eine gewaltige Vormundschaft, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen. Sie freut sich, wenn es den Bürgern gut geht, vorausgesetzt, daß diese ausschließlich an ihr Wohlergehen denken. Sie sorgt für ihre Sicherheit, sieht und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen. Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens immer überflüssiger.« Angesichts der Tatsache, daß diese Feststellung bereits vor 150 Jahren getroffen wurde – hat sie nicht einen zusätzlichen gruseligen Klang? Auch wenn man sich klarmacht, was aus einem solchen Volk nach anderthalb derartigen Jahrhunderten geworden sein muß?

Auch die Unabhängigkeit der Richter wird durch die Zwei-Parteien-Herrschaft ausgehebelt, deutete Tocqueville an. Vom Bundesrichter bis hinunter zu den Bezirksrichtern werden alle nach dem Parteibuch der jeweils regierenden Partei berufen. Und die Pressefreiheit ging daran zuschanden, daß die großen Medien Anhängsel und Profitquellen großer Konzerne wurden. Das trifft heute alle großen Fernsehsender: NBC gehört zu General Electric, CBS zu Viacom, ABC zu Disney und CNN zu AOL Time Warner.

Tocqueville beobachtete, daß die Verfassung zwar theoretisch für alle Menschen gilt, praktisch aber nicht. Er sagte voraus, daß die amerikanische Demokratie nicht in der Lage sein wird, den Schwarzen die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen zu gewähren. Darüber verfaßte sein Freund und Begleiter während der neunmonatigen Reise in den USA, Gustave de Beaumont, einen eigenen Bericht. Vor allem aber mußte er konstatieren, daß eine neue Aristokratie entsteht. Sie kommt gerade aus dem Bereich, der durch die Demokratie erst möglich wurde, der Industrie.

Eine neue aristokratische Klasse

So breitet sich in den USA zwar, so Tocqueville, im politischen Prozeß die Gleichheit immer weiter aus. Aber aus der Wirtschaft heraus entsteht eine neue Ungleichheit. »Je mehr sich so die Masse der Nation der Demokratie zuwendet, desto aristokratischer wird die besondere Klasse, die die Industrie leitet. In der Demokratie werden die Menschen immer gleicher, in der Industrie immer ungleicher.« Er konnte nicht wissen, wie sich das bis heute genau entwickeln würde. Aber in keinem anderen Staat mit demokratischer Verfassung sind die Rechte der Arbeiter im Verhältnis zum geschaffenen Reichtum so gering, sind dagegen die Rechte und Einkommen der Topmanager und Unternehmensinhaber so groß und unbeschränkt wie in den USA. Heute mehr denn je.

So beobachtete Tocqueville die ersten Formen eines Massenphänomens, das sich in den USA als erstem demokratischem Staat des entwickelten Kapitalismus herausbildete: Working poor. Man hat Arbeit, ist aber trotzdem arm. Nicht zufällig begann diese rechtliche und finanzielle Erniedrigung der körperlichen und inzwischen auch der intellektuellen Arbeit im reichsten Staat der Welt. Diese Entwicklung betrifft inzwischen immer mehr Menschen, auch in Europa und weltweit.

Die innere soziale und ethnische Zerrissenheit geht mit einer beispiellosen inneren Aufrüstung einher. Der Verfassungszusatz, der das Recht zum privaten Waffenbesitz garantiert, diente ursprünglich dazu, dem Staat eine teure, stehende Armee zu ersparen. Inzwischen haben die USA die teuerste Armee der Welt, aber der Verfassungszusatz gilt weiter und wird pervertiert. Aus Angst vor den Mitbürgern und anderen Gespenstern tragen 44 Millionen Amerikaner Schußwaffen, gesetzlich legitimiert. Verbunden mit der weltweit höchsten Mord- und Häftlingsrate und der Todesstrafe manifestieren sich die USA im Innern als der Staat mit dem größten Gewaltpotential. Und einem solchen Staat sollten wir zutrauen, weltweit Sicherheit herzustellen?

Das »Prinzip Hinterhof«

Das antidemokratische Gewaltpotential richtete sich frühzeitig ohnehin auch nach außen. Wenige Jahre vor Tocquevilles Reise wurde Mittel- und Südamerika zum »Hinterhof« der Vereinigten Staaten erklärt: Hier hat die Demokratie nichts zu suchen. Die Einsetzung genehmer Diktatoren und autoritärer Regimes ist seitdem ein routinemäßiges Mittel der US-Außenpolitik. Das Recht zur präventiven Intervention in anderen Staaten gehört dazu. Es wird bis heute in der Tendenz zudem eher antidemokratisch wahrgenommen. Präventive Interventionen gegen Diktatoren wie Mussolini, Hitler, Franco, Salazar, Schah Reza Pahlevi, Marcos, Papa Doc Duvalier, Mobutu, Pinochet oder Abacha gab es nicht. Präventive Interventionen gegen Demokratien und demokratische Bewegungen gab es dagegen zahlreich.

Aus der gleichen Logik heraus wurden in der US-amerikanischen Demokratie weitere »Hinterhöfe« geschaffen. Was gegen die eigenen Gesetze verstößt, verlagert man zum Beispiel in ein Territorium außerhalb des eigenen Landes. Der rechtsfreie Raum in Guantánamo ist dafür ein bekanntes Beispiel. Auch im Inneren der USA entstanden zahlreiche »Hinterhöfe«, die der Volkssouveränität längst völlig unzugänglich sind. Das bezieht sich nicht nur auf den bekannten Geheimdienst CIA, sondern vor allem auf die wuchernde Zahl weiterer Geheimdienste: Jede Armeegattung und verschiedene Ministerien unterhalten eigene Geheimdienste. Und hinter den Hinterhöfen entstehen weitere Hinterhöfe, etwa wenn diese Geheimdienste private Söldner und Sicherheitsdienste für »besonders delikate« Aufgaben einsetzen.

