Die Macht der Utopien
Beim Weltsozialforum trafen sich Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen
Von Steffi Holz *
Zur weltweit größten Konferenz zum Thema Migration kamen vom 11. bis 13. September mehr als 2500 GlobalisierungskritikerInnen aus über 90 Ländern nach Madrid. Sie debattierten über eine der dringendsten Fragen unserer Zeit, diskutierten aktuelle Entwicklungen und neue Strategien.
»Wir mussten etwas unternehmen, damit unsere Kinder nicht weiter in Scharen sterben«, beschrieb Yaye Bayan Diouf aus Senegal den Ursprung des von ihr gegründeten »Verbands gegen die heimliche Migration«. Die 49-Jährige hat ihren einzigen Sohn verloren, der in Europa Arbeit finden wollte und in einem wackeligen Holzboot, zusammen mit anderen jungen Männern und Frauen, nie das Traumziel Kanarische Inseln erreicht hat.
Angesichts einer Arbeitslosenquote von fast 50 Prozent in Senegal erscheint die Migration der jungen Leute oft als einzige Chance für das Überleben der zurückbleibenden Familie. Das viele Geld, das die Reise kostet, bringen die Mütter meist durch den Verkauf ihres Schmucks auf. Doch die Wenigsten ihrer Kinder überstehen den gefährlichen Weg.
Diese fatale Entwicklung wollte Yaye Bayan Diouf nicht länger hinnehmen. Sie begann, mit den Müttern und Jugendlichen zu reden, um sie über die Risiken der Abwanderung aufzuklären. Gleichzeitig dachte sie darüber nach, welche ökonomischen Alternativen die Hinterbliebenen haben. »In Afrika kann man in Würde arbeiten,« sagt die heutige Präsidentin eines Frauenkollektivs mit über 100 lokalen Gruppen, die sich den Lebensunterhalt als Verkäuferinnen bestreiten und Mikrokredite vergeben.
Die Senegalesin war eine von vier Referentinnen eines Workshops, in dem es um Selbsthilfe und Netzwerke afrikanischer Frauen als Alternative zu Migration geht. Die gut besuchte Veranstaltung fand im Rahmen des »Weltsozialforums Migration« statt, zu dem sich Ende letzter Woche Delegierte von sozialen Organisationen und Netzwerken sowie ExpertInnen aus Lateinamerika, Afrika, Asien und Europa am Rande der spanischen Hauptstadt zusammenfanden.
Das Forum in Rivas Vaciamadrid war eines von verschiedenen kontinentalen und überregionalen Sozialforen, die als Gegenposition zur neoliberalen Globalisierung seit 2001 stattfinden. Seit dem Auftakt im brasilianischen Porto Alegre werden sie rund um den Globus organisiert. Migration stand bereits 2005 und 2006 im Mittelpunkt eines Weltsozialforums. Unzählige Vorträge, Workshops, Lesungen und runde Tische beschäftigten sich dieses Jahr mit Fragen der weltweiten Wanderung und Vertreibung, Grenzmanagement und Asylpolitik, mit der Situation in den Ankunftsgesellschaften, der Gestaltung des Zusammenlebens und mit den positiven Auswirkungen von Migration ebenso wie mit Alternativen.
Ausgebeutet hier wie dort
»Die Zahl der Menschen, die fern ihrer Heimat leben, wird in diesem Jahrhundert auf über 200 Millionen ansteigen«, so Francois Houtart, katholischer Pfarrer, Marxist und Soziologieprofessor aus Belgien. Der Mitbegründer verschiedener Netzwerke und Autor zahlreicher Bücher war einer von vielen Referenten, die auf neue Formen von Migration im Zeitalter der Globalisierung hinwies. So löse der Klimawandel neue Fluchtbewegungen aus, für die es noch keinerlei staatliche oder überstaatliche Abkommen zur Abfederung gibt. Als Lösung der Klimakrise gelten derzeit Agrokraftstoffe, die aus nachwachsenden Rohstoffen gewonnen werden und damit scheinbar auch die knapper werdenden Ressourcen schonen. Der massive Anbau von Energiepflanzen in den sogenannten Entwicklungsländern bringt aber extreme Probleme für die lokalen Bevölkerungen mit sich, berichteten Aktivisten. Wälder werden abgeholzt, KleinbäuerInnen vertrieben und auf Flächen, die für die Lebensmittelproduktion gebraucht würden, gedeihen Monokulturen.
