Das nukleare Zögern der Bundesregierung
Was wäre an einem Abzug der USA-Kernwaffen von deutschem Boden "einseitig"?
Von Hans Voß *
In einer Aktuellen Stunde wurde gestern im Bundestag erneut der Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland gefordert.
Die Nachricht, dass die Atomwaffenlager der USA in Europa minimalen Sicherheitsstandards des Pentagon nicht entsprechen, hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Vielfach wird gefordert, dass die Waffen endlich in die USA zurückgeführt, am besten aber vernichtet werden. Selbst der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle verlangt, die Relikte des Kalten Krieges zu beseitigen.
Anders die Reaktion der Bundesregierung und der CDU. Im Gegensatz zu ihren verbalen Abrüstungsbekundungen lehnen sie es ab, für einen Abzug der Kernwaffen von deutschem Boden einzutreten. Einseitige Schritte -- so heißt es -- verböten sich.
Da ist zu fragen, was unter »Einseitigkeit« zu verstehen ist? Als es noch die Sowjetunion gab und man annahm, dass sie auf dem Boden der DDR Kernwaffen stationiert habe, lehnten beide Seiten einseitige Vorleistungen auf dem Gebiet der Abrüstung ab. Sie hätten der anderen Seite Vorteile bringen können. Nachdem jedoch die Sowjetunion im Ergebnis der 2+4-Verhandlungen ihre gesamten Streitkräfte, einschließlich der vermuteten Kernwaffen, aus der DDR abgezogen hatte, änderte sich das Bild. Auf östlicher Seite gibt es niemanden mehr, der vom Rückzug der USA-Atomwaffen profitieren könnte.
Man mag es in diesem Zusammenhang bedauern, dass sich die sowjetische Führung unter Michael Gorbatschow nicht nur zu einer einseitigen Truppenreduzierung, sondern auch zu einem Verbleib der USA-Streitkräfte auf dem Territorium der alten Bundesrepublik bereit erklärt hat. Nicht einmal den Abzug der Massenvernichtungswaffen forderte sie. Eine einmalige Chance zur Truppenbegrenzung im Herzen Europas wurde damit vertan. Die NATO-Mächte, die über die sowjetische Zurückhaltung mehr als erstaunt waren, konnten sich diese nur mit der Furcht vor einem wiedererstarkenden Deutschland erklären, dem die weiter präsente US-amerikanische Militärmacht Zügel anlegen sollte.
Wie dem auch sei: Die Bedingungen, die 1990 Einfluss auf die Entscheidungen über Truppenreduzierung und Waffenverbleib hatten, haben sich grundlegend verändert. Als Gegenpol zu einer befürchteten sowjetischen Bedrohung haben USA-Atomwaffen in Deutschland heute keinen Sinn mehr. Sie könnten daher ohne nennenswerte Folgen für die Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten verschwinden.
Worauf also zielt die These, man müsse »einseitige« Schritte vermeiden, tatsächlich ab? Geht es um ein gemeinsames Vorgehen mit anderen westeuropäischen Staaten, in denen es gleichfalls USA-Stützpunkte gibt? Ein solcher Schulterschluss wäre, wenn man ihn denn wollte, schnell möglich, denn wo sind US-amerikanische Kernwaffen auf Dauer schon willkommen, zumal sie schlecht gewartet sind. Nein, das Ganze kann sich nur auf die USA selbst beziehen. Ihnen wird gegenwärtig die Verantwortung dafür angelastet, dass der Prozess der nuklearen Abrüstung blockiert ist. Bundeskanzlerin Merkel will offenbar den Eindruck vermeiden, die Bundesregierung stelle sich an die Seite der Kritiker einer solchen Politik. Sie vermeidet die leiseste Andeutung, ihre Regierung wolle durch die Forderung nach Abzug der USA-Kernwaffen aus der Bundesrepublik Washington zu begrenzten Aktionen der Rüstungsbegrenzung veranlassen.
Hängt das deutsche Taktieren aber nicht auch mit der ambivalenten Haltung der Berliner Regierung zum eigenen Zugriff auf Atomwaffen zusammen? »Atomare Teilhabe« - ein Begriff aus den NATO-Planungen - nennt man die der Bundesregierung zugesprochene Möglichkeit, im Kriegsfall die USA-Kernwaffen mit eigenen Mitteln ins Ziel zu führen. Diese Möglichkeit ergibt sich lediglich für Waffen, die auf deutschem Territorium gelagert sind. Gibt es also neben der Rücksichtnahme auf Washingtons Rüstungspläne nicht auch ein Berliner Interesse am Verbleib von USA-Kernwaffen auf deutschem Gebiet?
* Aus: Neues Deutschland, 26. Juni 2008
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