Dasselbe Prinzip gilt auch im Bereich von Wirtschaft und Finanzen. Entsprechende »Hinterhöfe« werden seit Jahrzehnten in entfernten exotischen Inseln ausgebaut. So wickeln die großen US-Banken und Konzerne seit vielen Jahrzehnten einen wachsenden Teil ihrer Finanztransaktionen über Finanzoasen wie die Cayman Islands, die Bahamas und Bermudas ab. US-Banken und -Konzerne setzen sich Briefkästen mit phantasievollen Namen als Tarnkappen auf und beherrschen anonym einen großen Teil des Eigentums im eigenen Land und in fremden Ländern.

»Die Mehrheit lebt in andauernder Selbstbewunderung«, notierte Tocqueville. Er sah voraus, daß in der amerikanischen Demokratie gerade das nicht angelegt war, was ihm am Herzen lag: die Ausbreitung der Demokratie auf der ganzen Welt. In keinem Staat mit demokratischer Verfassung wurde und wird das nationalistische Freund-Feind-Denken so arrogant und fundamentalistisch auf die Spitze getrieben wie in den USA. Die Anerkennung gleichberechtigter souveräner Völker und ein entsprechendes internationales Regelwerk liegen nicht in dieser Logik. Aus diesem Unilateralismus heraus sind die USA der Staat, der sich am wenigsten an internationalen Abkommen beteiligt: Kyoto-Protokoll, Abkommen zum Verbot der Landminen, Atomteststop-Abkommen, Übereinkommen über biologische und toxische Waffen, UN-Konvention gegen Frauendiskriminierung undsoweiter – davon hielten und halten die US-Eliten nichts.

Bibel ins Marschgepäck

Dies wird bestärkt durch die Überzeugung von »Gods own country«. »In God we trust« steht auf dem weltweit verbreitetsten Zahlungsmittel, der Ein-Dollar-Note. »Wir vertrauen auf Gott.« In der Kuppel des Capitol zeigt das Fresko, wie Präsident George Washington, geleitet von zwei engelhaften Jungfrauen, in den Himmel auffährt. Jeder US-Soldat bekommt als einziges Buch die Bibel ins Marschgepäck. Priester aller christlichen Richtungen sind in Uniform und Offiziersrang und handlicher Feldgottesdienstausstattung mit dabei. Man könnte ja, wenn schon, daran denken, die US-Verfassung oder die Erklärung der Menschenrechte oder auch Tocquevilles »Über die Demokratie in Amerika« mitzugeben – doch nichts davon.

»Und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.« Diese Inschrift ziert die Lobby des CIA-Hauptquartiers, verbunden mit dem Hinweis, daß es sich um einen Satz aus dem Johannes-Evangelium handelt. Die fundamentalistische Regression im Namen des Christentums führt in vordemokratische Denk- und Handlungsweisen. Zugleich fördern die US-Regierungen jede andere fundamentalistische Religion, wenn es den eigenen und keineswegs religiösen Interessen dient: In Israel fördern sie den fundamentalistischen Zionismus, in Saudi-Arabien, in Afghanistan, in Pakistan, in Bosnien förderte man über den CIA fundamentalistische Islamisten, und bei Bedarf gründen die Schlapphüte mit dem Johannesevangelium auch mal eine verkappte marxistisch-leninistische Partei, wie es neulich in den Niederlanden bekannt wurde. So desavouiert das behauptete Christentum sich selbst.

Tocqueville hat die Gefährdungen in der entwickeltsten Demokratie des 19. Jahrhunderts frühzeitig und klar offengelegt. Dem Vorwurf des Pro- wie auch des Anti-Amerikanismus hat unser weitsichtiger Kronzeuge eine Haltung entgegengesetzt, die heute umso mehr angemessen ist. Er bezeichnete sich als Freund Amerikas, vor allem aber als Freund der Demokratie und stellte fest: »Das Buch bekennt sich zu niemandes Gefolgschaft; ich hatte, als ich es schrieb, weder im Sinn, einer Partei gefällig zu sein noch eine Partei anzugreifen; ich wollte nicht anders, nur weiter sehen als die Parteien; und während sie sich mit dem Morgen beschäftigen, galt meine Aufmerksamkeit der Zukunft.«

Die Demokratie in Amerika wie in der Welt hat im einzelnen gewiß eine sehr viel andere Gestalt angenommen als Tocqueville voraussehen oder befürchten konnte. Aber eines ist gewiß: Wer das gegenwärtige politische System in den USA für vorbildlich hält, gar geeignet für die Führung der Welt, verdrängt elementare Tatsachen. Man muß die Vereinigten Staaten auch nicht gleich ändern wollen. Aber mit der Selbsterniedrigung vor der Supermacht handeln andere Staaten sich ein, daß sie die Demokratie, die allgemeine Wohlfahrt und die Sicherheit bei sich selbst und auch weltweit gefährden.

Ein weiteres kann als gewiß gelten: Notwendig ist die Demokratisierung der Demokratie, verbunden mit einer weltweiten Demokratiebewegung. Sobald wir uns aus unseren erstarrten, mißmutig oder empört ertragenen Verhältnissen lösen, werden wir merken, daß wir weniger allein sind als wir befürchten. Und auch in den Vereinigten Staaten von Amerika werden wir Freunde finden, deren Stimme uns bisher nicht erreichen kann und soll.

* Aus: junge Welt, 20. Januar 2005


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