Freihandelsabkommen mit den USA, der EU und Asien, welche ihnen die rücksichtslose Ausbeutung von Bodenschätzen ermöglichen, »sind eine weitere ökologische und soziale Katastrophe«, sagte Dolores Jarquin. Die Nicaraguanerin arbeitet in der Basisorganisation »Eine andere Welt ist möglich« und beobachtet seit den 90er Jahren die Konsequenzen der Öffnung der Märkte in Mittelamerika. Die Privatisierung von Wasser, Strom und anderen Dienstleistungen führte dazu, dass die wichtigsten Grundbedürfnisse unbezahlbar wurden.
Während die Freihandelszonen den ungehinderten Geldfluss ermöglichen, gelte dies nicht für die MigrantInnen, kritisierte Táli Pires, eine junge Gewerkschafterin aus Brasilien: »Die Dimension Migration kommt in den Freihandelsabkommen nicht vor.« Diese Widersprüchlichkeit sei »Ausdruck der kapitalistischen Verwertungspolitik«, sagte Claudine Blasco von Attac Frankreich. Migration sei die Konsequenz der wachsenden Ungleichheit zwischen dem Norden und Süden der Welt.
Allein in Asien sind »58 Millionen ArbeitsmigrantInnen in schmutzigen, gefährlichen und unterbezahlten Jobs beschäftigt«, so Peter O´Neill vom »Migrant Forum in Asia«. Er spricht von einer fatalen Entwicklung, in der zum Beispiel Vietnamesen tausende Dollar Schulden bei Vermittlungsagenten aufnehmen, die sie unter sklavenähnlichen Bedingungen in Indonesien abarbeiten müssten. 3000 Frauen und Männer verlassen täglich die Philippinen, um in den Nachbarländern zu arbeiten. In Taiwan gebe es bereits 372 000 ArbeitsmigrantInnen, davon sind 60 Prozent Frauen.
Zu den miserablen Arbeitsbedingungen in den Ankunftsländern gehört aber auch »die Erfahrung der Ausgrenzung«, wie sie Nonoi Hacbang von der »Plattform philippinischer Arbeiter in Europa« täglich erlebt. Sondergesetze machten sie zu Menschen zweiter Klasse. Die Migrationspolitik in Europa, den USA und Asien ist nicht nur sehr repressiv, sondern verstärkt Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gegenüber Einwanderern. Insbesondere die Medien wurden während des Sozialforums immer wieder für ihre stereotype Berichterstattung über MigrantInnen kritisiert. Den Aktivisten ging es in Spanien dagegen darum, die enormen persönlichen und sozialen Kosten der MigrantInnen herauszustellen, die Entbehrungen und Lebensgefahren auf sich nehmen, um Arbeit zu finden, die ihr Überleben und das ihrer Familien sichert.
Gehen und bleiben können
Und doch gingen auch positive Signale vom Weltsozialforum Migration aus. Es wurde deutlich, dass sich rund um den Globus die Unterdrückten organisieren, streiken und sich als selbstbewusste soziale Bewegungen vernetzen. So wächst der Widerstand gegen Freihandelszonen. Regionale Kampagnen für das Recht auf Wasser, Nahrung und Bildung werden ins Leben gerufen. Das Recht auf Migration und auf angemessene Bezahlung ihrer Arbeit ist für die Aktivisten genauso wichtig, wie das Recht, in ihren Ländern bleiben und dort in Würde leben zu können. Die Forderungen nach einer universalen Staatsbürgerschaft für alle und offene Grenzen, die auf der Abschlusskundgebung in Madrid am Sonntag laut gestellt wurden, mögen in der gegenwärtigen Situation utopisch sein. Aber sie sind wichtig. »Denn«, so Demetrio Vlentini vom internationalen Beirat der Weltsozialforen, »wir müssen unsere Utopien zurückerobern.«
* Aus: Neues Deutschland, 19. September 2008
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